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== 57. Jahrhundertwende ==
 
:Obgleich Leibniz wie ein unbeteiligter Zuseher an einer Säule lehnte und durch das Lorgnon schon seit Stunden das Gewühl des Maskenfestes beobachtete, war es im strahlend erleuchteten Saale nicht nur ihm, sondern auch allen anderen klar, daß dieses Fest nicht so sehr dem Geburtstag des Kurfürsten von Brandenburg als jenem in vornehmstes Schwarz, Weiß und Silber gekleideten Manne galt, der eben dort an der Säule lehnte und nur darum nicht sich vordrängte, weil er es durchaus nicht notwendig hatte.
:Obgleich Leibniz wie ein unbeteiligter Zuseher an einer Säule
lehnte und durch das Lorgnon schon seit Stunden das Ge-
wühl des Maskenfestes beobachtete, war es im strahlend er-
leuchteten Saale nicht nur ihm, sondern auch allen anderen klar,
daß dieses Fest nicht so sehr dem Geburtstag des Kurfürsten
von Brandenburg als jenem in vornehmstes Schwarz, Weiß und
Silber gekleideten Manne galt, der eben dort an der Säule
lehnte und nur darum nicht sich vordrängte, weil er es durch-
aus nicht notwendig hatte.
Es war der 11. Juli des Jahres 17oo. Gleich der Beginn des
neuen Jahrhunderts hatte Leibniz wieder auf einen Gipfel ge-
hoben, dessen sichtbarer Ausdruck eben dieses von der Kur-
fürstin Charlotte veranstaltete Maskenfest war.
Der ganze Adel und die ganze gelehrte Welt Berlins und
Kurbrandenburgs waren versammelt. Der Kurfürst, umgeben
von den höchsten Würdenträgern, saß prunkvoll und blendend
wie stets in einer Loge. Und gerade das Nebeneinander ernsten
Zeremoniells und beinahe kindlicher Maskerade gab dem Feste
jene Stimmung, die Leibniz für Stunden in eine heitere und
problemlose Gegenwart entrückt hatte.
Schon der Einzug der Gruppen war ein Spektakulum gewe-
sen. Die Devise des Festes, eine burleske Dorfmesse, war dem
schalkhaft ironischen Geist Charlottens entsprungen, die sich
aus der dadurch notwendigen Entwürdigung der steifen Hof-
Formen und aus den Kontrasten mit richtigem Instinkt all das
versprochen hatte, was auch wirklich eingetreten war.
Zwischen jahrmarktsbuden promenierten in großer Gala die
Gesandten. Und in den Buden hielt Markgraf Christian Lud-
wig mit ergrauten Hofbeamten eifrig Schinken, Würste, Rin-
derzungen, Wein, Limonade, Tee, Kaffee, Schokolade und
ähnliche Dinge feil, worin er durch anmutige Kellnerinnen
unterstützt wurde, deren jede sich ihres adeligen Stammbaums
nicht zu schämen brauchte. Ein Herr von Osten machte den
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:Es war der 11. Juli des Jahres 1700. Gleich der Beginn des neuen Jahrhunderts hatte Leibniz wieder auf einen Gipfel gehoben, dessen sichtbarer Ausdruck eben dieses von der Kurfürstin Charlotte veranstaltete Maskenfest war.
Scharlatan. Unter den Hanswursten und Seiltänzern zeichnete
sich der Markgraf Albert aus. Der Graf von Solms und Herr
von Wassenaer waren kühne Springer. Aber nichts War artiger
anzusehen als ein höchst kunstfertiger Taschenspieler, der allen
Hokuspokus der Welt beherrschte; und in dem man schließlich
erstaunt den Kurprinzen erkannte.
Unter Trompetenschall zog auf einer Art von Elefanten
plötzlich der Doktor, Herr von Alleures, ein; und hinter ihm
wurde in einer Sänfte durch Türken die Doktorin, die keine
geringere als Charlotte selbst War, zur Bude des Marktschreiers
getragen.
Ein Ballett von Zigeunerinnen unter Anführung der Fürstin
von Hohenzollern steigerte die Buntheit des Bildes. Und auch
ein Wahrsagender Astrologe mit einem riesigen Teleskop gab
seine Weisheit zum besten, in dem man zuerst Freiherrn von
Leibniz selbst vermutete, da diese Rolle ihm zugedacht gewesen
War. Um so größer War das Erstaunen, als Leibniz noch immer
an der Säule lehnte und es sich herausstellte, Graf von Wittgen-
stein habe im letzten Augenblick Leibniz diese Mühe abge-
nommen.
Es War schon eine Stunde nach Mitternacht. Unverändert
heiter und angeregt Wogte die Gesellschaft durcheinander,
kleine Abenteuer und Intrigen Wurden angebahnt, fortgesetzt
oder beendet, und jeder drängte sich dazu, die Wundertätigen
Ratschläge der „Doktorin“ entgegenzunehmen, die den selte-
nen Anlaß benützte, in Form von Verhaltungsmaßregeln das
ganze Machtgefüge Kurbrandenburgs zu ironisieren. Man
nahm es aber der Kurfürstin durchaus nicht übel. Im Gegen-
teil. Einer erzählte es im Lärmen absichtlich disharmonischer
Dorfmusiken dem anderen, Wie sehr er von Charlotte durch-
schaut und zum besten gehalten worden sei. Und es War selbst-
verständlich, daß man sich in gutmütig scherzender Art am
„Lehrer“, an Leibniz, schadlos hielt und ihm allerlei Zusam-
menhänge mit den Aussprüchen der „Doktorin“ ansann, denen
er natürlich vollkommen fern stand.
Als man bemerkte, daß Leibniz zu solchen Scherzen, die man
ihm anzüglich mitteilte, nicht schwieg, sondern Womöglich
 
:Der ganze Adel und die ganze gelehrte Welt Berlins und Kurbrandenburgs waren versammelt. Der Kurfürst, umgeben von den höchsten Würdenträgern, saß prunkvoll und blendend wie stets in einer Loge. Und gerade das Nebeneinander ernsten Zeremoniells und beinahe kindlicher Maskerade gab dem Feste jene Stimmung, die Leibniz für Stunden in eine heitere und problemlose Gegenwart entrückt hatte.
 
:Schon der Einzug der Gruppen war ein Spektakulum gewesen. Die Devise des Festes, eine burleske Dorfmesse, war dem schalkhaft ironischen Geist Charlottens entsprungen, die sich aus der dadurch notwendigen Entwürdigung der steifen Hof-Formen und aus den Kontrasten mit richtigem Instinkt all das versprochen hatte, was auch wirklich eingetreten war.
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:Zwischen Jahrmarktsbuden promenierten in großer Gala die Gesandten. Und in den Buden hielt Markgraf Christian Ludwig mit ergrauten Hofbeamten eifrig Schinken, Würste, Rinderzungen, Wein, Limonade, Tee, Kaffee, Schokolade und ähnliche Dinge feil, worin er durch anmutige Kellnerinnen unterstützt wurde, deren jede sich ihres adeligen Stammbaums nicht zu schämen brauchte. Ein Herr von Osten machte den Scharlatan. Unter den Hanswursten und Seiltänzern zeichnete sich der Markgraf Albert aus. Der Graf von Solms und Herr von Wassenaer waren kühne Springer. Aber nichts war artiger anzusehen als ein höchst kunstfertiger Taschenspieler, der allen Hokuspokus der Welt beherrschte; und in dem man schließlich erstaunt den Kurprinzen erkannte.
noch treflsicherere Bosheiten und Anspielungen hinzufügte,
zog man es vor, zu lachen und ihn in Ruhe zu lassen.
Nun war er schon, während das Treiben durch Tanz, Spiele
und durch die Anregung beginnenden Liebesgetändels stets
ausgelassener wurde, fast eine Stunde von niemandem mehr
angesprochen worden. Und es war, im Gegensatz zu diesem
vordrängenden Leben, in ihm eine Stimmung entstanden, die
ihm den eigentlichen Sinn des heutigen Festes zum Bewußtsein
brachte.
Jahrhundertwende? War das der Sinn des Festes? Oder nur
einer der vielen Gedanken, die ihn plötzlich bestürmten? Es
ist etwas Eigentümliches um das Gefühl tiefbewußter Men-
schen, die den Anbruch eines Jahrhunderts miterleben. Gut, es
ist nichts als eine Konvention, dieseplötzliche Veränderung der
zweiten Ziffer aller Jahreszahlen. Und doch kann sich wieder
fast niemand, den die Dämonen der Geschichte je überkamen,
diesem Ziffernwechsel entziehen. Es ist mehr als eine Ziffer,
ist eine veränderte Farbe der Zeit, wenn man so sagen darf. Und
diese veränderte Farbe legt sich unbemerkt und ohne daß die
vielen es wissen, über alle Ereignisse. Jeder will neu beginnen.
Jeder will Vergangenes abschließen. Mit einem Glockenschlag
sind hundert Jahre zur Geschichte geworden, bekommen ein
Kennwort, eine tragende Idee, eine gemeinsame Grundnote.
Und ein rätselhaftes Nichts, die ungeheure Zukunft hundert
neuer Jahre, steht vor dem Betrachter. Hundert Jahre, deren
gemeinsames Gesetz erst gefunden werden soll. . .
Die wirkliche, nur scheinbar an solche Grenzen nicht gebun-
dene Geschichte leistet allem Aberglauben der Jahrhundert-
wende Vorschub. Denn all das, was bewußt und unbewußt die
Menschen fühlen, wird ja durch diese Gefühle zu äußerem Ge-
schehen, zur Tat. Und es wäre der Untersuchung wert, zu er-
forschen, warum gewaltsame Neuformungen so häufig und so
sichtbar gerade am Beginn oder am Ende der gewiß nur konven-
tionellen Jahrhunderte unsrer Zeitrechnung auftreten.
Die Schlacht bei Zenta, der Friede von Ryswick und andre
Ereignisse hatten einen gewissen Abschluß gebracht. Auch für
das Vordringen der Macht Frankreichs. Denn der Genius Prinz
 
:Unter Trompetenschall zog auf einer Art von Elefanten plötzlich der Doktor, Herr von Alleures, ein; und hinter ihm wurde in einer Sänfte durch Türken die Doktorin, die keine geringere als Charlotte selbst War, zur Bude des Marktschreiers getragen.
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:Ein Ballett von Zigeunerinnen unter Anführung der Fürstin von Hohenzollern steigerte die Buntheit des Bildes. Und auch ein Wahrsagender Astrologe mit einem riesigen Teleskop gab seine Weisheit zum besten, in dem man zuerst Freiherrn von Leibniz selbst vermutete, da diese Rolle ihm zugedacht gewesen War. Um so größer War das Erstaunen, als Leibniz noch immer an der Säule lehnte und es sich herausstellte, Graf von Wittgenstein habe im letzten Augenblick Leibniz diese Mühe abgenommen.
Eugens verhieß eine neue Entwicklung im großen Krieg um die
spanische Erbfolge, der sich eben unheilkündend vorbereitete.
Leibniz selbst, als Einzelner, war aber auf ganz andren Fähr-
ten zur Gegenwart des heutigen Gipfeltages emporgestiegen,
obgleich er wieder mehr als einmal in die Ereignisse der großen
Staatengeschichte eingegriffen hatte. Auch sein zweiter Herr,
Kurfürst Ernst August, war gestorben. Die so tragisch erstrit-
tene Primogenitur Georgs war wirksam geworden. Und Leibniz
unterstand jetzt jenem kalten, wortkargen Fürsten, der ihn beim
ersten Zusammentreffen beinahe wie einen Domestiken behan-
delt hatte. Aber auch aus andren Zonen waren dunkle Schatten
emporgestiegen. lm jahre 1699 hatte Fatio von Duillier seinen
ersten Schlag geführt und in seinen „Zwei Abhandlungen über
die Brachistochrone“, in einer Schrift, die mit Genehmigung
der englischen Sozietät erschienen war, nicht weniger behaup-
tet, als daß er, Fatio, den zur Bewältigung des Problems der
Brachistochrone erforderlichen Kalkül bereits im Jahre 1687
selbständig entdeckt habe und daß er in dieser Hinsicht kein ge-
ringeres Wissen besessen hätte, wenn Leibniz damals noch gar
nicht geboren gewesen wäre. Möge sich Leibniz daher „seiner“
Methoden oder andrer Schüler rühmen, ihn könne er gewiß
nicht dazu rechnen. Gut, er erkenne es neidlos an, daß Newton
der erste und unbestrittene Erfinder dieses Kalküls sei. Denn
dazu nötige jeden der Augenschein der Dinge. Ob aber Leibniz,
der angebliche zweite Erfinder, von Newton etwas entlehnt
habe, darüber sollten andre ein Urteil abgeben, denen Einsicht
in die Briefe und Handschriften Newtons gewährt würde. Nie-
manden aber, der durchstudiert habe, was er, Fatio, an Doku-
menten aufrollen könnte, würde in dieser Sache hinfürder das
Schweigen des allzu bescheidenen Newton und Leibnizens
vordringliche Geschäftigkeit täuschen.
Leibniz hatte leider die ganze Tragweite dieses Vorstoßes
nicht gleich voll erkannt. Im Bewußtsein seines Rechtes hatte
er die Verbissenheit des begabten Halbnarren Fatio und die un-
wahrscheinliche Ungerechtigkeit einmal aufgepeitschten eng-
lischen Nationalhochmuts unterschätzt. Und er hatte nur mit
beinahe spielerischen Gegenstößen geantwortet.
 
:Es war schon eine Stunde nach Mitternacht. Unverändert heiter und angeregt Wogte die Gesellschaft durcheinander, kleine Abenteuer und Intrigen Wurden angebahnt, fortgesetzt oder beendet, und jeder drängte sich dazu, die Wundertätigen Ratschläge der „Doktorin“ entgegenzunehmen, die den seltenen Anlaß benützte, in Form von Verhaltungsmaßregeln das ganze Machtgefüge Kurbrandenburgs zu ironisieren. Man nahm es aber der Kurfürstin durchaus nicht übel. Im Gegenteil. Einer erzählte es im Lärmen absichtlich disharmonischer Dorfmusiken dem anderen, Wie sehr er von Charlotte durchschaut und zum besten gehalten worden sei. Und es War selbstverständlich, daß man sich in gutmütig scherzender Art am „Lehrer“, an Leibniz, schadlos hielt und ihm allerlei Zusammenhänge mit den Aussprüchen der „Doktorin“ ansann, denen er natürlich vollkommen fern stand.
 
:Als man bemerkte, daß Leibniz zu solchen Scherzen, die man ihm anzüglich mitteilte, nicht schwieg, sondern womöglich noch treffsicherere Bosheiten und Anspielungen hinzufügte, zog man es vor, zu lachen und ihn in Ruhe zu lassen.
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:Nun war er schon, während das Treiben durch Tanz, Spiele und durch die Anregung beginnenden Liebesgetändels stets ausgelassener wurde, fast eine Stunde von niemandem mehr angesprochen worden. Und es war, im Gegensatz zu diesem vordrängenden Leben, in ihm eine Stimmung entstanden, die ihm den eigentlichen Sinn des heutigen Festes zum Bewußtsein brachte.
Gleichwohl war sein Gefühl seit dieser Zeit kein gutes, ob-
wohl der Marquis de l”Hospital und die Bernoullis sogleich an
seine Seite getreten waren. Denn auch in Frankreich bekämpfte
schon seit geraumer Zeit Herr von Gallois, derselbe, mit dem
Leibniz vor jahrzehnten im Park Colberts zusammengestoßen
war, die Diílerentialrechnung mit ebensoviel Starrsinn als eit-
ler Selbstliebe.
Neue Pläne, neues Vordringen in fremdes Gebiet hatten ihn
von diesen Mißhelligkeiten aber wieder abgelenkt. So waren
seine „Unvorgreiflichen Gedanken“ noch zu Ende des Jahr-
hunderts erschienen, in denen er endlich längsterwogene An-
sichten über die deutsche Sprache in feurig mitreißender
Form seinem Volke vorhielt und damit eine Sturmwoge natio-
naler Begeisterung erregte, deren Höhepunkt noch nicht abzu-
sehen war. So hatte er - und diese Tat führte auf sonderbaren
Wegen in die Mitte des heutigen Festes - die Kalender-Re-
form, mit der sich auch sein ehemaliger Lehrer, der greise
Erhard Weigel in Jena, angelegentlich befaßte, sogleich aufge-
griifen und zur eigenen Sache gemacht. So unscheinbar der
Anlaß war: Leibniz hatte mit unwahrscheinlichem Spürsinn
herausgefunden, daß hier ein Angriífspunkt lag, der nicht nur
wieder alle Unionsbestrebungen der einzelnen Religionen in
Fluß bringen konnte. Er hatte darüber hinaus, im Verkehr mit
der französischen Akademie, mit den berühmtesten Astronomen
wie Bianchini, Olaf Römer und Samuel Reiher der Angelegen-
heit eine Weite verliehen, die schließlich zur Gründung der
Sozietät in Berlin führte. Und damit dem Geistesleben der ober-
sten Weisheitsschichten Deutschlands den ersten, untilgbaren
Mittelpunkt gab.
Aber noch ein zweites Geflecht wichtigster Beziehungen ver-
knüpfte sich mit dieser Gründung, die streng nach seinen
Grundsätzen eben erfolgt war: das Verhältnis der beiden neuen
norddeutschen Vormächte, Hannovers und Brandenburgs, war
eben durch den zielbewußten Ehrgeiz Hannovers nicht das
beste. Und kein Kundiger übersah, wo wiederum das Kraft-
zentrum hannöverschen Ausbreitungswillens lag. Kurfürstin
Sophie und Freiherr von Leibniz, dessen Streben nach dem
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:Jahrhundertwende? War das der Sinn des Festes? Oder nur einer der vielen Gedanken, die ihn plötzlich bestürmten? Es ist etwas Eigentümliches um das Gefühl tiefbewußter Menschen, die den Anbruch eines Jahrhunderts miterleben. Gut, es ist nichts als eine Konvention, diese plötzliche Veränderung der zweiten Ziffer aller Jahreszahlen. Und doch kann sich wieder fast niemand, den die Dämonen der Geschichte je überkamen, diesem Ziffernwechsel entziehen. Es ist mehr als eine Ziffer, ist eine veränderte Farbe der Zeit, wenn man so sagen darf. Und diese veränderte Farbe legt sich unbemerkt und ohne daß die vielen es wissen, über alle Ereignisse. Jeder will neu beginnen. Jeder will Vergangenes abschließen. Mit einem Glockenschlag sind hundert Jahre zur Geschichte geworden, bekommen ein Kennwort, eine tragende Idee, eine gemeinsame Grundnote. Und ein rätselhaftes Nichts, die ungeheure Zukunft hundert neuer Jahre, steht vor dem Betrachter. Hundert Jahre, deren gemeinsames Gesetz erst gefunden werden soll...
 
:Die wirkliche, nur scheinbar an solche Grenzen nicht gebundene Geschichte leistet allem Aberglauben der Jahrhundertwende Vorschub. Denn all das, was bewußt und unbewußt die Menschen fühlen, wird ja durch diese Gefühle zu äußerem Geschehen, zur Tat. Und es wäre der Untersuchung wert, zu erforschen, warum gewaltsame Neuformungen so häufig und so sichtbar gerade am Beginn oder am Ende der gewiß nur konventionellen Jahrhunderte unsrer Zeitrechnung auftreten.
Kanzlerposten Hannovers bisher abgewehrt worden war: das
waren die beiden Gehirne, die das Geschick Norddeutsch-
lands entschieden. Alle übrigen waren mehr oder weniger ein-
flußlose Figuranten.
Und nun, um die Verwirrung voll zu machen, war eben dieser
Leibniz gleichzeitig der Freund und Lehrer der Kurfürstin von
Brandenburg. Lostrennung, Verfeindung, Entfremdung kamen
nicht in Frage. Was also war natürlicher, als daß Staatsmänner
und Diplomaten gute Miene zu einem Spiele gemacht hatten,
von dem man nicht einmal wußte, ob es ein böses Spiel war.
Denn der Verfasser der „Unvorgreifiichen Gedanken“ konnte
zwar engstirnigen Hausmachtplänen gefährlich werden, nie
aber gesamtdeutschen Interessen. Um so weniger, als er, wie es
hieß, bereits vom deutschen Kaiser zu geistigem Eingreifen in
den spanischen Erbfolgestreit für das Reich aufgefordert wor-
den war. Und so strebten alle, denen die Trias Sophie, Leibniz
und Charlotte irgendwie im Weg stand, den „Gelehrten“, den
„Philosophen“, den „Historicus“ wieder auf sein „verstaubtes“
wissenschaftliches Gebiet hinüberzuschieben, auf dem ihm
außerdem eben in England gefährliche Feinde erwuchsen. Und
in Hannover hatte eine dem neuen Kurfürsten Georg nicht ganz
fernstehende Hofclique alles aufgeboten, den gefährlichen
„Sich-in-alles-Mischer“ dadurch lahmzulegen, daß man ihn
zur Vollendung der Welfengeschichte drängte; von der wieder
halbwegs Sachkundige wußten, daß sie nach dem festgelegten
Plan fast mehr als ein volles Menschenleben an Arbeitslast und
Arbeitsdauer heischte.
Leibniz nun war sich all dieser Zusammenhänge durchaus
bewußt gewesen, als er die Gründung der Sozietät der Wissen-
schaften in Berlin unternommen hatte. ja, noch mehr. Eben die-
se Aufgabe war ihm als Sprungbrett zur Verwirklichung seiner
politischen Pläne erschienen, die schlicht und klar auf nichts
andres zielten als auf Stärkung und Zusammenballung der Ein-
zelglieder des Reiches mit dem Endziel einer vollkommenen
Verschweißung dieser gestärkten Teile zur großen einigen
deutschen Nation. Und so stand er heute als erster Präsident der
ersten deutschen Sozietät der Wissenschaften und als neuer-
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:Die Schlacht bei Zenta, der Friede von Ryswick und andre Ereignisse hatten einen gewissen Abschluß gebracht. Auch für das Vordringen der Macht Frankreichs. Denn der Genius Prinz Eugens verhieß eine neue Entwicklung im großen Krieg um die spanische Erbfolge, der sich eben unheilkündend vorbereitete.
nannter Geheimer Justizrat Kurbrandenburgs an jener Säule im
Gewoge des Maskenfestes. Und erwog, wie er sein geistiges
Netz noch weiter über Deutschland und Europa breiten sollte.
Kursachsen war der nächste Mittelpunkt einer gelehrten Aka-
demie. Dann sollten die Punkte stärkeren Widerstandes, näm-
lich Wien und das in Gründung befindliche St. Petersburg,
folgen. Zur Stärkung Deutschlands, zur Stärkung der Wissen-
schaften und zur Abwehr des östlichen Chaos.
Er hatte im bunten Durcheinander des Festes die Einzelnen
längst aus dem Auge verloren. Alle Ordnung, die letzten Reste
von Zeremoniell waren aufgelöst, und kleine Gruppen, die nicht
eben tanzten, saßen plaudernd an Tischchen und auf den Sofas
in den Saalecken, wenn sie nicht bereits in den Nebensälen
umherschwärrnten.
Darum erschrak er fast, als sich eine Hand auf seinen Arm
legte und die Stimme der Kurfürstin Charlotte leise an sein
Ohr klang.
„Meine offizielle Aufgabe ist erfüllt, mon cher“, sagte sie
und blickte ihn aus einem leicht erhitzten lächelnden Gesicht
sonderbar gelöst an. „Wie wäre es, Leibniz, wenn Sie mir für
den Rest des Abends Gesellschaft leisteten? Man hat Ihnen
bis jetzt keine Ovation dargebracht. Ich verstehe es. Gleich-
wohl weiß es jeder, daß eben Sie heute der Mann sind, dem
diese Feier zu gelten hat. Und da wird es mir ein auserlesenes
Vergnügen sein, ganz Kurbrandenburg zu belehren, was sich
eigentlich schickt. Ich habe auf dem Wege zu Ihnen bereits die
Cour fast sämtlicher unsrer einflußreichsten Männer abgelehnt.
Wagen Sie diese Demonstration gegen die Macht, Leibniz P“
Und sie reichte ihm den Arm.
„Ich denke, Hoheit überschätzen die Böswilligkeit Ihrer Un-
tertanen“, erwiderte Leibniz. „Man hat mich nicht im gering-
sten angegriffen. Das ist mir genug an einem Ehrentag. Und ich
begreife es deutlicher als jeder andre, daß ein Mann so unklarer
Stellung wie ich nicht auch noch positive Begeisterungsbe-
weise verlangen kann. Ich stehe als gerechter Mensch unbe-
dingt auf Seite der Argumente meiner Feinde, wenn es solche
geben sollte. Nur muß ich leider im Interesse Deutschlands
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:Leibniz selbst, als Einzelner, war aber auf ganz andren Fährten zur Gegenwart des heutigen Gipfeltages emporgestiegen, obgleich er wieder mehr als einmal in die Ereignisse der großen Staatengeschichte eingegriffen hatte. Auch sein zweiter Herr, Kurfürst Ernst August, war gestorben. Die so tragisch erstrittene Primogenitur Georgs war wirksam geworden. Und Leibniz unterstand jetzt jenem kalten, wortkargen Fürsten, der ihn beim ersten Zusammentreffen beinahe wie einen Domestiken behandelt hatte. Aber auch aus andren Zonen waren dunkle Schatten emporgestiegen. Im Jahre 1699 hatte Fatio von Duillier seinen ersten Schlag geführt und in seinen „Zwei Abhandlungen über die Brachistochrone“, in einer Schrift, die mit Genehmigung der englischen Sozietät erschienen war, nicht weniger behauptet, als daß er, Fatio, den zur Bewältigung des Problems der Brachistochrone erforderlichen Kalkül bereits im Jahre 1687 selbständig entdeckt habe und daß er in dieser Hinsicht kein geringeres Wissen besessen hätte, wenn Leibniz damals noch gar nicht geboren gewesen wäre. Möge sich Leibniz daher „seiner“ Methoden oder andrer Schüler rühmen, ihn könne er gewiß nicht dazu rechnen. Gut, er erkenne es neidlos an, daß Newton der erste und unbestrittene Erfinder dieses Kalküls sei. Denn dazu nötige jeden der Augenschein der Dinge. Ob aber Leibniz, der angebliche zweite Erfinder, von Newton etwas entlehnt habe, darüber sollten andre ein Urteil abgeben, denen Einsicht in die Briefe und Handschriften Newtons gewährt würde. Niemanden aber, der durchstudiert habe, was er, Fatio, an Dokumenten aufrollen könnte, würde in dieser Sache hinfürder das Schweigen des allzu bescheidenen Newton und Leibnizens vordringliche Geschäftigkeit täuschen.
gegen diese Argumente kämpfen, so sehr ich sie logisch billige.“
Und er verbeugte sich vor Charlotte und führte sie mitten durch
das Gedränge des Festes in einen der Nebenräume, wo Herr
von Quirini, der „Kammerdiener“ der „Doktorin“, bereits ein
Tischchen für seine Fürstin hatte vorbereiten lassen.
„Verschaífen Sie uns den besten Schaumwein, Quirini“,
sagte Charlotte, nachdem sie sich mit Leibniz gesetzt hatte.
„Außerdem wäre mir nach all dem Jahrmarktsgekreische, an
dem ich als Erfinderin der Devise selbst schuld bin, ein wenig
wirkliche Musik erwünscht. Man kann die Portieren schließen,
damit die draußen nicht gestört sind. Und dann, lieber Quirini,
holen Sie noch ein paar ernste Leute ins Zimmer. Als Garde für
mich und meinen verehrten Präsidenten der Sozietät.“ Sie
nickte Herrn von Quirini zu. Dann wandte sie sich an Leibniz.
„ Sie irren sehr, wenn Sie denken, heute sei ein Rasttag für Geist
und Wissen. Im Gegenteil. Ich setze voraus, ja ich verlange, daß
mir ein Präsident eben heute einen meiner quälendsten Zwei-
fel löst. Sie kennen ihn wohl. Es ist unser altes Thema über die
pessimistischen Anwürfe Peter Bayles und über Ihre Behaup-
tung, unsre Welt sei die denkbar beste. Ich bin gespannt, Ihre
Verteidigung zu hören. Von einem Präsidenten der Sozietät
,geruhe“ ich, einiges Überdurchschnittliche vorauszusetzen und
zu verlangen.“ Charlotte lächelte vor sich hin.
Leibniz wußte, daß sie sich in großer innerer Bewegung be-
fand. Es war durchaus nicht ein einfacher Wunsch nach Wis-
sensvermehrung oder gar Neugier, was sie zu ihrer Handlungs-
weise bewogen hatte. Es war viel mehr. Die Resultierende zahl-
loser Teilkräfte hatte sie hieher und bis zu dieser Frage geführt.
Tiefste, fast kindliche Anhänglichkeit der Schülerin. Zorn, daß
nicht alle Großen des Landes ihr blind in ihrer Verehrung
folgten. Stolz und Freude über den Sieg des Geistes, den sie
als Geist von ihrem Geiste betrachtete. Und zum Schluß Be-
kennertrotz, der aller Welt seine Meinung zeigen will. Dazu
aber noch weit andres. Königsblut, das sich regte. Hochmut
einer schönen unantastbaren Frau, der unbewußt zum Wider-
stand schürte. Beweise, Leibniz, hieß der letzte Urgrund ihrer
Frage, daß du wert bist meiner ganz ungewöhnlichen Tat.
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:Leibniz hatte leider die ganze Tragweite dieses Vorstoßes nicht gleich voll erkannt. Im Bewußtsein seines Rechtes hatte er die Verbissenheit des begabten Halbnarren Fatio und die unwahrscheinliche Ungerechtigkeit einmal aufgepeitschten englischen Nationalhochmuts unterschätzt. Und er hatte nur mit beinahe spielerischen Gegenstößen geantwortet.
 
:Gleichwohl war sein Gefühl seit dieser Zeit kein gutes, obwohl der Marquis de l‘Hospital und die Bernoullis sogleich an seine Seite getreten waren. Denn auch in Frankreich bekämpfte schon seit geraumer Zeit Herr von Gallois, derselbe, mit dem Leibniz vor Jahrzehnten im Park Colberts zusammengestoßen war, die Differentialrechnung mit ebensoviel Starrsinn als eitler Selbstliebe.
Beweise dich. Vor dir selbst und vor mir. Mir genügt es nicht, daß
du Präsident der Sozietät bist, daß du groß bist, daß du be-
rühmt, ja, daß du ein Weltwunder bist. Du sollst mehr sein.
Viel mehr. Du sollst allwissend sein, stärker als stark, einzig!
Nur diesen einzigen, unvergleichlichen Leibniz kann die
Königsenkelin als Lehrer brauchen. Verzeih mir, Leibniz! Der
Hochmutsteufel hat mich in den Krallen. Aber ich bin eine
Frau. Ich kann nicht anders. Ich würde dich auch ehren und in
tiefer Freundschaft lieben, wenn du nicht dieses Letzte er-
reichtest. Immer und an jedem Ort. Aber heute, hier, in dieser
Stunde, will ich es anders. Versage nicht in dieser Stunde.
Nicht, weil es uns trennen könnte. Sondern weil auch ich ein
Recht auf Glück, auf Vollendung meines geistigen Lebens habe.
Und das soll heute sein. Du hast viele, viele solcher Gipfeltage
erlebt. Ich habe vielleicht nur diesen einen Tag. Und ich habe
für dich gearbeitet, habe mich in meiner Jahrmarktsbude ab-
gemüht für diese, unsre, meine Stunde...
 
:Neue Pläne, neues Vordringen in fremdes Gebiet hatten ihn von diesen Mißhelligkeiten aber wieder abgelenkt. So waren seine „Unvorgreiflichen Gedanken“ noch zu Ende des Jahrhunderts erschienen, in denen er endlich längsterwogene Ansichten über die deutsche Sprache in feurig mitreißender Form seinem Volke vorhielt und damit eine Sturmwoge nationaler Begeisterung erregte, deren Höhepunkt noch nicht abzusehen war. So hatte er - und diese Tat führte auf sonderbaren Wegen in die Mitte des heutigen Festes - die Kalender-Reform, mit der sich auch sein ehemaliger Lehrer, der greise Erhard Weigel in Jena, angelegentlich befaßte, sogleich aufgegriifen und zur eigenen Sache gemacht. So unscheinbar der Anlaß war: Leibniz hatte mit unwahrscheinlichem Spürsinn herausgefunden, daß hier ein Angriffspunkt lag, der nicht nur wieder alle Unionsbestrebungen der einzelnen Religionen in Fluß bringen konnte. Er hatte darüber hinaus, im Verkehr mit der französischen Akademie, mit den berühmtesten Astronomen wie Bianchini, Olaf Römer und Samuel Reiher der Angelegenheit eine Weite verliehen, die schließlich zur Gründung der Sozietät in Berlin führte. Und damit dem Geistesleben der obersten Weisheitsschichten Deutschlands den ersten, untilgbaren Mittelpunkt gab.
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:Aber noch ein zweites Geflecht wichtigster Beziehungen verknüpfte sich mit dieser Gründung, die streng nach seinen Grundsätzen eben erfolgt war: das Verhältnis der beiden neuen norddeutschen Vormächte, Hannovers und Brandenburgs, war eben durch den zielbewußten Ehrgeiz Hannovers nicht das beste. Und kein Kundiger übersah, wo wiederum das Kraftzentrum hannöverschen Ausbreitungswillens lag. Kurfürstin Sophie und Freiherr von Leibniz, dessen Streben nach dem Kanzlerposten Hannovers bisher abgewehrt worden war: das waren die beiden Gehirne, die das Geschick Norddeutschlands entschieden. Alle übrigen waren mehr oder weniger einflußlose Figuranten.
 
:Und nun, um die Verwirrung voll zu machen, war eben dieser Leibniz gleichzeitig der Freund und Lehrer der Kurfürstin von Brandenburg. Lostrennung, Verfeindung, Entfremdung kamen nicht in Frage. Was also war natürlicher, als daß Staatsmänner und Diplomaten gute Miene zu einem Spiele gemacht hatten, von dem man nicht einmal wußte, ob es ein böses Spiel war. Denn der Verfasser der „Unvorgreiflichen Gedanken“ konnte zwar engstirnigen Hausmachtplänen gefährlich werden, nie aber gesamtdeutschen Interessen. Um so weniger, als er, wie es hieß, bereits vom deutschen Kaiser zu geistigem Eingreifen in den spanischen Erbfolgestreit für das Reich aufgefordert worden war. Und so strebten alle, denen die Trias Sophie, Leibniz und Charlotte irgendwie im Weg stand, den „Gelehrten“, den „Philosophen“, den „Historicus“ wieder auf sein „verstaubtes“ wissenschaftliches Gebiet hinüberzuschieben, auf dem ihm außerdem eben in England gefährliche Feinde erwuchsen. Und in Hannover hatte eine dem neuen Kurfürsten Georg nicht ganz fernstehende Hofclique alles aufgeboten, den gefährlichen „Sich-in-alles-Mischer“ dadurch lahmzulegen, daß man ihn zur Vollendung der Welfengeschichte drängte; von der wieder halbwegs Sachkundige wußten, daß sie nach dem festgelegten Plan fast mehr als ein volles Menschenleben an Arbeitslast und Arbeitsdauer heischte.
 
:Leibniz nun war sich all dieser Zusammenhänge durchaus bewußt gewesen, als er die Gründung der Sozietät der Wissenschaften in Berlin unternommen hatte. ja, noch mehr. Eben diese Aufgabe war ihm als Sprungbrett zur Verwirklichung seiner politischen Pläne erschienen, die schlicht und klar auf nichts andres zielten als auf Stärkung und Zusammenballung der Einzelglieder des Reiches mit dem Endziel einer vollkommenen Verschweißung dieser gestärkten Teile zur großen einigen deutschen Nation. Und so stand er heute als erster Präsident der ersten deutschen Sozietät der Wissenschaften und als neuernannter Geheimer Justizrat Kurbrandenburgs an jener Säule im Gewoge des Maskenfestes. Und erwog, wie er sein geistiges Netz noch weiter über Deutschland und Europa breiten sollte. Kursachsen war der nächste Mittelpunkt einer gelehrten Akademie. Dann sollten die Punkte stärkeren Widerstandes, nämlich Wien und das in Gründung befindliche St. Petersburg, folgen. Zur Stärkung Deutschlands, zur Stärkung der Wissenschaften und zur Abwehr des östlichen Chaos.
 
:Er hatte im bunten Durcheinander des Festes die Einzelnen längst aus dem Auge verloren. Alle Ordnung, die letzten Reste von Zeremoniell waren aufgelöst, und kleine Gruppen, die nicht eben tanzten, saßen plaudernd an Tischchen und auf den Sofas in den Saalecken, wenn sie nicht bereits in den Nebensälen umherschwärmten.
 
:Darum erschrak er fast, als sich eine Hand auf seinen Arm legte und die Stimme der Kurfürstin Charlotte leise an sein Ohr klang.
 
:„Meine offizielle Aufgabe ist erfüllt, mon cher“, sagte sie und blickte ihn aus einem leicht erhitzten lächelnden Gesicht sonderbar gelöst an. „Wie wäre es, Leibniz, wenn Sie mir für den Rest des Abends Gesellschaft leisteten? Man hat Ihnen bis jetzt keine Ovation dargebracht. Ich verstehe es. Gleichwohl weiß es jeder, daß eben Sie heute der Mann sind, dem diese Feier zu gelten hat. Und da wird es mir ein auserlesenes Vergnügen sein, ganz Kurbrandenburg zu belehren, was sich eigentlich schickt. Ich habe auf dem Wege zu Ihnen bereits die Cour fast sämtlicher unsrer einflußreichsten Männer abgelehnt. Wagen Sie diese Demonstration gegen die Macht, Leibniz?“ Und sie reichte ihm den Arm.
 
:„Ich denke, Hoheit überschätzen die Böswilligkeit Ihrer Untertanen“, erwiderte Leibniz. „Man hat mich nicht im geringsten angegriffen. Das ist mir genug an einem Ehrentag. Und ich begreife es deutlicher als jeder andre, daß ein Mann so unklarer Stellung wie ich nicht auch noch positive Begeisterungsbeweise verlangen kann. Ich stehe als gerechter Mensch unbedingt auf Seite der Argumente meiner Feinde, wenn es solche geben sollte. Nur muß ich leider im Interesse Deutschlands gegen diese Argumente kämpfen, so sehr ich sie logisch billige.“ Und er verbeugte sich vor Charlotte und führte sie mitten durch das Gedränge des Festes in einen der Nebenräume, wo Herr von Quirini, der „Kammerdiener“ der „Doktorin“, bereits ein Tischchen für seine Fürstin hatte vorbereiten lassen.
 
:„Verschaffen Sie uns den besten Schaumwein, Quirini“, sagte Charlotte, nachdem sie sich mit Leibniz gesetzt hatte. „Außerdem wäre mir nach all dem Jahrmarktsgekreische, an dem ich als Erfinderin der Devise selbst schuld bin, ein wenig wirkliche Musik erwünscht. Man kann die Portieren schließen, damit die draußen nicht gestört sind. Und dann, lieber Quirini, holen Sie noch ein paar ernste Leute ins Zimmer. Als Garde für mich und meinen verehrten Präsidenten der Sozietät.“ Sie nickte Herrn von Quirini zu. Dann wandte sie sich an Leibniz. „ Sie irren sehr, wenn Sie denken, heute sei ein Rasttag für Geist und Wissen. Im Gegenteil. Ich setze voraus, ja ich verlange, daß mir ein Präsident eben heute einen meiner quälendsten Zweifel löst. Sie kennen ihn wohl. Es ist unser altes Thema über die pessimistischen Anwürfe Peter Bayles und über Ihre Behauptung, unsre Welt sei die denkbar beste. Ich bin gespannt, Ihre Verteidigung zu hören. Von einem Präsidenten der Sozietät ,geruhe“ ich, einiges Überdurchschnittliche vorauszusetzen und zu verlangen.“ Charlotte lächelte vor sich hin.
 
:Leibniz wußte, daß sie sich in großer innerer Bewegung befand. Es war durchaus nicht ein einfacher Wunsch nach Wissensvermehrung oder gar Neugier, was sie zu ihrer Handlungsweise bewogen hatte. Es war viel mehr. Die Resultierende zahlloser Teilkräfte hatte sie hieher und bis zu dieser Frage geführt. Tiefste, fast kindliche Anhänglichkeit der Schülerin. Zorn, daß nicht alle Großen des Landes ihr blind in ihrer Verehrung folgten. Stolz und Freude über den Sieg des Geistes, den sie als Geist von ihrem Geiste betrachtete. Und zum Schluß Bekennertrotz, der aller Welt seine Meinung zeigen will. Dazu aber noch weit andres. Königsblut, das sich regte. Hochmut einer schönen unantastbaren Frau, der unbewußt zum Widerstand schürte. Beweise, Leibniz, hieß der letzte Urgrund ihrer Frage, daß du wert bist meiner ganz ungewöhnlichen Tat. Beweise dich. Vor dir selbst und vor mir. Mir genügt es nicht, daß du Präsident der Sozietät bist, daß du groß bist, daß du berühmt, ja, daß du ein Weltwunder bist. Du sollst mehr sein. Viel mehr. Du sollst allwissend sein, stärker als stark, einzig! Nur diesen einzigen, unvergleichlichen Leibniz kann die Königsenkelin als Lehrer brauchen. Verzeih mir, Leibniz! Der Hochmutsteufel hat mich in den Krallen. Aber ich bin eine Frau. Ich kann nicht anders. Ich würde dich auch ehren und in tiefer Freundschaft lieben, wenn du nicht dieses Letzte erreichtest. Immer und an jedem Ort. Aber heute, hier, in dieser Stunde, will ich es anders. Versage nicht in dieser Stunde. Nicht, weil es uns trennen könnte. Sondern weil auch ich ein Recht auf Glück, auf Vollendung meines geistigen Lebens habe. Und das soll heute sein. Du hast viele, viele solcher Gipfeltage erlebt. Ich habe vielleicht nur diesen einen Tag. Und ich habe für dich gearbeitet, habe mich in meiner Jahrmarktsbude abgemüht für diese, unsre, meine Stunde...