Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 302c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


56. Die Brachistochrone editar

Leibniz hatte es seinerzeit richtig vorausgesehen, daß seine Veröffentlichung des Differential-Kalküls eine neue Ära der Mathematik einleiten würde. Und nur seine ethische Entwicklung, die das allgemeine Beste stets höher und höher über den Ehrgeiz des Einzelnen stellte, hatte es ihn leicht und freudig ertragen lassen, daß an allen Ecken und Enden der gelehrten Welt Europas neue Namen ungeheurer Leuchtkraft und Sichtbarkeit auftauchten. Namen, deren Trägern es vergönnt war, aus innerem und äußerem Schicksal ihre volle Kraft der Mathematik weihen zu können, während Leibniz sich vorläufig damit begnügen mußte, neben allem anderen den Erdteil dadurch in Erstaunen zu setzen, daß er einen Folianten nach dem anderen, gefüllt mit aufschlußreichsten Quellen der mittelalterlichen Geschichte, den Zeitgenossen zur Verfügung stellte.
Gleichwohl war er auch in mathematischen Dingen durchaus nicht ganz abseits gestanden; um so weniger, als die neuen Männer mit wenigen Ausnahmen sich zu ihm als ihrem Lehrer bekannten. Und auch ein Nieuwentijd, der scharfsinnig und hartnäckig die Methoden des Unendlichkleinen bekämpfte, trug eigentlich eher zur Verbreitung als zur Verdächtigmachung des neuen Algorithmus bei. Denn es war nicht zu leugnen: die Ergebnisse sprachen für Leibniz und die mächtigsten Gehirne standen in seinem Lager.
In einem wahren Triumphzug stürmten die Brüder Jakob und Johann Bernoulli, vielleicht die scharfsinnigsten Analytiker des Jahrhunderts, von einer Lösung und Entdeckung zur anderen, durchforschten die neuen Methoden an alten und an frisch erfundenen Problemen, gewannen der Kunst des Infinitesimalen stets neue Gesichtswinkel ab, und der treueste aller Schüler Leibnizens, der Marquis de l‘Hospital, setzte endlich den unverrückbaren Meilenstein der Entwicklung in einem strahlend klaren Lehrbuch des neuen Algorithmus, das es jedem halbwegs Begabten und Gutwilligen ermöglichte, die Schauer der Unendlichkeit in der eigenen Seele zu verspüren.
So folgten rasch nacheinander spielerisch leichte Lösungen bisher unlösbarer Aufgaben. Was Galilei nicht vermocht hatte, war zugänglich geworden: die Kettenlinie, die geometrische Gestalt eines an zwei Punkten frei aufgehängten Seiles oder einer Kette, deren Gleichung als Welträtsel galt, wurde ebenso berechenbar wie die Segelkurve, die logarithmische Spirale und die Lemniskate.
Und auch die sogenannte „Florentinische Aufgabe“, eine Glanzleistung des Florentiners Viviani, wurde durch die neue Methode Leibnizens zum Kinderspiel. Viviani, der ja, wie schon erwähnt, der letzte große Könner archimedischer Rechenkünste war, hatte sich allen Ernstes eingebildet, seine Constructio testudinis quadrabilis hemisphaericae, also die Konstruktion einer halbkugeligen quadrierbaren Schildkröte, wie er die Aufgabe bombastisch benannte, werde Leibniz in die größte Verlegenheit bringen. Dies umsomehr, als er selbst viele Tage zur Berechnung gebraucht hatte, nachdem schon die Art der Lösung festgestanden war. Auf dem Rückweg von Venedig nach Hannover hatte Leibniz in sehr feierlicher Form durch den Gesandten Toscanas das sogenannte „Lemma“, was soviel wie Preisaufgabe hieß, in Wien zugemittelt erhalten. Er sah die Zeichnung an, die gleichsam eine architektonische Forderung stellte. Es sollten nämlich aus einer halbkugelförmigen Kuppel durch senkrechte Schnitte an vier Seiten Fenster herausgebrochen werden. Aber nicht beliebig große. Die Schnitte mußten so erfolgen, daß der übrigbleibende Rest der Halbkugelfläche, der „Schildkröte“, der Kuppel, rein und eindeutig ohne jede Irrationalität quadrierbar, also in einer zum Halbkugeldurchmesser rationalen Zahl angebbar war.
Zwei Stunden nach Erhalt des Briefes hatte Leibniz durch einen ungemein klaren und verhältnismäßig leichten Ansatz seiner neuen Rechnungsart das Problem gelöst und damit die unbedingte Überlegenheit seines Kalküls gegenüber der Methode des Archimedes und Galilei bewiesen.
Aber all diese Preisaufgaben, diese „Lemmata“, waren vorerst nur die letzten sichtbaren Ausläufer der Ausbreitung der Infinitesimalgeometrie, die bis hinein in die tändelnden und lachenden Gesellschaften höfischer, frivoler Genußmenschen einen Rausch des Vernunftglaubens trug. Nichts schien mehr dem rechnenden Verstande unzugänglich. Die Urgewalt, mit der sich die Entwicklung der einmal angeregten Neuerung Vollzog, war sicherlich nur der Beginn. Das war so gut Wie allgemeiner Glaube. Wohin aber sollte dieser Erkenntnisrausch noch führen? Die abenteuerlichsten Gerüchte schwirrten durcheinander, insbesondere als noch Jakob Bernoulli die Begründung der Wahrscheinlichkeitsrechnung in das wogende Meer der Begeisterung warf. Die Spitze des Turmbaues von Babel schien getürmt, der Himmel des Allwissens in nächste Nähe gerückt zu sein. Und man raunte sich den Namen des Größten der Größten, des Bahnbrechers, des ebenso bekannten wie geheimnisvollen Leibniz, in die Ohren, um dessen Person sich bereits Legenden zu spinnen begannen.
Nur Sir Isaac Newton schwieg, obgleich auch von ihm manch wunderbare Großtat durch Wallis und durch andre Interpreten durchsickerte.
Kurz nach jenem Zeitpunkt aber, in dem die „Große Gesandtschaft“ des Zaren aller Reußen Europa in eine neue Sensation gestürzt hatte, war im Reiche der Zahlen und der reinen Formen eine neue Umwälzung im Gange. Die Bernoullis, angetrieben durch rätselhaften Bruderhaß, hatten die „gewöhnlichen“ Aufgaben des Infinitesimalen schon weit hinter sich geworfen. Sie waren eben dabei, ohne es ganz klar zu wissen, einen neuen Gipfel der höchsten Mathematik zu bezwingen, der erst viel später unter dem Namen der höheren Variationsrechnung eines der schwierigsten Kapitel der Unendlichkeitsanalysis bilden sollte.
Und so hatte Johann Bernoulli in schneidend kühler Art in der Zeitschrift „Acta Eruditorum“ alle Mathematiker aufgefordert, binnen einer gewissen Frist folgende Frage zu beantworten: Man solle die Bahn eines bloß der Schwerkraft unterworfenen materiellen Punktes angeben, der sich von einem höhergelegenen Ort A zu einem tieferen Ort B bewege. Die beiden Orte müßten in einer senkrechten Ebene liegen. Selbstverständlich nicht vertikal übereinander. Und nun sei die Bahnkurve zu berechnen, innerhalb der dieser gleitende Punkt die kürzeste Zeit zu seinem Weg brauche. Mancher werde lächeln und glauben, diese Bahn sei die Gerade zwischen A und B. Weit gefehlt. Sie sei eine Kurve. Und zwar eine den Mathematikern wohlbekannte. Aber welche?
Fast alle Mathematiker Europas lasen diese Aufforderung. Fast alle setzten sich vor ein Blatt weißen Papiers, zeichneten, grübelten und rechneten. Viele begriffen gar nicht, warum Johann Bernoulli solch ein kinderleichtes Beispiel als „Lemma“ in die Welt gesandt hatte. Nach ganz kurzer Zeit aber starrten fast alle Mathematiker entgeistert auf ihre Berechnungen. Das Problem war unlösbar! Es entglitt jeder Untersuchung, verwickelte sich, zerrann, endete in Kreisläufen hoffnungsloser Ansätze. Und es verbreitete sich schon allenthalben das Gerücht, der zänkische und skurrile Johann Bernoulli, der große Sohn Basels, der jetzt in Gröningen lebte, habe sich einen üblen Scherz erlaubt. Bis plötzlich und allzerschmetternd jenes Fünfgestirn aus der Tiefe dunkelster Nacht des allgemeinen Unvermögens auftauchte und der Welt durch seinen bläulichweißen Erkenntnisschimmer bewies, daß letzte Größe nicht nur eine Aufsummierung von quantitativer, sondern von wesenhafter Überlegenheit ist.
Johann Bernoulli, schon im Besitz aller Schlupfwinkel und Tücken des Geheimnisses, hatte schrill gekichert, als er die zwei Briefe zur Post befördert hatte. „Nun sieh zu, hochmütiges Brüderlein“, hatte er vor sich hingesagt, „ob du auch diesem Lemma gegenüber der große, der erhabene, der allwissende Bernoulli bleiben wirst. Du bist ein Geizhals, mein Brüderchen. Ein großer Geizhals. Und ein Schlauberger. Du wirst das Lemma nicht gelesen haben in den Actis Eruditorum, wenn du es nicht zustandebringst. Man muß dich also darauf hinstoßen und dich ködern. Und ich lasse es mir etwas kosten, daß du dein subtiles Hirn fruchtlos anstrengst. Oh, ich kenne dich, mein Herzlieber! Es ist überflüssig, wenn der große Leibniz zwischen uns beiden vermittelt und unsre Streitfragen entscheidet. Er ist so lächerlich gerecht. Und ärgert uns beide nur noch mehr mit seinen salbungsvollen Beschwichtigungen. Darum müssen wir es untereinander ausfechten. Vor ganz Europa. Was aber? Ich weiß es nicht. Kurz, wir müssen dieses Es ausfechten. Müssen! Schluß! Wir können ebensogut stolz aufeinander sein. Zwei Bernoullis zugleich als zwei der ersten Mathematiker des Erdballs. Wie erhebend! Wie stolz wären der Vater und die Mutter gewesen, wenn sie es erlebt hätten. Gleich zwei Lumina aus demselben Stall. Hihihi! Du wirst Augen machen, mein Bürschchen! Auch für dich wird das ,Lemma‘ eine Zwickmühle sein bei all deinem elend riesigen Verstand. Setz dich nur hin. Wetz nur aufgeregt und schwitzend deinen Hosenboden, wenn dir der Kunstgriff nicht gelingt, den mir ein Gott eingab, ich weiß nicht wie und woher. Ein solcher Kunstgriff wird in einem Jahrhundert nur einmal gefunden. Das lehrt die Geschichte der Mathematik. Und du bekommst, so habe ich dir geschrieben, fünfzig Imperialen, fünfzig Goldfüchse als Preis, wenn du etwas herausbringst. Oh, wirst du schwitzen und wetzen, du gutes, liebes, putziges Brüderlein! Und man wird endlich wissen, welcher der beiden Bernoullis der richtige Mathematiker ist. So, und nun plagt euch, du und alle anderen. Es ist ja nichts als die ganz gewöhnliche Cykloide, deren Gleichung ihr herausrechnen sollt. Die Rollkurve, also eine den Mathematikern wirklich ,wohlbekannte“ Kurve. Aber wer wird an die Cykloide denken, wenn ich es nicht sage? Wer? Niemand! Oh, wie freue ich mich, daß du grün werden wirst vor Wut, mein süßes Brüderlein!“
Im dunkelgetäfelten satten Patrizierhaus in Basel saß „das Brüderlein“, jakob Bernoulli, eben beim Vesperbrot, als man ihm den Brief aus Gröningen brachte. „Was will er schon wieder, der Nörgler?“ murrte Jakob und warf den Brief uneröffnet hin. Es ließ ihm jedoch trotzdem keine Ruhe. Und er schlich den Rest des Tages um den Brief herum wie ein gieriges Kätzchen um ein Vogelbauer. Endlich, um neun Uhr abends, hielt er es nicht mehr aus. Er riß das Schreiben wütend auf und glättete es mit Faustschlägen auf dem Tisch, daß alle Hausgenossen erschreckt auseinanderstoben. „Ah, das feine Bürschchen will mir den Puls fühlen? Ist das eine Frechheit! Mir, dem Lehrer, der diesem Rotzlöffel das kleine Einmaleins mühsam beibrachte? Und einen Preis von fünfzig Imperialen hat er mir von einem ,Gönner‘ auch noch erwirkt, wenn ich ,wider Erwarten‘ die Aufgabe lösen sollte. Wider Erwarten! Oh, du Abgrund von Hochmut und Niedertracht! Es war so recht wider Erwarten, daß aus dir nicht ein Landstreicher geworden ist, du liederlicher Springinsfeld. Ich brauche schon deine Gönner! Die Armen sollen deine fünfzig Imperialen erhalten, damit du über der dir unverständlichen Großmut und Freigebigkeit des Bruders ohnehin nicht allzu großen Verstand verlierst. Ich will mich aber jetzt nicht ärgern. Die Magd soll mir einen Krug Bier bringen, und dein ,Lemma“, das nicht schlauer sein kann als du selbst es bist, wird bald gelöst werden. Und dann werde ich mir deine ,Lösung“ angucken und einen roten Stift bereithalten, um dir die Rechenfehler anzuzeichnen. Du hochmütiger Schafskopf du, der nicht einmal die einfachste Integration verstande, wenn ich sie dir nicht mühsam beigebracht hätte . . .“
Um zwölf Uhr nachts wußte Jakob Bernoulli, daß sich der Punkt unter dem Einfluß der Schwerkraft in einer Rollkurve vom Orte A in den Ort B bewegen mußte. Die Gleichung
 , die nichts andres war als die Auswertung des Integrals
 
hatte es ihm gesagt. Und er war auf Grund einer geradezu klassischen Gedankenführung zu diesem Ergebnis gelangt. Ganz zu schweigen von den erleuchteten Kunstgriffen, die er, im Gegensatz zur Ansicht seines Bruders, ohne Mühe zum zweitenmal im gleichen Jahrhundert gefunden hatte. Wenn, so hatte er überlegt, die ganze Kurve die kürzeste zeitliche Verbindung zwischen A und B sein soll, dann muß auch jedes kleinste Kurvenstück, jedes Differential ds, in kürzerer Zeit durchlaufen werden als irgend ein andres mögliches ds. Und weiters braucht man alles nur mit den Forschungen des großen Huygens über die Lichtbrechung und mit den Gravitationsformeln eines Newton zu verbinden und die Angelegenheit wird eigentlich recht einfach.
Nicht so einfach ist deine Gehässigkeit, mein Brüderlein. Darum will ich einen Vorschlag machen. Leibniz ist unzweifelhaft der Bahnbrecher unsres Rechnungsverfahrens. Da gibt es nichts zu deuteln. Wir werden also alle, die etwa eine Lösung dieses ,Beispieles für Anfänger“ finden sollten, unsre Lösungen an Leibniz senden und er soll sie gesammelt in den Actis Eruditorum veröffentlichen. Natürlich erst, wenn er selbst uns anderen seine Lösung mitteilt. Ich denke, er wird dieses Kunststückchen schaffen. Und du, Brüderlein, bekommst jetzt die Antwort, die dir gebührt. Ich teile dir einfach mit, daß ich dein „Lemma“ gelöst habe. Wenn Leibniz aber entscheidet, meine Lösung sei richtig, dann kann dein großer Gönner, der wahrscheinlich niemand anderer ist als du selbst, mit seinen fünfzig Imperialen herausrücken. Wenn der Herr aber Ausflüchte suchen sollte, um der Aushändigung des Preises zu entgehen, dann wird der Fluch auf ihm lasten, die Armen geprellt zu haben. So, und nun werde ich dir, mein Brüderlein, auch ein Problem stellen. Diesmal wird der Lehrer den Schüler prüfen, wie es in der Ordnung ist. Deine Kurve, deine lächerliche Cykloide, soll in dieser Beleuchtung die Kürzest-Zeitige, die Brachisto-Chrone heißen. Meine Aufgabe wird aber in der Geschichte der Mathematik den stolzen Namen des isoperimetrischen Problems tragen. Und nun leb wohl, holdes Bruderherz!
Leibniz erfuhr von all dem Wirrwarr, das Johann Bernoulli mit seinem Lemma angerichtet hatte, durch einen Brief Professor Menkes aus Leipzig. Er erhielt den Brief, als er eben in den Wagen stieg, der ihn nach Wolfenbüttel bringen sollte. Er mußte sich erst aus den Gedanken loslösen, die sich eben mit der Begegnung in Koppenbrügge, mit Peter dem Großen befaßt hatten, den er als Naryschkin noch rätselhafter fand denn als Hauptfigur aller anderen Anekdoten. Deshalb brauchte er einige Zeit, um in die Mathematik , die ihn halbbewußt ja fast stets begleitete, zurückzusinken.
Und es war das Merkwürdige, daß er Johann Bernoullis Lemma kaum als wirkliches Problem empfand. Er zeichnete und rechnete, während der Wagen ratterte, ruhig und genießerisch im Kopfe, und als er nach einigen Stunden in einem Gasthof abstieg, um zu speisen, warf er eine Lösung in flüchtigen Umrissen auf einen Zettel hin, die beinahe genau dieselbe Linienführung aufwies wie die ihm natürlich noch unbekannte Lösung Jakob Bernoullis. Daß die Kurve eine Cykloide sein mußte, war ihm ohne jeden Anhaltspunkt klar gewesen, bevor er im Wagen seine Berechnungen begonnen hatte. Und er nannte die Linie kürzesten Falles bei sich die „Tachystoptota“.
Kurz, der unwahrscheinliche Kunstgriff war im gleichen Jahrhundert das dritte Mal geglückt.
Nicht viel anders geschah es Newton. Er kam äußerst ermüdet von der königlichen Münze nach Hause, die er mit Aufgebot seines ganzen Scharfsinns leitete, da er, ein ansonst verworrener Politiker, in diesem Punkt jedoch der richtigen Ansicht war, Englands Größe hänge mit seinem Reichtum zusammen. Seine Wirtschafterin, die bemerkte, daß er noch stehend, ohne den Hut abzunehmen, einen Brief las, fürchtete, er werde sich hernach wieder häuslich betätigen. Das war ihr ein Schrecknis. Denn erst vor einer Woche hatte sie ihn gefunden, wie er seine Taschenuhr im heißen Wasser gesotten und dabei auf das kalte Ei in seiner Hand geblickt hatte, um die richtige Sekunde nicht zu Versäumen, bei deren Eintritt die gesottenen Eier am schmackhaftesten ausfielen.
Aber es geschah nichts Bedrohliches. Er legte zwar den Hut nicht ab, setzte sich jedoch äußerst gemächlich zum Tisch und murmelte etwas von Fluxionen und Fluenten. Dann wiederholte er unablässig die Buchstaben t und g. Und schließlich, nach kaum einer Stunde, erwiderte er der Haushälterin auf ihre Frage, ob sie endlich das Mahl auftragen solle, mit einer eindeutigen, gleichwohl aber nicht zweckdienlichen Antwort. „Diese Kurve ist eine Cykloide. Das muß jedes Kind begreifen“, sagte er apodiktisch. Und als ihm die Haushälterin deutlicher vorhielt, daß es höchste Zeit zum Essen sei, wurde er zornig und fauchte, sie möge den Gegenbeweis führen, wenn sie etwa andrer Ansicht sei.
Die Dämonen der Mathematik aber kicherten. Denn der gewisse, beinahe unmögliche Kunstgriff war, allerdings auf andrem Wege, zum viertenmal im gleichen Jahrhundert geglückt.
Und er sollte auch zum fünftenmal gelingen. Diesmal in weit andrer Umgebung und Stimmung.
In einem der Lustschlösser, die Paris umgaben, hatte zwischen weichen Wogen von Parfüm, zwischen raschelnden Seiden, zwischen girrenden Liebeslauten der Marquis von Hospital sich endlich an seiner schlanken Partnerin sattgekost. Die beiden saßen verträumt und aneinandergelehnt vor gestutzten Baumfronten auf einer Marmorbank. Grelles Mondlicht erzeugte fast Tageshelle.
Da erinnerte sich Hospital, daß er vor dem Feste, dessen Ausläufer er jetzt genoß, von Johann Bernoulli einen Brief und ein Heft der Acta Eruditorum erhalten hatte. Ohne die Mitteilungen näher zu besehen, hatte er das bezeichnete Blatt aus der Zeitschrift geschnitten und mit dem Brief zu sich gesteckt. Er zog beides jetzt äußerst vorsichtig aus der Brusttasche, um die kleine Gräfin, die anscheinend schlummerte, nicht zu wecken. Und es tat nichts, daß sie in Wirklichkeit nicht schlief, sondern seine Bewegungen aus halbgeschlossenen Augen beobachtete, während um ihren Mund zuckende und doch noch begehrliche Sättigung lag.
Zuerst war Eifersucht wie ein brennender Stich in ihr aufgeschossen, als sie den Brief wahrnahm. Als aber im Mondlicht mathematische Zeichnungen, Formeln und ein gedrucktes Blatt mit ebenso krausen Hieroglyphen offenbar wurden, überkam es sie wie ein wohliger Schauer von Geborgenheit. „Ich habe ihn nicht herabgezogen, ich habe ihn gestärkt“, summte es in ihrem Köpfchen. „Ich bin stolz auf ihn, bin stolz auf mich, daß er mich überhaupt beachtet. Er ist einer der Größten, sagen sie alle. Einer der Erleuchteten. Nicht bloß ein Edelmann. Oh, er ist auch ein Edelmann. Niemand kann sich mit ihm vergleichen. Gott, ich danke dir, daß ich ihn lieben darf I Ich bin so glücklich. Er soll mich als Pult benützen, der Herrliche. Mehr bin ich nicht wert. Vielleicht nicht einmal so viel.“ Und sie lispelte:
„Leg die Blätter auf meine Schulter, mein holder Marquis. Ich will das Bewußtsein haben, dir auch bei der Arbeit zu helfen.“
Hospital lachte leise auf. Dabei aber kamen ihm die Tränen in die Augen. Und er preßte sie an sich und küßte sie so wild, daß sie einen erschrockenen Wehlaut ausstieß. Dann aber, als wieder eine Welle zartesten Duftes von ihren bloßen Schultern strömte und seine Sinne traf, erkannte er plötzlich, daß er es ihr schuldig sei, ihren Wunsch zu erfüllen. Und er legte seine Hand, die den Brief hielt, auf ihre glatte Schulter, als ob er wirklich ihren Leib als Pult benützte. Und sie drängte sich an ihn heran, und nur ein leises Beben unter seiner Hand verriet ihm, daß sein Pult lebte.
Von diesem „Pult“ aber ging ein merkwürdiger Kraftstrom aus, der Strom unbedingter Bejahung, der imstande ist, unterste Kräfte eines Kämpfers freizumachen. Und unbeschwert, ohne leiseste Gedanken an irgend ein Anderswo, ganz geborgen und in sich ruhend, arbeitete in der nächsten Stunde das wunderbar kühle und doch leidenschaftliche Hirn De l'Hospitals, verband das Problem Bernoullis in eigentümlicher Art mit der Kettenlinie und wendete es so lange nach allen Seiten, bis wieder ein neuer Kunstgriff es in leuchtender Klarheit als gelöst bloßlegte.
Und er küßte die halbgeöffneten verlangenden Lippen seiner mystischen Helferin und sagte geheimnisvoll: „Die Kurve muß eine Cykloide sein, mein gutes, gutes Mädchen.“
Sie aber war restlos glücklich.
In London jedoch verfolgte Herr Fatio de Duillier, ein sehr begabter junger Mathematiker, die Ereignisse, die sich von allen Seiten um die Lehre des Unendlichkleinen zusammenbrauten. Fatio stammte auch aus Basel wie die Bernoullis. Er war aber schon in zarter Jugend nach Genf gekommen, hatte dann in Paris und England studiert und wurde, innerlich voll von Ehrgeiz und Zerrissenheit, schließlich ein fanatischerer Engländer als alle anderen, die wirklich auf der grünen Insel geboren waren. So kam es, daß außer Newton für ihn kein Gott in der Mathematik lebte und daß er die Leistungen des Kontinents mit Haß und Mißtrauen beobachtete. Zudem noch warf ihn außer seinem Ehrgeiz eine religiöse Überreiztheit von einer Ekstase in die andre, und sein Arzt sah diese Entwicklung .mit wachsender Sorge , da er in all der Schwärmerei für die Propheten weniger eine echte Frömmigkeit als beginnenden Wahnsinn erblickte. Er hütete sich jedoch, solchen Verdacht auszusprechen, um Fatio nicht vor der Zeit ins Verderben zu reißen.
Dieser junge Mathematiker nun hatte zudem noch die Eigenheit, ähnlich wie Graf Tschirnhaus, Grenzfälle und Ahnungen für Entdeckungen zu halten und sich über Widerlegungen ungeheuer zu erbosen. Dabei wollte es ein verworrenes Schicksal, daß gerade er dazu ausersehen war, einen Fehler Tschirnhausens anzuprangern.
Kurz, Fatio hatte die Problemstellung der Brachistochrone. übersehen. Das Unheil spielte ihm aber das Heft der Acta Eruditorum mit der Veröffentlichung der Lösungen in die Hand, die das große Fünfgestirn Leibniz, Newton, Hospital und die beiden Bernoullis geliefert hatten. Es wäre für ihn schon genug Kränkung gewesen, daß er versäumt hatte, sich an diesem Ereignis der Mathematik zu beteiligen. Um so mehr, als er überzeugt war, er hätte sicher eine Lösung gefunden. Fast um den Verstand jedoch brachte ihn die kalte und eindeutige Randbemerkung Leibnizens, der zu den Lösungen hinzugefügt hatte, das Problem der Brachistochrone sei so recht geeignet gewesen, die Vorzüge seiner, Leibnizens, Differentialrechnung erkennen zu lassen. Denn außer den Rechnern, die: sich wie die Bernoullis, Hospital und er selbst der neuen Methode bedient hätten, gäbe es nur ganz wenige Mathematiker, die auf andren Wegen dem Problem gewachsen seien. Vor allem Newton, der dieses Vertrauen bewiesen habe. Sonst aber würden wohl nur noch Huygens und Hudde in Amsterdam Lösungen gefunden haben. Huygens, wenn er noch lebte, Hudde, wenn er von solchen Untersuchungen sich nicht längst zurückgezogen hätte.
Also er, Fatio, der große, begabte Fatio, wäre diesem Problem nicht gewachsen gewesen?! Hüte dich, Leibniz! Hüte dich. Diese Bosheit wirst du teuer bezahlen. Sie ist nicht Unkenntnis, ist nicht Nachlässigkeit von dir, diese Aufzählung. Sie ist bewußte Bosheit! Denn du kennst mich genau, Leibniz. Weißt von meinen Arbeiten, von meinen Erfolgen. Was aber hat ein Mensch zu tun, dem ein andrer einfach die Existenz abspricht? Es ist klar, was er zu tun hat: zu prüfen, ob der andre, der Angreifer, selbst ein Recht auf Existenz hat. Und darum wird man dich im Zentrum deiner Prahlerei packen. Schon lange ist uns Engländern deine Differentialrechnung verdächtig. Gutmütigkeit und eine gewisse Scheu haben es bisher verhindert, daß man da hineinleuchtet. Wir leugnen nicht, daß die Differentialrechnung erfolgreich ist. Wir werden nur leugnen, daß du, Leibniz, ihr erster Entdecker bist. Und meine Lebensaufgabe soll es sein, dich als Dieb zu entlarven. England und die Welt werden es mir danken. Omen accipio. Ich folge dem Schicksal, das dadurch ins Rollen kam, daß du mich in der unverständlichen Selbstsicherheit schlauesten Betruges und schlechtesten Gewissens gleichwohl frech herausfordertest. Wenn ich auch nach deiner Ansicht kein großer Mathematiker bin, bin ich nach meiner Ansicht Mathematiker genug, um deinen Diebstahl aufzudecken und zu beweisen. An diese deine Randglosse sollst du denken, Leibniz! Jetzt geht es auf Leben und Tod . . . Und Fatio rannte wie ein Irrer durch die nebelfeuchten Straßen Londons, stöberte in Bibliotheken und in den Akten der königlichen Sozietät der Wissenschaften und lief von einem Gelehrten zum anderen, bis er schließlich Zutritt zu Newton erlangte.
Von diesem Tage aber datiert das häßliche Kapitel in der Geschichte neuerer Wissenschaft.


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