Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 172c

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Archimedes (Teil 11)


„Verzeiht mir alle, dass ich euch Dinge erzähle, die ihr bald besser, reicher, zusammenhängender werdet lesen können. Mein Dialog, ,Apokarteron‘, meine Darstellung des Menschen, der es einfach nicht mehr aushält, ist in Vollendung begriffen. Ich drücke mich nicht - wie selbst der göttliche Platon - um die Entscheidung. Sie ist klar und wird von meinem Helden entgegen allen Lockungen des besorgten Freundes vollzogen. Wenn nämlich die oberste aller Möglichkeiten die Schmerzlosigkeit ist, und wenn diese rein negative Lust, diese stillste aller Windstillen, das Äußerste ist, was man erreichen kann, dann gibt es nur einen Weg, sie mit Sicherheit zu erzwingen. Indem man sich so lange der Speise enthält, bis man sie erreicht hat.“ Mit einem Ruck erhob sich Hegesias und lachte ein einziges Mal hohl und unheimlich auf. Dann schloss er: „Alle Ärzte Alexandrias, jeder ein Sisyphos der Wissenschaft, unter deren Händen stets wieder der tückische Marmor der Gesundheit, den sie hinaufwälzen, jämmerlich herunterpoltert, werden zugeben müssen, dass man sich in dieser Weise keine Krankheit des Magens zuziehen kann. Komm jetzt, Laertes! Wir wollen schlafen gehen. Der Schlaf, der Bruder des Todes, wird unsere herrliche Lust, unser olympisches Leben im Licht ein wenig unterbrechen. So lange, bis ein bleischwerer Morgen mit unangenehmen grellen Farben uns wieder zum Einerlei, zur Tretmühle des Tages, ruft. Oder, noch wahrscheinlicher, uns aus Träumen emporscheucht, die wir verlassen müssen, weil sie uns lieb sind, oder die wir verlassen wollen, weil sie uns Angstschweiß auf die Glieder getrieben haben. Freuet euch alle, wie wir Hellenen in richtigster Erkenntnis des obersten Weltprinzips als Gruß sagen.“ Und er lachte noch einmal hämisch auf und entfernte sich. Laertes aber wankte angewidert hinter ihm her.
Kaum war Hegesias außer Hörweite, als der Knabe Apollonios murmelte:
„Ich will hinauf zu den Sternen, Konon. Die Sterne sprechen eine andere Sprache als die Menschen. Du hast es mir versprochen, dass wir hinaufgehen.“
„Gewiss habe ich es dir versprochen“, erwiderte Konon und sah den Knaben forschend an, dessen Lippen zuckten, als verhalte er nur mühsam die Tränen.
„Man nennt ihn nicht ohne Grund Hegesias Peisithanatos“, sagte jetzt Eratosthenes zu Archimedes. „Hegesias, der ,In-den-Tod-Schmeichler‘. Er hat irgendwo recht, das ist das Grausige an seinen Reden. Noch grausiger ist es, dass er die Stimmung einer ganzen Zeit verkörpert. Man könnte ihn leicht widerlegen. Du wirst es auch tun, Archimedes, wie wir es alle tun. Aber die Stimmung ist damit nicht widerlegt, deren Verkünder er ist. Vielleicht ist er zu aufrichtig. Vielleicht hat Philosophie an manchem Punkt die Pflicht zur Lüge. Oder zur Umdeutung, um es sanfter zu sagen. Der kleine Apollonios hat recht. Gehen wir zu den Sternen.“
„Archimedes kommt mit?“ Apollonios keuchte es erschrocken hervor.
„Ich hoffe, dass der Weltraum für dich und Archimedes Platz hat“, antwortete Eratosthenes kalt und verweisend. „Es steht dir übrigens auch als Schüler frei, ihm im Angesicht der Sterne zu sagen, was dir an seinen Gedanken missfällt. Von Sokrates war hier niemals die Rede, nur von der Wahrheit."
Trotz dieser unmissverständlichen Rüge nahm Eratosthenes auf die Eifersucht und den glühenden Eifer des Knaben Rücksicht. Er ließ ihn mit Konon vorangehen und machte keinerlei Miene, die Tafel aufzuheben. Archimedes war damit durchaus zufrieden. Er wollte vorläufig keine neuen Eindrücke. Denn die Rede des Hegesias lag ihm noch in allen Gliedern, wenn man so sagen darf. Das bemerkte aber sogleich wieder das geübte Auge des großen Arztes Herophilos, der Archimedes halb spöttisch, halb mitleidig anlächelte und dabei sein breites glänzendes Gebiss zeigte.
„Alle werden den Tod wählen“, warf er kaustisch hin. „Alle, wenn ihnen der lockende Sirenenklang des Peisithanatos noch lange um die Ohren säuselt. Kinder schläfert man dadurch ein, dass man ihnen die Geborgenheit des Schlafes vorredet und in eindringlichen Worten schildert. Erwachsene aber zieht man unmerklich in die Gefilde des Todes, wenn man ihnen die Schönheit der Asphodelen, die Schmerzlosigkeit des Nichterwachens und die Unrast des Lebens vorgaukelt. Einer wird nicht den Freitod wählen. Dieser einzige wird Hegesias selbst sein. Ich habe den beklemmenden Verdacht, dass er nur ein Versucher in des Wortes doppelter Bedeutung ist. Er versucht die Menschen, um zu versuchen, wie sie sich verhalten. Ob man ihm das Handwerk legen soll, ist eine Frage, die letzte Dinge der Wissenschaft angeht. Vielleicht werden Spätere auch aus erfolgreichen Versuchen dieses Anti-Hedonikers Nutzen ziehen. Vielleicht. Er aber, Hegesias selbst, leidet nicht im geringsten. Er spricht sich seine üble Laune so lange vor, bis sie fort ist. Dann sucht er neue Schüler, um sie als Abfallgefäß der Griesgrämigkeit zu benützen. Das ist meine Diagnose. Ich will aber jetzt trotz aller Warnungen des unkonsequenten Kyrenaikers dem Gründer seiner Schule, dem unvergleichlichen Aristippos, folgen und gegenwärtige, körperliche und bejahende Lust genießen, indem ich ungemischten Wein trinke. Evoe, Archimedes! Dann aber werde ich auf die Kanopische Straße hinauswandern und mir die ebenso gefährlichen Buhlerinnen betrachten. Nach dem Grundsatz desselben Aristippos, der die größte und schönste Hetäre aller Zeiten, die herrliche Lais hier in unsrer Stadt, liebte und dabei enttäuschungslos glücklich war, weil er besaß, ohne besessen zu werden. Morgen aber werde ich dann meine Kranken vornehmen und werde versuchen, den Sisyphosblock oben am Anfang anzuketten, damit die Geheilten sich in absehbarer Zeit ebenso schlecht und selbstgefährdend betragen können, wie ihr Arzt sich heute beträgt. Noch einmal Evoe, Archimedes!“ Und er trank schnell einige Becher blutroten Weines, lächelte überlegen und stand ohne Hast und ohne weiteren Abschiedsgruß auf und ging langsam gegen die Tür, die in den Vorgarten führte.
„Er ist der unheimlichste und sicherste aller Anatomen und Chirurgen“, sagte Eratosthenes zu Archimedes. „Noch nie hat seine Hand gezittert, noch nie sein Messer an falscher Stelle geschnitten. Selbst die ägyptischen Augenärzte sind außer sich vor Erstaunen, wenn sie einen seiner ans Wunderhafte streifenden Eingriffe sehen. Ob er dem Ausspruche des Hippokrates, nur ein guter Mensch könne ein guter Arzt sein, genügt, will ich nicht entscheiden. Er selbst hat einmal hier beim Symposion behauptet, nur ein schlechter Mensch sei ein guter Arzt. Aber lassen wir das. Du wirst alles aus eigenem Augenschein erfahren. Gehen wir jetzt hinauf.“
Sie schritten nach kurzer Zeit über die weiten flachen Dächer des Gebäudes. Blauschwarze Nacht lag über ihnen. Nur die Sterne schienen wie grelle Ampeln tiefer zu hängen als der Hintergrund der Himmelshohlkugel. Bald sahen sie vor sich die blanken ehernen Kreise und gitterartig durchbrochenen Beobachtungsgeräte funkeln, vor denen Konon und der Knabe Apollonios standen und sich mit gedämpfter Stimme miteinander unterhielten.