Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 195c

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Archimedes (Teil 34)


Sie hatte alles schon durchlebt, was Hellas war und Hellas bieten konnte. Von dionysischen Mysterien Vorderasiens, in denen das Grauen eines für die Hellenen unverständlichen Weltteiles in die lichten Formregionen des Hellenentums einbrach und das Chaos überschäumend über alle Bemühung lichterer Menschen zu ergießen drohte. Vor den Gefahren der eigenen Vaterstadt Milet, vor jenen Rändern Asiens, die schwächeren Menschen als sündhafter Reiz erschienen, war sie in die Hallen der Philosophen nach Athen geflohen. Hier aber war sie neuerlich zutiefst erschrocken. Konnte die bloße reine kristallklare Formbenützung auf die Dauer die tosenden Inhalte des Menschengemütes glätten und bändigen? Brach nicht wieder in der Tragödie trotz reinster Form das Chaos durch, wenn hinter allem das Schicksal blind und unabänderlich drohte? War Leben und Leiden die Wirklichkeit oder war das Schaffen und die philosophische Erkenntnis die Erlösung? War überhaupt das Lebendige so eng, so klein, so unvermengt, dass man ein Entweder-Oder aufstellen durfte? Sie war in Athen zu Füßen der Platoniker und der Peripatetiker stets in tiefere Wirrnis geraten. In einen Zwiespalt, der sie schließlich an den Sitz letzter Wirklichkeit, nach Alexandrien, gezogen hatte, wo ihr ein ungewolltes Schicksal sofort alle Macht und alle Möglichkeiten vor die Füße legte. Hier aber war zu alldem eine weitere Vielfalt über sie hereingebrochen, die sie gar nicht in Rechnung gestellt hatte: der Anblick des von innen heraus verfaulenden vieltausendjährigen Riesenreiches der Ägypter. Diese Schau aber hatte ihr schließlich Klarheit geschenkt, eine einfachere, härtere Klarheit, als sie sie erwartet hatte. Sie hatte einsehen müssen, dass aller Geist, alles Werk, alles Recht nur dann Weiterlebte, wenn sich der Träger dieser Blüten, der Stamm, auf dem die Blüten saßen, behauptete und mit seinen Wurzeln tief ins Erdreich wuchs. Die endgültige Wirklichkeit war das Volk. War das Ägyptertum, war der Kreis aller Hellenen. Jedes Volk aber wieder hatte seine nur ihm eigentümliche Art, sich zu äußern, zu wollen, zu lieben, zu hassen, zu genießen. Und jedes Volk hatte auch seine eigentümlichen Irrtümer und Versuchungen, seine eigenen Möglichkeiten zu entarten. Und ebenso wie sich die Ägypter in ihrem unablässigen Gedanken an Tod und Zauberei endlich so weit erschöpft hatten, dass sie jetzt Weihwasser durch Maschinen lieferten und das Totengericht als spielerisches Orakel benützten, so sei es die ärgste Versuchung des Hellenentums, der reinen Form alles zum Opfer zu bringen, bis die Wirklichkeit verschwunden sei. Das Wirkliche werde bespöttelt, verdächtigt, ja geradezu verfemt. Und der Stein gewordene Ausdruck dieser entfesselten Unwirklichkeit sei der höchste Stolz der Hellenen, das Museion. Jeder Schritt in Hellas werde halb getan, Wo es heute und in der Zukunft um Ganzes gehe. Man bleibe bei der Erkenntnis stecken, ohne das Erkannte durchzuführen. Auf Erkanntes werde zu Erkennendes, auf dieses Wieder neue Forschung getürmt, und man wisse am Ende so genau um die Krankheit Bescheid, dass man den Kranken sterben lasse, Weil man vor Schrecken über das Erkannte den Kampf aufgebe. Er aber, Archimedes, sei ein anderer Mensch, ein anderer Geist, eine andere Welt. Durchaus nicht unhellenisch. Er sei nur jünger, ursprünglicher, kämpferischer als all die Gespenster des Museions. Und werde deshalb Neues finden, weil er die ausgetretenen Pfade des an sich beschränkten Geistesreiches verlasse und zur unermesslichen reichen Wirklichkeit zurückfliehe, um ihr alle Geheimnisse zu entreißen.
Mag sein, hatte Aletheia geschlossen, dass ihre Ansichten nicht viel mehr seien als die Wirren Träume eines geängstigten Mädchens. Die Gedanken drängten sich ihr aber mit derart unentrinnbarer Wucht auf, dass sie sich ihnen nicht entziehen könne. Und stets erhalte sie bei jedem Schritt neue Bestätigungen für ihre Ängste. Sie beuge sich aber nicht. Denn solange noch Hellenen lebten, solange Hellas neue Kraft und neuen Geist gebäre - und dass Hellas noch fruchbar sei, unterliege keinem Zweifel -, so lange könne und dürfe man nicht tatenlos den Kampf aufgeben und zusehen, wie seit neuer Zeit in diesem chaotischen Zauberkessel Alexandria Nicht-Hellenen sich des hellenischen Werks zu bemächtigen begännen und es zur Spitze der Übertreibung drängten.
Archimedes war tief erschüttert gewesen über die Ausbrüche körperlicher und geistiger Leidenschaft, die auf ihn eingestürmt waren. Und wieder und wieder kroch in ihm der Zweifel empor, ob er nicht doch am Ende träume, ob nicht das furchbare Dämonium, das ihn von innen heraus trieb und aufwühlte, sich nur in einem Wachtraum Gestalt geschaffen habe - und ob nicht die Wirklichkeit eine von den Göttinnen sei, die unerkannt zwischen den irrenden und hastenden Menschen wandle.
Zugleich aber mit solchen Zweifeln, die er gar nicht voll ausschöpfen konnte, meldete sich in ihm verwirrend und fragend sein eigenes Dämonium. Leise und behutsam glitt er vom Lager, kleidete sich an und verließ den Raum, um sich in anderen Räumen zu verirren. Er wollte ja auch kein Ziel, kein Ende, keine irdische Klarheit. Irgendwo ließ er sich auf eine Kline nieder, merkte es kaum, dass eine geräuschlose Dienerin ihn beobachtete und dann hinaushuschte, um kurze Zeit nachher Schüsseln mit Obst, Backwerk und Krüge voll Milch, Honig und Wein vor ihn hinzustellen. Er war nicht erstaunt, aß und trank und ließ die Fragen in seinem Inneren aufsteigen und an die Zonen hämmern, in denen die Antworten vielleicht schon bereitlagen.
Warum, so fragte es, war dein Gewichtsgott kleiner, obwohl du schwerer bist als Aletheia? Offensichtlich deshalb, weil die Teile des Waagebalkens zueinander in andrern Verhältnis standen als bei Aletheia. Es ist richtig, dass dies die Ursache sein muss. Es war ja auch deutlich zu bemerken. Bei mir war der Gewichtsarm verhältnismäßig noch weit länger als bei Aletheia. Wären wir beide mit der gleichen Waagestellung geprüft worden, dann hätte sich auch in den Gewichten das natürliche Verhältnis eingestellt. Es wurde durch die Verschiebung umgekehrt. Es ist auch klar und das weiß jeder, dass bei gleich langen Waagebalken Gewicht und gewogener Körper gleich schwer sind. Bei längerem Gewichtsarm wird jedoch das Gewicht kleiner. Sollten da auch klare einfache Proportionen herrschen? Oder werde ich wieder einmal bei Dingen, die einfach aussehen, an das Urreich des Irrationalen, des alogischen anprallen?