Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 171c

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Archimedes (Teil 10)


Sosibios biss sich auf die Lippen. Er wusste genau, dass diese „feine und anregende Art“ des dämonisch klugen Königs eine deutliche Rüge bedeutete, die sich gegen die allzu weit getriebene Spitzfindigkeit richtete. Er ärgerte sich maßlos, um so mehr, als er einsah, dass Philadelphos ihn mit den eigenen Waffen geschlagen hatte. Denn er hatte ihn ja weiter nicht geschädigt. Aber, bei sämtlichen Hunden und anderen Haustieren, er würde es dem König, dem Herrn Beta und allen anderen schon einmal heimzahlen! Es war ja Zeit, Zeit und noch einmal Zeit. Und wo anders ging es den Grammatikern noch schlechter. Natürlich, der Fürst der Ärzte, dieser Herophilos von Chalkedon, der noch immer grinste und das breite Raubtiergebiss zeigte, der konnte leicht lachen. Den rief der König mit Schmeicheln und Lockungen, wenn er Leibschmerzen hatte, und sah ihm jeden Wunsch von den Augen ab, wenn eine seiner königlichen Buhlerinnen jammerte.
Archimedes war ein wenig verwirrt. Die Vielfalt der schnellen Gedanken, die durch den Raum schwangen, befeuerte und lähmte ihn gleichzeitig. Er war als Verwandter und Freund des Königs von Syrakus zwar gewohnt, auch bei prunkvollen Festen in die Bereiche tiefster Weisheit gezogen zu werden. Am Hofe von Syrakus war solches gebräuchlich, seit der göttliche Platon dem Tyrannen Dionysios zur Seite gestanden war. Aber die Art dieser Gespräche, ihr Zweck, ihre Umgebung waren dort weltenweit anders als hier.
Eratosthenes sah alles. Sah auch die verbissene Wut des Sosibios. Er konnte ihm nicht helfen. Besser, er hatte ihm sehr wesentlich geholfen. Denn König Philadelphos hatte durch seinen Scherz mit dem Unfug der grammatischen Rätselwut und wolkenkuckucksheimartigen Spitzfindigkeit selbst um den Preis Schluss machen wollen, dass Sosibios Alexandria verließ. Der Entzug des Gehaltes war ernst gemeint gewesen. Und nur die Fürbitte des großen Beta hatte es vermocht, noch einmal Gnade walten zu lassen. Eratosthenes aber hatte wieder den König vor dem Vorwurf despotischer Laune, die so ein giftiger Grammatiker leicht in die Welt oder die Nachwelt hinausschrie, decken wollen und eben deshalb das Privatleben, das Abendessen, zur Stätte der Erledigung gewählt.
Sosibios schien den Sachverhalt langsam zu begreifen. Denn er zwang sich sehr unvermittelt wieder gute Laune ab und erging sich in allerlei Wortpielereien, um die Gesellschaft auf andere Gedanken zu bringen.
Inzwischen hatten die Diener neue Speisen, milesische Honigkuchen und anderes Backwerk gebracht, und auch ein dicker, dunkelroter Wein wurde sorgfältig mit der richtigen Menge Wassers gemischt.
Um diese Zeit erschienen noch zwei Tischgenossen. Offensichtlich ein Lehrer mit seinem Schüler. Es waren, wie man Archimedes zuflüsterte, der düstere Philosoph Hegesias mit seinem Schüler Laertes. Der Philosoph war vornehm, fast verschwenderisch angezogen. Sein dunkelbraunes Haar war sorgfältig gekräuselt und gesalbt, und er trug einen Kranz von violetten Rosen auf dem Haupt. Sein Gesicht aber war fahl, und schwere, fingerbreite Schatten lagen unter müden, lauernden Augen. Seine Mundwinkel zogen sich abwärts, während die Nasenflügel und die Wangen bei jedem Herzschlag leicht vibrierten. Gleichwohl lag über der ganzen Erscheinung eine zwingende Starre. Der Schüler Laertes überragte ihn um Kopfeslänge. Schmal, vorgeneigt und sehr hellblond mit wasserblauen Augen blickte er ins Unbestimmte, während eine ungreifbare Haltlosigkeit den Eindruck erweckte, der ]üngling habe bereits ein Wissen um alle Dinge, so dass ihm jedes Wort nur Spott oder mitleidiges Lächeln abnötigen könne.
Konon war sichtlich unangenehm berührt, als sich Hegesias und Laertes in seiner Nähe niederließen. Er versuchte auch, den Knaben Apollonios so sehr abzulenken, dass er mit den beiden nicht in Fühlung käme. Es war übrigens wenig Gefahr für solch eine Verbindung. Denn der Philosoph unterhielt sich mit dem großen Arzt und kümmerte sich vorläufig sehr wenig um alle anderen.
Das währte indessen nicht allzulange. Ganz unvermittelt packte er den Zipfel eines belanglosen Gespräches und riss die Unterhaltung des Tisches an sich. Nicht laut oder aufdringlich. Nein, im Gegenteil. Er flüsterte fast, legte aber solche Kraft und Eindringlichkeit in jedes Wort, dass alle unwillkürlich zu lauschen begannen. Dabei fühlte sich jeder von diesen Augen gepackt, die inmitten eines bewegten Mienenspieles starr, traurig und in sich versunken blieben und zum Schluss wie winzige weiße Punkte innerhalb einer dunklen Scheibe erschienen.
Dabei stellte es sich heraus, dass er seine Worte an Archimedes richtete, obgleich er ein Einzelgespräch geflissentlich vermied. Er wanderte vielmehr mit seinen chaotisch durcheinandergestreuten Worten, fasste sie aber stets erst zur Ganzheit zusammen, wenn seine Wanderung bei Archimedes haltmachte.
Er hatte bereits in unauffälliger, dennoch aber wunderbar gegliederter Art über Philosophen und Philosophie geplaudert. Hatte den Stammbaum der Schule von Kyrene dargelegt und mit beinahe hämischen Glossen begleitet, obgleich er sich wieder stolz als Kyrenaiker bekannte. Plötzlich wurde er gegenständlich und schien vom Thema Weit abzuschweifen. Er sagte so nebenhin:
„Lassen wir das alles. Ich menge mich jetzt in die Aufgabe der Grammatiker späterer Jahrhunderte. Eigentlich Wollte ich von anderem erzählen. Mein Schüler Laertes und ich sind seit mehreren Stunden unterwegs. Wir waren überall in Alexandria, waren beim Pharos, schlenderten über das Heptastadion, durchwanderten die Kanopische Straße. Ganz Alexandria ist heute wieder einmal ein einziges Fest. Wie der Arzt sich für Kranke interessiert, so interessiert sich der hedonistische Philosoph für solche Zusammenballungen von Lust und Freude. Bevor ich aber fragen kann, was das Weltprinzip der Lust ist, das der Gründer meiner Schule, der große Aristippos, bekanntlich als den Mittelpunkt seiner Philosophie hinstellte, muss ich wohl fragen, was Philosophie bedeutet. Laertes und ich fragten einander wechselweise. Aber nicht in leeren Zonen des Gedachten, sondern unmittelbar im Angesicht des Lebendigen. Was, so fragte ich, hat dieser Tempel dort, diese Farbe, dieser Sonnenuntergang, dieser Duft mit der Philosophie zu schaffen? Gewiss, er hat etwas mit ihr zu schaffen, wenn man will. Ist das alles ein Sein, ist es ein Werden, ist es ein Schein, ist es ein Traum? Bin gar ich nur der Schöpfer dieser äußeren Dinge? Aber, so fragte ich weiter, muss man philosophisches Denken Wollen? Nein, man muss es nicht Wollen, durchaus nicht. Es entfernt uns von den Dingen, zerfasert und zersetzt die Dinge, ist eine Krankheit, ist die Angst eines Kindes, das überall Gespenster sieht, obgleich es keine Gespenster gibt. Was wieder heißt es, dass es etwas nicht gibt? Der gesunde Mensch weiß das im tiefsten Inneren. Der kranke Mensch, also der Philosoph, grübelt wieder, ob es nicht doch alles gibt, was man zu sehen glaubt. Nirgends also mehr ein Halt, wenn man einmal begann zu zersetzen. Man hat den herrlichen Salzkristall der Wirklichkeit ins Wasser der Philosophie geworfen und jammert, dass er ins Unförmliche zerrinnt, dass er selbst angefressen und getrübt bleibt, wenn man ihn noch im letzten Augenblick aus dem Wasser fischt. Lassen wir also die Philosophie, sagte ich zu Laertes. Nehmen wir an, es gäbe eine solche und sie sei nützlich. Wir nehmen ja noch unbewiesenere Dinge stündlich an, um überhaupt über die nächsten Stunden hinüberzukommen. Und suchen wir, sagte ich, unsre Grundsätze zu festigen und zu zergliedern. Wir schreiten durch ein Fest. Ein Fest ist die Zusammenballung von Lust. Wir sind also mitten in den Gegenständen, die unsre Schule von anderen Weisheitsschulen unterscheidet. Lust muss gegenwärtig sein, muss körperlich sein und muss ein positiver Zustand sein, hat unser erhabener Gründer Aristippos gelehrt. Sie gleicht nicht der Windstille, nicht dem Sturm, sondern dem lauen Wellengekräusel in satter Mittagsglut. Laertes und ich blickten in Tausende von Antlitzen. Wir sahen da manches auf diesem Feste. Und wir sahen einander an und sahen in uns hinein, so tief wir konnten. Wir erblickten viel Sturm, viel Windstille und wenig laues Wellengekräusel. Wir bemerkten viel Erinnerung an die Vergangenheit, Hoffnung auf Zukunft, doch wenig Gegenwart. Allein das Körperliche der Lust schien zu stimmen. Was aber ist körperliche Lust? Wenn man nur kurze Zeit mit einem unsrer großen Ärzte spricht, dann ist das ganze Leben nichts als ein Kampf gegen Zehntausende von Gefahren und Gebrechen. Die Seele aber wird von den Kümmernissen des Körpers umhergerissen und verzehrt sich in Sorge, es könnten neue Gebrechen entstehen. Soll man darüber glücklich sein, dass das Schicksal viel Gehofftes vereitelt? Wir geben uns gar nicht ordentlich Rechenschaft darüber, wie wenig sich von dem erfüllt, was wir hoffen. Wir schämen uns nur, es einzugestehen. Auch das sahen wir an den Gesichtern beim Fest. Am Nachmittag hatten sie sich alle herausgeputzt, und die Augen strahlten vor Erwartung. Als die Sonne sank, waren sie schon müde, zerknittert und fahl, und aus ihren Augen flackerte die Enttäuschung. Soll man also das Leben wählen, weil es vielleicht einmal Unverhofites bringt? Oder wäre das Unverhoffte gar nur das Selbstverständliche und wir preisen es als Lust, wie Bettler den Tag preisen, an dem sie endlich den Hunger stillen können? Stille aber täglich deinen Hunger, Götterliebling Mensch. Wo ist dann die Lust? Ist Sättigung nicht wieder Windstille? Und Übersättigung geradezu Unlust? Ist da der Reiche glücklicher als der Arme? Ist der Sklave unglücklicher als der Freie? Der von Leidenschaften gepeitschte Jüngling glücklicher als der abgeklärte Greis? Sind hohe Geburt und Ehre nicht manchmal größere Lasten als niederer Stand und Schande? Will überhaupt nicht jeder das, was der andre hat? Oder aber, wenn der andere eindeutig im Unglück sitzt und von den Göttern schuldhaft oder eher noch unschuldig gepeinigt wird, bringt dann nicht den Guten, Mitleidigen dieser Anblick um die Freude, den Hartherzigen, Schlechten aber in Angst, es könne ihm genau so ergehen? Nein, der Weise kann das Leben nicht als Quelle von Lust anstreben, bejahen oder gar wünschen. Er ist hineingeworfen in diese Mühle, es nützt ihm nichts, wenn er, das Weizenkorn, darüber philosophiert, wie gut es wäre, kein Weizenkorn zu sein. Aber er ist doch nicht bloß ein Weizenkorn. Er wird versuchen, aus dem Sack zu schlüpfen, bevor dieser in die Mühle geschüttelt wird. Er wird Leid abwehren, dem Leid ausweichen, das Leid vermeiden, auch wenn er dadurch unendlich viel Lust verliert. Denn die Götter haben in ihrem Neid das Leben derart eingerichtet, dass fast jede Menschenlust unweigerlich schon im Keime späteres Menschenleid enthält. Ob wir nun diesen dunkelroten Wein trinken oder eine der geschminkten Buhlerinnen umarmen. Sättigung, Übersättigung, Ekel, Leid und Ende. Anders geht es nicht. Denn Mäßigkeit ist wohl nichts anderes als gegenwärtige Unlust, um auch in der Zukunft, vielleicht noch verschärft, vor demselben Problem des Sichbescheidenmüssens zu stehen. Unmäßigkeit aber ist noch nähergerückt Unlust, wobei den halbwegs wachen Menschen die Spinne der Ernüchterung bereits mitten im Genuss über die Blüten des Genusses kriecht.“
Hegesias machte eine kurze Pause und stürzte wie unabsichtlich einen großen Becher ungemischten Weines hinunter. Er lächelte verzerrt und blickte für einen Herzschlag auf den Schüler, dessen Gesicht noch haltloser und müder schien als vorher. Unvermittelt sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung: