Diferencia entre revisiones de «Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 051c»

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MC9
:'''DIE ENTSTEHUNG DER DEUTSCHEN WIKIPEDIA'''
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:Von Nupedia zu Wikipedia: Wie alles anfing ...
:VON BENUTZER:STEFANRYBO
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:Vorspiel
:Vielleicht beginnt die Geschichte schon in meiner Kindheit. Ich stamme aus einfachen Verhältnissen, und das ist manchmal nicht so einfach.
:Einer meiner Tagebucheinträge als 14-Jähriger lautete: »Warum gibt jemand, der eine Zeitung gelesen hat, diese nicht an jemand anders weiter?« Angeregt durch Hinweise der Lehrer habe ich unter anderem die damals vollständig kostenfreie Stadtbibliothek entdeckt.
:Deren Existenz hat mich immer beeindruckt, und dies ist bis heute so. Hier steht mir Wissen in schier unendlicher Menge zur Verfügung. Gemessen an dem Wert (allein dem Buchwert), werden Bibliotheken viel zu wenig benutzt. Für mich waren sie immer eine Möglichkeit, mich frei an Wissen zu bedienen und meine Neugier zu befriedigen.
:Interesse an Gemeinschaftsprojekten habe ich schon immer gehabt, aber damit auch negative Erfahrungen gemacht. Etwa bei der Gründung eines allgemeinen Netzwerks für alternative Gruppen und Vereine. Statt praktischer Kooperation ergaben sich abendfüllende Debatten um ungelegte Eier, die Geschäftsordnung und das, was man sowieso nicht wissen kann. Menschen haben aus meiner Sicht überhaupt große Schwierigkeiten, zusammenzuarbeiten. Dabei treten die typischen Probleme auf wie Profilierungsdrang Einzelner oder Hickhack um Fundamentales und Reales.
:Studium und auch Selbststudium haben neben dem Wissen über die Welt an sich auch meine Berufschancen verbessert, und nach ersten Studentenjobs arbeitete ich dann für die Forschungsabteilung eines multinationalen Konzerns.
 
 
MC10
:Vokabeln:
 
 
== MC11 - MC 20 ==
 
MC11
:Zeitlich weit vor der Entstehung des Internets war ich betraut mit Themen wie Abfragen von schon damals in großer Zahl vorhandenen Datenbanken (medizinische Literatur, Patente, Wissensdatenbanken usw.) und habe festgestellt, dass hier eine Unmenge von elektronisch erfasstem Wissen vorliegt, das kaum jemandem zugutekommt. Ebenfalls vor dem Internet gab es das bemerkenswerte FidoNet und später dann das Usenet, wo die sogenannten FAQ (häufig gestellte Fragen) zu bestimmten Themen zusammengestellt wurden - für mich ein weiterer Beweis für das unglaubliche Potenzial der Verbreitung und Vermittlung Freien Wissens.
:Parallel entwickelte sich die Technik weiter, und Bill Gates hat - wie er sagte - das Medium CD-ROM durch Publikation von entsprechenden Titeln zur »kritischen Masse« gebracht. Unter anderem auch mit »MS Encarta«. Ich habe diese Entwicklung intensiv verfolgt und bereits früh andere elektronische Enzyklopädien erworben (Comptons, Bertelsmann, Encarta, Projekt Gutenberg CD, Corel Bookshop). Dennoch wollte im Rahmen der neuen häuslichen Computertechnik und trotz des beginnenden Internets keine richtige Entwicklung in Gang kommen. ASCII war zu schmucklos und HTML für mich noch immer zu kompliziert.
:In der c't wurde auf ein amerikanisches Projekt hingewiesen: Nupedia war gegründet worden. Ich habe mich damit vertraut gemacht und war fasziniert. Das Verfahren zur Teilnahme
schien aber äußerst aufwändig zu sein, und ich musste mich sozusagen erst auf meine Qualifikation durchleuchten lassen, um anschließend Beiträge erstellen zu dürfen. Diese Beiträge mussten dann einen komplizierten redaktionellen Prozess durchlaufen - insgesamt konnte ich mich nicht so recht damit anfreunden ... Allerdings dann:
 
 
MC12
:Vokabeln:
 
 
MC13
:'''... und ein Wiki betrat das Tageslicht!'''
:Jimmy Wales und Larry Sanger starteten parallel zur Nupedia das Wikipedia-Projekt. Auch hier habe ich mal reingeschaut und fand die Idee und Tatsache einfach unglaublich, dass auf meinem Bildschirm ein Bearbeitungsfeld erscheint, in das ich einfach Text eingeben kann, und der steht dann auch noch sofort online. Frei, direkt und technisch relativ einfach. Dies war sehr aufregend und absolut radikal. Die Syntax fand ich anfangs umständlich, aber dann habe ich mich schnell daran gewöhnt und das Konzept für gut befunden.
:Aus dieser Phase ist mir Larry Sanger ganz herzlich in Erinnerung geblieben, der praktisch jeden Neuzugang einzeln begrüßte und das Geschehen liebevoll, aufmerksam und jederzeit hilfreich begleitete. Dies empfand ich als sehr angenehm und habe deshalb versucht, es ähnlich in der deutschsprachigen Wikipedia zu praktizieren.
:Besonders spannend war die Erfahrung der »Recent Changes« - eine Liste der laufenden Änderungen, die man unmittelbar am Bildschirm verfolgen konnte. In einer Gefühlsmischung aus Gemeinschaftsgeist, Happening und voyeuristischem Monitoring wurden die »Recent Changes« zu meiner Lieblingsseite. Wenn ich nicht gerade Artikel schrieb, hatte ich diese Seite ständig auf meinem Bildschirm vor Augen - so wie andere Menschen ein Pferderennen oder Börsenwerte betrachten.
:An dieser Stelle sei gesagt, dass die Mitarbeit bei Wikipedia eine fundamentale Gemeinschaftserfahrung war (und immer noch ist), wie sie wohl Menschen in Kommunen oder in Hilfsorganisationen machen. In einer Einheit kommen zusammen: Arbeitsfreude, persönliche Freiheit innerhalb der Gruppe, Freude am unmittelbaren Gelingen und das Wissen, dass sie allen Menschen nützt.
:Ich habe im englischen Bereich nur wenige Beiträge verfasst oder Artikel bearbeitet. Stärker brachte ich mich in die Basiskommunikation ein. So wirkte ich wesentlich am Konzept zur Lösung des Mehrdeutigkeitsproblems der Titel mit - zum Beispiel Madonna (Religion) bzw. Madonna (Popmusik) -, das bis heute verwendet wird. Nachdem ich versucht hatte, einen Beitrag über Niklas Luhmann auf Englisch zu verfassen, und dabei kaum vorangekommen war, entschloss ich mich, praktisch ausschließlich an der deutschsprachigen Wikipedia mitzuarbeiten, die Wales und Sanger inzwischen zusammen mit weiteren Sprachversionen aufgelegt hatten.
 
 
MC14
:Vokabeln:
 
 
 
MC15
:'''Ein Universum leerer Seiten: »Sei mutig!«'''
:Man muss sich das wirklich so vorstellen, dass man damals immer nur vor leeren Seiten und Bearbeitungsfenstern saß. Diese galt es zu füllen. Zu diesem Zeitpunkt gab es praktisch nichts. Und im Hinblick auf die nur abstrakte, mehrdeutige Vorstellung oder Vision von »Wir machen eine Freie Enzyklopädie ...!« waren wir damals wohl tatsächlich Pioniere - ohne Vorlage oder Orientierungshilfe. :Ich habe daher ein wenig »strategisch« versucht, für jeweils ganz verschiedene Bereiche Beispielartikel zu verfassen. Dies sollte anderen Besuchern einen Vorgeschmack dessen liefern, was hier möglich ist. Daher schrieb ich Artikel über so vielfältige Themen wie einen Film, einen Regisseur, etwas Naturwissenschaftliches usw. Auch mit Blick auf mögliche Angriffspunkte versuchte ich, frühzeitig möglichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Deshalb verfasste ich den aus meiner Sicht für damalige Verhältnisse sehr strengen Copyright-Hinweis, den Hinweis auf Themen aus dem Gesundheitsbereich und den Hinweis für Rechtsthemen.
:Neben meinen eigenen Themen (Systemtechnik, Datenkompression und Programmiersprachen) habe ich mich dann vorzugsweise auf Anleitungen konzentriert. Dabei durchlief ich wie wohl jeder engagierte Mitarbeiter bestimmte Phasen und Gefühle, wie Freude am Schreiben, Erstaunen über positive Verbesserungen, Auseinandersetzungen mit Artikel-Platzhirschen, Ärger über Verschlimmbesserungen oder auch das Zulassen von massiven Überarbeitungen durch andere.
:Da sich das Projekt insgesamt so unglaublich positiv entwickelte, habe ich in dieser Hinsicht mittlerweile eine absolut gelassene Haltung entwickelt. Dass ich einen fundierten Fachartikel zu praktisch jedem Thema habe, wie ich ihn sonst nur in einem teuren Fachbuch finde, wiegt weit mehr als die Tatsache, dass sich Leute über einzelne Sätze darin streiten.
 
 
 
 
MC16
:Vokabeln:
 
 
 
MC17
:'''Und langsam füllte sich die Welt mit Freiem Wissen ...'''
:Ich habe dann später aus privaten Gründen nicht mehr am Projekt mitarbeiten können und lediglich mit großem zeitlichem Abstand immer mal reingeschaut. Und was ich sah, hat mir jeweils gutgetan. Denn mit wenigen Ausnahmen wurde Wikipedia in einer von mir niemals erahnten Weise ausgebaut, vervollständigt und verbessert.
:Ich benutze Wikipedia praktisch jeden Tag, und zwar sowohl bei Fragen im Rahmen meiner professionellen Aufgaben als auch für Weiterbildung oder einfach nur zum Stöbern. Es ist jedes Mal eine Freude und Überraschung, auf welch hohem Niveau und in welchem Umfang die Themen auf Wikipedia bearbeitet sind. Sowohl was die Artikel angeht als auch das ganze Drumherum.
:Wikipedia kann aber ganz verschiedene Funktionen erfüllen:
:• ''als Nachschlagewerk'': Denn sie beschreibt Fachbegriffe so, wie sie auch in einem Fachbuch stehen würden. Meine Bücherwand mit Fachbüchern ist weitgehend nicht mehr notwendig ...
:• ''als Web-Verzeichnis'': Denn ich habe festgestellt, dass Wikipedia meistens sinnvolle Links angibt. In Google habe ich zwar volle Textsuche und eine Menge Links, aber davon besteht das erste Dutzend aus minderwertigen Inhalten. Wikipedia führt mich meistens zu guten Quellen.
:• ''als Arbeitsorientierung und Problemlösung'': Dies ist mir am klarsten bei meiner Arbeit für ein Gesundheitsportal geworden. Für Fragen zu Gestaltung und Werbung bekamen wir per Wikipedia soziologische und werbefachliche Begriffe erklärt und konnten daraus für das eigene Projekt professionelle Herangehensweisen ableiten.
:• ''als Katalog'': Es ist bereits mehrfach vorgekommen, dass ich bestimmte Produkte aus dem Open-Source-Bereich in den mittlerweile auf Wikipedia enthaltenen Produktlisten gefunden habe.
:• ''als Informationsmedium'': Inzwischen werden tagesaktuelle Ereignisse sofort auf Wikipedia berücksichtigt oder zumindest auf Wikinews durch die entsprechenden Artikel erschlossen. Und oft enthalten diese aufgrund der für Wikipedia typischen Neutralität mehr Informationen als klassisch publizierte Artikel.
:• ''als Buch zum Stöbern'': Ich lese, so wie ich das auch in der Bibliothek getan habe, immer mal über Themen, die mir unbekannt sind - einfach so!
• ''als Medienkatalog'': Wikipedia bietet über die reine Enzyklopädie hinaus auch die freie Mediensammlung »Wikimedia Commons«. Diese benutze ich sowohl beruflich als auch privat.
 
 
 
 
MC18
:Vokabeln:
 
 
 
MC19
:'''Kein Licht ohne Schatten ...'''
:Da das Gesamtprojekt so erfolgreich ist, bin ich weitgehend gelassen, was mögliche Fehler angeht. Dennoch sollten einige Dinge nicht unerwähnt bleiben:
:• ''Die Qualitätsbausteine'': Dies sind Bearbeitervermerke auf den Artikelseiten »für Endverbraucher«. In welchem System der Welt werden aber interne Diskussionen mit in das Produkt eingeflochten? In welcher Zeitung stehen rote Korrekturhinweise der Art: »Stimmt das immer noch?« oder »Beschaffen Sie noch die Quelle!« Und genau dafür wurde bereits zu Beginn der Wikipedia die Diskussionsseite geschaffen, wo genau diese Fragen bearbeitet werden. Wikipedia hat damit bereits ein geniales System, welches den internen Bearbeitungsprozess öffentlich nachvollziehbar macht.
:• ''Reproduktionshaltung oder Produktionshaltung und die Relevanzdiskussion'': Hiermit meine ich eine aus meiner Sicht feststellbare Neigung zur Übernahme des Etablierten in Bezug auf Inhalte und formale Darstellung. Dazu gehören der übermäßige Einsatz von Quellen, ein zu wissenschaftlicher Schreibstil mit hoher Fremdwortdichte und zu enge Relevanzkriterien. Für mich gilt hingegen: Wir sind alle Laien auf (fast) allen Gebieten. Der Dienst besteht in der Befriedigung der Nachfrage nach Wissen. Und daher steht für mich »Kundenfreundlichkeit« im Mittelpunkt. Wikipedia ist keine Plattform zur Ansammlung möglichst vieler Fremdwörter, Zitate und/oder zur Imitation einer Fachpublikation. Relevant ist für mich das, was viele wissen wollen.
 
 
 
 
MC20
:Vokabeln:
 
 
 
== MC21 - MC 30 ==
 
 
MC21
:Wikipedia ist bereits heute weitgehend optimal. Sie hat all das einfach nicht nötig. Auf jeden Fall in dem Sinne, dass sie bereits mindestens die Qualität erreicht wie die gestandenen Verlage. Sie bietet darüber hinaus Mitarbeit und Transparenz an. Jeder kann Wikipedia verbessern. Per Bearbeitung, per Diskussion, per Meta (siehe Glossar, Seite 327-332). Gilt das aber auch umgekehrt für Inhalte anerkannter Organe? Darf ich in diesen Produkten auch Löschdrohungen anbringen oder ständige Quellenzweifel?
:''Die zunehmende Verregelung und Sanktionierung'': Wikipedia hat als Gemeinschaftsexperiment begonnen. Mit den einfachsten Mitteln und dem Willen, einen Dienst für alle zu erbringen. Daraus ist ein Projekt geworden, an dem sehr viele Menschen mitarbeiten und dessen Leistung und Nutzen anerkannt sind. Inzwischen ist durch die Größe eine eigene Administration entstanden, und nach außen ist die Wikipedia schon fast eine Institution. Jedes noch so gute System läuft Gefahr, so komplex zu werden, dass die Basis und die Kontrollorgane sich zu weit voneinander entfernen. Und damit sind auch die geschaffenen Werte gefährdet.
 
 
 
 
 
 
MC22
:Vokabeln:
 
 
 
MC23
:'''Resümee''
:Wikipedia ist ein außerordentliches Projekt. Man kann an ihr eigentlich nichts mehr verbessern, so gut hat sie sich entwickelt. Es ist eher wichtig, dass das Erreichte erhalten bleibt. Neben dem persönlichen Nutzen, den wir aus ihr ziehen können, hat Wikipedia auch einen gesellschaftlichen Nutzen: Sie zeigt auf, zu welchen Leistungen eine Gemeinschaft von Menschen fähig ist, wenn sie einfachen Regeln folgt und Werte wie direkte Demokratie, Vertrauen, Gemeinbesitzschutz, Transparenz und öffentliche Kontrolle praktiziert.
:Innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren sind Millionen von Texten erstellt worden, die geprüften Nutzen bieten. Durch Tausende Freiwillige und wenige Festangestellte. Es ist eines der wenigen Projekte, die neue Technologien zur Demokratisierung verwenden und zugleich Gemeinbesitz am Geschaffenen sicherstellen. Dies ist wirklich einzigartig, wenn man beachtet, welche Anstrengungen Teile der Industrie per Urheberrecht, Patenten und Lobbyismus unternehmen, um das eigene geistige Eigentum vor Gemeinfreiheit zu schützen. Leider sind wir es oft selbst, die es durch unser Desinteresse, durch mangelndes Wissen oder mangelnden Mut zulassen. Wikipedia wirkt diesem Trend entgegen und steht dabei eindeutig in der besten menschlichen Tradition: Sie ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg hin zur digitalen Aufklärung!
 
 
 
 
MC24
:Vokabeln:
 
 
 
MC25
:'''Odyssee ins Jahr 2001:'''
:'''Die Anfänge der deutschen Wikipedia'''
:VON KURT JANSSON
:Ein »Wiki-basiertes Spaßprojekt«, was sollte das sein? Das fragte ich mich im Sommer 2001, als ich mich auf den Seiten von Nupedia umsah. Ich schrieb mich in die Mailingliste des Projekts ein, um fortan das Geschehen zu verfolgen, und diskutierte mit den Aktiven.
:Nupedia war gewissermaßen der Vorläufer von Wikipedia oder der Gegenentwurf, je nach Sichtweise. Es war wie Wikipedia ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie, doch die Arbeitsabläufe orientierten sich an jenen eines klassischen gedruckten Werkes. Wieder und wieder mussten Texte Korrekturund Kontrollzyklen durchlaufen, bis nach vielen Monaten, vielen E-Mails und manchmal auch viel Frustration bei den Beteiligten ein hoffentlich perfekter Artikel das Licht der Welt erblickte.
:Der Prozess war am Reißbrett entworfen worden, sauber und in sich schlüssig. Mit ihm hätte man Tausende, vielleicht Zehntausende Artikel produzieren können. Doch nach drei Jahren waren es gerade mal 24, trotz einiger wohlwollender Presseberichte und vieler Fachleute, die als Autoren gewonnen werden konnten. Das Problem: Die Arbeit an Nupedia machte keinen Spaß. Die endlosen Korrekturläufe machten das Projekt behäbig, es dauerte zu lange, bis man die Früchte seiner Arbeit tatsächlich sehen konnte.
 
 
 
 
MC26
:Vokabeln:
 
 
 
MC27
:'''»Die Nordsee ist ein Teil des Atlantiks ...«'''
:So, und was hatte es nun mit diesem neuen »Spaßprojekt« auf sich, das auf Nupedia angekündigt wurde? Neugierig klickte ich auf den Link. Ich war 24, hatte mich als Jugendlicher in der Mailbox-Szene herumgetrieben und war später fasziniert von der Freie-Software-Bewegung. Damals war ich wohl, soziologisch betrachtet, ein ziemlich typischer Wikipedianer, auch wenn mir das noch nicht so klar war. :Wikipedia war ganz anders als Nupedia, auch wenn man das damals nicht auf den ersten Blick sehen konnte. Die Benutzeroberfläche wirkte auch für das Jahr 2001 äußerst schlicht. Artikel gab es nur wenige, aber immerhin waren ein paar darunter, die interessant klangen. Ein Benutzer namens SoniC hatte etwas zur Frühgeschichte des Hollywood-Kinos geschrieben. Stefan Rybo schien von der Systemtheorie Niklas Luhmanns angetan und hatte Artikel zu ihr verfasst. Und dann gab es eine Reihe von Artikeln, die nur aus einem Satz bestanden - oder nur aus Links zu anderen, meist noch zu schreibenden Artikeln. »Die Nordsee ist Teil des Atlantiks und somit ein Meer. Sie liegt zwischen Grossbritannien, Skandinavien, und Friesland.« Loriot wurde beschrieben als »Berühmter komischer Kommunikationskünstler. Seine bekanntesten Sketche sind: das schiefe Bild, die Weihnachtssendung, das Jodeldiplom.« Nicht gerade erschöpfend auch die Filmographie von Martin Scorsese: »Taxi Driver«.
:Auf meiner Webseite vermittelt eine vollständige Kopie der deutschen Wikipedia vom August 2001 einen Eindruck vom Projektstand. Das Logo ist das Nupedia-Logo von Björn Smestadim (Wikipedia erhielt erst im Dezember 2001 ein eigenes Logo), und auch die damals genutzte UseMod-Software kommt zum Einsatz.
:Die englischsprachige Wikipedia enthielt damals schon 3500 Artikel - oder was man halt so Artikel nannte. Nicht wenige Autoren aus der englischen Nupedia-Community waren zur Wikipedia abgewandert oder zumindest in beiden Projekten aktiv. Die Mund-zu-Mund-Propaganda schien zu wirken, immer neue Aktive konnten rekrutiert werden. Bei uns sah es hingegen ganz anders aus. Die deutsche Nupedia-Gemeinschaft war schwer für die Arbeit an einer Plattform zu motivieren, die so völlig anders funktionierte, so fragil und experimentell erschien.
 
 
 
 
 
 
MC28
:Vokabeln:
 
 
 
MC29
:'''Kein Wörterbuch, kein Ratgeber, kein Ort für Essays'''
:Für mich aber war es eine Initialzündung: Als ich den Ankündigungslink auf Nupedia sah, klickte ich drauf - und war damit Wikipedianer der ersten Stunde. Was das bedeutet? Vor allem erst mal Fragen. Wie schreibt man eine Enzyklopädie, gemeinsam mit Tausenden anderen, die man zunächst nicht kennt und mit denen man fast ausschließlich über das Internet kommuniziert? Wie findet man einen gemeinsamen Stil? Wie löst man Konflikte?
:In den ersten Monaten machten wir es uns leicht und orientierten uns an der englischen Wikipedia. Hier waren einige Kämpfe schon ausgefochten, und man hatte sich auf erste Regeln geeinigt. Später fassten wir sie zu unseren Grundsätzen zusammen:
:1. Wikipedia ist eine Enzyklopädie, also kein Wörterbuch, kein Ratgeber und auch kein Ort für persönliche Essays.
:2. Wikipedia-Artikel sind von einem neutralen Standpunkt aus geschrieben; tendenziöse Berichte haben hier nichts zu suchen, im Zweifel sollte für jede Behauptung eine seriöse Quelle angegeben werden.
:3. Alle Texte sollen auch von anderen genutzt werden dürfen, solange die Autoren genannt werden. Daraus entstehende Werke müssen ebenfalls uneingeschränkt nutzbar sein. Gleiches gilt für Fotos, Videos und sonstige Medien.
:4. Persönliche Angriffe werden nicht toleriert, der Grundton in Diskussionen soll freundlich und konstruktiv sein.
:Und dann gab es da noch eine fünfte Regel, sozusagen das anarchische Wiki-Erbe, früher stark umstritten, heute fast in Vergessenheit geraten - sie lautete: »Ignoriere alle Regeln!« Das klingt nach einem klassischen Aufruf zur Revolution gegen überbordende Bürokratie, und genau so war sie damals auch gemeint.
 
 
 
 
MC30
:Vokabeln:
 
 
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== MC31 - MC 40 ==
 
 
MC31
:'''Neue Software und Auftritt der Admins'''
:Mittlerweile hat man die Vorzüge der Bürokratie schätzen gelernt: Sie schafft Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, weil man sich an Regeln orientieren und sich im Zweifel auf sie berufen kann. Doch manche Regeln haben die Tendenz, unkontrolliert zu wuchern, weil auch der speziellste Spezialfall noch geklärt sein soll. Sich dann auf den Grundsatz »Ignoriere alle Regeln!« zu berufen führt bei den übrigen Diskussionsteilnehmern heute nur zu einem mitleidigen Lächeln.
:Am Anfang sah die Wikipedia aus, als wäre sie ein Überbleibsel aus den allerersten Tagen des Webs. Nur Text, Text und nochmals Text, unterbrochen von einzelnen blauen Links und vielen Fragezeichen. Fragezeichen? Die signalisierten damals, dass es einen verlinkten Artikel noch gar nicht gibt. Heute sind dies einfach rot gefärbte Links, nur sieht man sie kaum noch, weil zu den meisten wichtigen Personen und Themen schon Artikel existieren.
:Magnus Manske war einer der aktivsten Nupedianer. Er ist promovierter Biologe und hatte maßgeblich den Artikel zur Polymerase-Kettenreaktion verfasst, einer der wichtigsten Methoden der modernen Molekularbiologie. Magnus störten die Unzulänglichkeiten der Wiki-Software so sehr, dass er sich hinsetzte und eine neue schrieb. Im August 2002 wurde sie in der deutschen Wikipedia installiert. Endlich konnten Fotos auf einfache Weise in Artikeln angezeigt werden, und plötzlich gab es auch einige Wikipedia-Autoren, die etwas weniger gleich waren als die anderen: die Administratoren.
 
 
 
MC32
:Vokabeln:
 
 
 
MC33
:'''Der erste Ruhm bringt auch Probleme'''
:Damals wurde ich der erste einfache Administrator der deutschen Wikipedia. Auf Zuruf. Heute werden Administratoren gewählt. Eine Zweidrittelmehrheit ist notwendig, regelmäßig fallen Kandidaten durch. Administratoren sind die dienstbaren Geister der Community, eine Mischung aus Sheriff und Hausmeister. Sie entsorgen nicht mehr benötigte Seiten, setzen Randalierer fest und sorgen für eine konstruktive Arbeitsatmosphäre. Sitzt bei einem Administrator der Colt zu locker, kann sein SheriffStern von der Community auch wieder einkassiert werden. Doch weshalb sollten Administratoren überhaupt Artikel löschen? In den ersten Monaten war jeder neue Beitrag zur Wikipedia tatsächlich ein schützenswertes Kleinod, das gehegt und gepflegt werden wollte. Das änderte sich spätestens im Februar 2004: Nach einem Artikel auf Spiegel Online brach die geballte bundesdeutsche Medienaufmerksamkeit über uns herein; noch verstärkt durch einen Beitrag in den Tagesthemen, einen zweiseitigen Spiegel-Artikel und diverse Texte in Tageszeitungen. Seither wuchs die Anzahl der Artikel enorm - aber damit nahmen auch die Probleme zu. :Ein Hobbymathematiker forderte einen Artikel ein, in dem seine - wenig überzeugende - Lösung des Vier-Farben-Problems dargelegt wird; verkannte Schriftsteller ohne Verlag und Leserschaft sahen die Chance, sich selbst mit einem Wikipedia-Artikel endlich angemessen zu würdigen. Und Schüler legten Artikel über ihre Klassenkameraden an, nur um ihnen auf diesem Weg mitzuteilen: »Thorsten, du stinkst!« Solche Schmähungen, Eigenwerbungen und Hobbytheorien mussten natürlich schnellstens entfernt werden. Mit der Zeit bildeten sich Richtlinien heraus, die Anhaltspunkte liefern konnten, ob es sich lohnt, über etwas einen Artikel anzulegen: die berühmtberüchtigten »Relevanzkriterien«.
 
 
 
 
 
MC34
:Vokabeln:
 
 
 
MC35
:'''Leute treffen, Domains retten, Verein gründen'''
:Das erste Treffen von Wikipedia-Autoren im physischen Leben fand vermutlich Ende 2002 beim 19. Kongress des Chaos Computer Clubs statt. Ich hatte einen Vortrag eingereicht, mit dem ich etwas Werbung für das Projekt machen wollte, und eine Autorin mit dem Benutzernamen »Elian« gebeten, mir beizustehen. Wir fürchteten, die versammelte Hackerschaft könnte sich auf die Suche nach Schwachstellen der Wiki-Software und des Konzepts machen - doch nichts dergleichen geschah. Neue Autoren konnten wir trotzdem kaum rekrutieren, aber nach vielen E-Mails, Chats und unzähligen Diskussionen in der Wikipedia wusste ich nun, wer Elian im Leben außerhalb des Netzes war. Ein überraschend seltsames Gefühl. Später wurde Elian mehrere Jahre lang »die Mutter vons Janze«, was natürlich kein offizieller Titel ist, aber ihre Rolle in der Community wohl am treffendsten beschreibt. Auch Wikipedia-Urgestein Jakob Voß stieß zu uns, ein Bibliothekswissenschaftler mit dem notwendigen Sinn fürs Praktische.
:Zunächst war Wikipedia unter wikipedia.com zu erreichen wohl auch, weil Jimmy Wales noch davon ausging, mit dem Projekt eines Tages Geld zu verdienen. 2002 erfolgte der Wechsel zu wikipedia.org, doch noch sechs Jahre lang sollte unter dieser Adresse die englischsprachige Wikipedia zu erreichen sein. Erst nach langen Diskussionen wurde 2008 ein mehrsprachiges Portal errichtet.
:Die Adresse www.wikipedia.de kam uns peinlicherweise gleich zweimal abhanden. Noch bevor jemand sie sichern konnte, riss sie sich ein Domaingrabber unter den Nagel. Im Usenet fragte ich im Mai 2002 nach Rat und entschied mich schließlich zu pokern: Ich schrieb dem Grabber und fabulierte etwas von umfangreicher Presseberichterstattung, aufgrund derer die Marke »Wikipedia« faktisch in Deutschland etabliert sei und er belangt werden könne, falls er die Adresse nicht wieder freigäbe. Es funktionierte.
:Leider vergaß Jimmy später, die Gebühren für wikipedia.de zu bezahlen, und die Adresse ging uns ein weiteres Mal verloren. Diesmal half Arne Klempert, die Domain zurückzubekommen. Die Episode machte uns klar, dass wir in Deutschland eine Institution benötigten, die die Interessen der Wikipedia-Autoren wahrnehmen kann - besser, als es ein paar Einzelkämpfer in ihrer Freizeit vermögen.
 
 
 
MC36
:Vokabeln:
 
 
 
MC37
:Als dann wenige Wochen später auch noch zwei der drei Wikipedia-Server (heute sind es über 500) ausfielen und dringend Geld für den Weiterbetrieb benötigt wurde, gingen wir die Sache an: Eine Vereinssatzung wurde entworfen und - ganz im Wikipedia-Stil - umfassend diskutiert, mit mehreren Anwälten erörtert und währenddessen zigfach verbessert. Die Gründung fand im Sommer 2004 im passenden Rahmen auf der FreieSoftware-Konferenz »Wizards of OS« statt - just nachdem die deutschsprachige Wikipedia-Community am Abend zuvor ihren hunderttausendsten Artikel hatte feiern können.
:Das Wort von der »Schwarmintelligenz« hatte damals noch nicht seinen Gang durch Social-Media-Konferenzen und Feuilletons angetreten. Bis heute halte ich es für Unsinn, niemand von uns empfindet sich wohl als Teil eines Schwarms. Die sozialen Beziehungen innerhalb der Community sind zu vielschichtig, um sie auf diesen einen Nenner zu bringen. Auch deswegen sind die Treffen im physischen Leben so beliebt, kaum eine deutsche Großstadt, in der es nicht mittlerweile einen regelmäßigen Wikipedia-Stammtisch gibt. Auch die jährliche Wikimania, das internationale Treffen der Autorengemeinschaft, zieht ihren Reiz vor allem aus der physischen Präsenz der Teilnehmer. Hier werden Freundschaften geschlossen, Feindschaften begraben oder erneuert - und Liebespaare sollen sich auch schon gefunden haben.
:2011 wurde an über 400 Orten der Erde der zehnte Wikipedia-Geburtstag gefeiert. Das »Spaßprojekt« wird langsam erwachsen. Trotzdem steckt Wikipedia nach enzyklopädischen Maßstäben immer noch in den Kinderschuhen. Der erste Band von Heinrich Zedlers ''Grossem vollständigem Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste'', das der Wikipedia in manchem durchaus ähnlich ist, erschien 1731, der 64. und letzte 1750. Das befriedigende Gefühl, zu einem Abschluss gekommen zu sein, das gesamte Wissen der Zeit in einem Werk gebündelt zu haben, ist Wikipedia-Autoren wohl nicht vergönnt. Irgendetwas ist immer noch zu ergänzen und zu korrigieren. Ganz zu schweigen von den unzählbaren Wissensobjekten, die täglich hinzukommen und ebenfalls in Artikel verwandelt werden wollen.
 
 
 
 
 
MC38
:Vokabeln:
 
 
 
MC39
:'''Ein Blick zurück von der anderen Seite der Diskette'''
:VON BJÖRN HOFFMANN
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:Man wird es mir vielleicht nicht so leicht glauben, aber ich bin einer der dienstältesten Wikipedianer, auch wenn das Projekt zehn Jahre ebenso gut ohne mich zurechtgekommen ist und auch weiterhin sicherlich gut zurechtkommen wird. Schon seit den Zeiten von Nupedia, dem Vorläuferprojekt der Wikipedia, wollte ich auch in Deutschland eine Open-Content-Enzyklopädie gründen. Ich schloss mich Torsten Wöllerts »Offener Enzyklopädie«1 an, die wir dann unter anderem auf dem 17. Chaos Communication Congress 2000 vorstellten. Das war noch zu einer Zeit, als der Kongress nicht bereits Wochen vorher komplett ausgebucht war. Schon damals hieß es gerüchteweise, die »Amerikaner« wollten das Enzyklopädie-Projekt mit einem Wiki realisieren, und das sei doch ein guter Ansatz. Ich war skeptisch ...
:Es heißt, wir Deutschen würden immer noch darüber diskutieren, ob man zum Mond fliegen könne oder nicht, wenn es die Amerikaner nicht einfach getan hätten. Da ist was Wahres dran, wie ich nun weiß. Während wir im Jahr 2000 lange über Berechtigungskonzepte, Klassifikationssysteme und Datenformate diskutierten, taten »es« die Kollegen aus Amerika einfach. Sie setzten einWiki auf und füllten es mit Artikeln. Der Erfolg dieses Vorgehens gibt ihnen trotz der vielen ungelösten Anfangsfragen, die sich bis heute zum Teil verfestigt haben, recht, und ich habe mir mittlerweile viel von diesem Vorgehen, das so auch in der Linux-Bewegung verankert ist, abgeguckt: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es, hat Erich Kästner gereimt.
 
 
 
 
MC40
:Vokabeln:
 
 
== MC41 - MC 50 ==
 
 
MC41
:Schon 1998 hatte ich Brockhaus mein Manifest über eine »doppelte digitale Struktur« zugesendet, in der ich die Vorzüge der Print- und der Online-Welt zusammenführen wollte. Das Manifest kam an, und nach einem Praktikum bei Brockhaus und Duden erhielt ich das Angebot, dort den Online-Bereich zu übernehmen, der damals nur aus genau einer Person, nämlich mir, bestand. Ich war glücklich, denn nun hatte ich ein ausgereiftes Redaktionssystem, gut durchdachte Klassifikationssysteme und viele erfahrene Enzyklopädisten als Kollegen, die sich zum Teil seit Jahrzehnten als Redakteure wie auf eine Professur geradezu »berufen« fühlten. Auch wenn es eine rudimentäre Online-Version der Brockhaus-Enzyklopädie bereits seit 1999 unter einer heute eingestellten Internetadresse gab, sollte die umfassende Online-Umsetzung der Enzyklopädie im Jahr 2005 einer meiner beruflichen Höhepunkte bei Brockhaus sein. Es war eine Ehre, die größte jemals erstellte Brockhaus-Enzyklopädie mit Zehntausenden Bildern und einem interaktiven Atlas ins Online-Zeitalter zu bringen. Und es war eine Ehre, bei der vielleicht letzten großen deutschen Print-Enzyklopädie dabei gewesen zu sein. Die Online-Version ist nach wie vor den Käufern der Print-Enzyklopädie vorbehalten, aber immerhin: Es gibt sie noch.
 
 
MC42
:Vokabeln:
 
 
 
MC43
:Das Management von Brockhaus hatte richtigerweise nach dem Platzen der Dotcom-Blase auf eine weitere Print-Enzyklopädie gesetzt. Diese wurde im Jahr 2005/2006 zwar kein Riesenerfolg, aber immerhin verkaufte sie sich so gut, dass man 2006 beschloss, die digitale Herausforderung voll anzunehmen. Brockhaus wollte die größte redaktionell erarbeitete und frei im Netz verfügbare Online-Enzyklopädie erstellen, die es je im deutschsprachigen Raum gegeben hat. Mit einem innovativen Rechtekonzept zwischen der Redaktion und einer Gemeinschaft, die mitarbeiten sollte, einer semantisch strukturierten Faktendatenbank und großen Multimediabeständen wollte man starten. Denn die Wikipedia war mittlerweile zum Hype geworden, ihre Zugriffszahlen schössen in die Höhe, und die Presse griff ein weiteres Mal die Geschichte von David gegen Goliath auf, von Linux gegen Microsoft und nun von Wikipedia gegen Brockhaus. Die Absätze der Print-Enzyklopädien begannen rasant zu sinken. Daran war natürlich nicht nur Wikipedia »schuld«, sondern vor allem auch eine veränderte Strategie der Menschen, ihren Wissensdurst zu stillen. Am Ende des Tages ist die Suchmaschine der '''Brockhaus''' von heute.
 
 
 
MC44
:Vokabeln:
 
 
 
MC45
:Also griffen alle mit vereinten Kräften in die Tasten, um »Brockhaus Online« rechtzeitig zum April 2008 fertig zu stellen. Einen Schalter umlegen, und das Portal wäre mit 300 000 von der Brockhaus-Redaktion geprüften Texten und mit mehr als vier Millionen Bildern online gegangen. Aber es kam leider nicht dazu. Der Bertelsmann-Konzern, der sowohl den Druck als auch den Vertrieb der Enzyklopädie über die Haustürgeschäfte (den »Direktvertrieb«) für den Brockhaus-Verlag abwickelte, sah sein Geschäft gefährdet und wollte »Brockhaus Online« unbedingt verhindern. Es verstrichen acht bange Monate, ohne dass wir unser Produkt ins Netz stellen konnten. Im September durfte das Portal wenigstens für vier kurze Monate unter falscher Flagge als ''Meyers Lexikon Online'' und entkernt um die Brockhaus-Enzyklopädie endlich online gehen. Dann aber wurden »Brockhaus« und die lexikalischen Bestandteile von »Meyers« an Bertelsmann »als Marke« - das bedeutet vor allem: ohne Personal - verkauft und die Brockhaus-Redaktion komplett entlassen.3 Das Ziel der Bertelsmann AG, die mit ihrem Bertelsmann-Lexikon nie solche Erfolge wie Brockhaus hatte feiern können, war es wohl, das große Online-Portal von Brockhaus zu verhindern, um weiter die Bücher der Enzyklopädie drucken und verkaufen zu können. Wenigstens noch ein paar Jahre. Am Ende waren die Umsätze mit Print-Enzyklopädien so weit gesunken, dass sich selbst das Bundeskartellamt nicht mehr für die Übernahme interessierte.
 
 
MC46
:Vokabeln:
 
 
 
MC47
:Der Wikipedia kann das nicht passieren, sie kann nicht verkauft, höchstens missbraucht werden, da die Urheberrechte mittels Creative-Commons-Lizenz das freie Kopieren und Weiterverwenden garantieren. Zugleich ist diese Copyleft-Ideologie aber auch eine große Hypothek für Wikipedia. So wird sich niemals ein Verlag finden, der die Online-Enzyklopädie jemals wirtschaftlich drucken können wird, weil das Werk nicht im engeren Sinne urheberrechtlich geschützt wäre. Aber vielleicht ist es ja auch gar nicht erstrebenswert, jemals wieder gedruckte Enzyklopädien zu haben, obwohl es wirklich schade darum wäre. Die Brockhaus-Enzyklopädie, deren Papier 400 Jahre lang halten soll, ist nach wie vor eine der größten Zierden in meinem bescheidenen Heim. Sie zeugt davon, dass das Wissen vergangener Zeiten in einem einzigen Moment verewigt wurde, sie ist der »Snapshot« einer Generation, den wir so nie mehr haben werden. Zugleich ist das auch nach wie vor meine größte Kritik an Wikipedia: dass Wikimedia-Angestellte ihr Gehalt und Google viel Geld an der Wikipedia verdienen, nur ausgerechnet nicht diejenigen, die deren Inhalte zusammentragen, verdichten und prüfen.
 
 
 
 
 
 
MC48
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MC49
:'''Zehn Jahre Wikipedia: Meilensteine'''
:VON MARCUS CYRON
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:Der 15. Januar 2001 war ein Meilenstein, wenn nicht ein Wendepunkt in der Entwicklung, der Verbreitung und der Rezeption des Wissens der Menschheit. Aus dem Versuch, ein Internetlexikon in klassischer Form zu schaffen, der »Nupedia«, ging Wikipedia hervor. Zunächst war sie nur als Inkubator für Artikel der Nupedia gedacht, die nicht im gewünschten Tempo wachsen wollte. Die weitere Entwicklung, die ausgerechnet 250 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Bandes der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers von Diderot und dAlembert begann, soll hier kurz umrissen werden.
 
 
 
MC50
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MC51
:'''2001: Aller Anfang ist schwer'''
: Vier Wochen nach dem Start umfasste Wikipedia 1000 Seiten. Eine Schätzung von Mitgründer Jimmy Wales ging davon aus, dass es in acht Jahren 100 000 sein könnten. Im März 2001 gab Wales in einer Mail bekannt, dass er weitere Sprachversionen plane. Noch am selben Abend wurde als erste Sprachversion die Wikipedia auf Deutsch gegründet, woraufhin die französische Version folgte. Am 11. Mai verkündete ein Mitarbeiter der damaligen Betreiberfirma Bomis, dass seit der Gründung der englischen Wikipedia elf weitere Sprachversionen hinzugekommen seien. Bomis überführte die Projekte auf einen neuen Server, und der erste deutschsprachige Artikel erschien am 12. Mai. Der Biologe und Programmierer der MediaWiki-Software, Magnus Manske, übertrug den Artikel »Polymerase-Kettenreaktion« aus dem Englischen. Weitere Artikel folgten wenig später und wurden vor allem vom schwedischen Wikimedia-Urgestein »LA2« angelegt. Sein erster Beitrag und zugleich der zweite Artikel auf Deutsch war »Daenemark«: »Daenemark ist ein Staat in Europa, eine Monarchie mit etwa 5 Mio Einwohner. Man spricht die dänische Sprache. Die Hauptstadt von Dänemark heißt Kopenhagen (auf dänisch: K0benhavn). Andere wichtige Städte sind: Aarhus, Odense, Roskilde. Dänemark grenzt an: Deutschland, die Nordsee, Kattegatt, die Ostsee.«
:Die englischsprachige Wikipedia profitierte von einer Ankündigung der Bnfanm'ca-Redaktion, die verlautbaren ließ, dass aus finanziellen Gründen der bislang freie Online-Zugang nunmehr kostenpflichtig sei. Am 19. August schaffte auch die deutschsprachige Version 1000 Artikel, und kurz darauf überwand die englischsprachige Version die damals noch als magisch angesehene 10 ooo-Artikel-Hürde. Dank eines Berichts auf der Web-Nachrichtenseite Slashdot hatte Wikipedia plötzlich deutlich stärkeren Zulauf als zuvor: Das Wachstum war exponentiell. Sechs Tage vor dem einjährigen Jubiläum erreichte die englische Wikipedia 20000 Artikel. Zum Jubiläum erschien die erste Pressemitteilung. Zehn Tage danach wurde die Software so umgestellt, dass Wikipedia nun verschiedene Namensräume, Diskussionsseiten und andere Funktionen hatte. Zudem gibt es seither verschiedene Benutzergruppen: Die Administratoren waren geboren.
 
 
 
MC52
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MC53
:'''2002 - 2004: Langsames Wachstum'''
:Nach Gerüchten, der Betreiber von Wikipedia würde in Zukunft Werbung schalten, spaltete sich im Februar 2002 die Enciclopedia Libre von der spanischsprachigen Wikipedia ab. Die Gerüchte bewahrheiteten sich nicht, doch genügte der Vorfall, um die Wikipedia auf Spanisch auf Jahre hinaus zu schwächen. Im Dezember 2003 startete mit dem englischsprachigen Wörterbuch Wiktionary das erste Schwesterprojekt der Wikipedia. An ihrem zweiten Geburtstag umfasste Wikipedia stolze 130000 Artikel in 28 Sprachen, womit eine Phase der Internationalisierung und der Konsolidierung begann. Sechs Tage nach dem Jubiläum überschritt die englischsprachige Wikipedia die Marke von 100 000 Artikeln - fünf Jahre eher als von Jimmy Wales ursprünglich erwartet. Besonders der deutschen Wikipedia half zudem im Mai ein Beitrag der Web-Seite Telepolis, woraufhin zeitweise bis zu 150 neue deutschsprachige Artikel am Tag angelegt wurden.
:Am 20. Juni wurde die Wikimedia Foundation als Trägerorganisation der Wikipedia und ihrer Schwesterprojekte gegründet. Dies war dringend nötig, denn es kam immer wieder zu technischen Störungen, beispielsweise im Juli, als die Suchfunktion für eine Woche ausfiel. Tatsächlich liefen bis zu diesem Zeitpunkt alle Wikimedia-Projekte auf zwei PCs, sodass die Verbesserung der technischen Infrastruktur dringend erforderlich war. Kurz vor dem Jahreswechsel startete Jimmy Wales erstmals einen Spendenaufruf, um neue Hardware zu erwerben. Innerhalb eines Tages wurden 20000 US-Dollar gesammelt, und in den zwei Folgetagen kamen weitere 10000 Dollar hinzu. Nicht nur technisch war eine Erneuerung unumgänglich: Im Oktober 2002 wurde das »Portal:Recht« in der deutschsprachigen Wikipedia gegründet, und eine neue Form der Strukturierung setzte ein. Zudem gab es im Oktober in München das erste Treffen von Wikipedianern, und bis heute gibt es keine andere Sprachversion, bei der sich die Autoren untereinander so gut kennen und so häufig treffen wie im deutschsprachigen Raum.
:Seit 2004 wurde in den deutschsprachigen Medien vermehrt über Wikipedia berichtet. Im Februar in der ''Berliner Zeitung'', bei ''Spiegel Online'' und in einem Beitrag in den ''Tagesthemen''. Im März folgten Berichte bei RTL2, der Deutschen Welle und vor allem ein zweiseitiger Artikel im ''Spiegel''. Dieser Artikel war der endgültige Durchbruch für Wikipedia in Deutschland. Durch ihn kamen viele neue Autoren zum Projekt, und es bekam nochmals einen kräftigen Schub. Im April stand die deutschsprachige Wikipedia bei 80 000 Artikeln und hatte damit innerhalb von nur vier Monaten ihre Größe verdoppelt. Schließlich erreichte auch die deutsche Sprachversion, pünktlich zur Konferenz »Wizards of OS« vom 10. bis 13. Juni 2004, wo Jimmy Wales erstmals einen Vortrag in Deutschland halten sollte, die Marke von 100 000 Artikeln.
 
 
 
 
MC54
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MC55
:'''2005 - 2006: Neue Ideen'''
:Im Jahr 2005 wurde in der englischen Wikipedia nach dem deutschen Vorbild ein »Portal:Biology« gegründet. Wenig später kam erstmals eine CD mit dem Inhalt der deutschsprachigen Wikipedia heraus, was im Falle der englischen Version noch bis 2007 dauern sollte. Langsam entstanden die ersten Redaktionen, die noch stärker als Portale und Projekte eine strukturierte Arbeit der Autoren und deren Abstimmung untereinander ermöglichen sollten. Erfinder der Redaktionen war der Autor Frank Schulenburg, der in den folgenden zwei Jahren für einige sehr nachhaltige Neuerungen sorgte. Als Nächstes organisierte er im Juni 2006 in Göttingen die erste »Wikipedia Academy«. Ziel dieser Veranstaltung war es, in einen Dialog mit der akademischen Welt zu treten und mehr qualifizierte Autoren zu gewinnen. In der deutschsprachigen Wikipedia sollte Ende des Jahres erneut Jubiläumsstimmung herrschen, denn am 23. November überschritt sie die Grenze von 500 000 Artikeln. Um diesen Meilenstein entbrannte ein kleiner Wettstreit, den der Autor dieser Zeilen dank seiner »20-Artikel-auf-einmal-Taktik« für sich entscheiden konnte. Der Artikel »Janina Korowicka« wurde sogleich - man kann es eine Wikipedia-Tradition nennen - zur Löschung wegen Irrelevanz vorgeschlagen, konnte aber am Ende behalten werden.
:Spätestens seit 2005 war die ungleichmäßige Artikelqualität eines der zentralen Probleme von Wikipedia. Mit der Qualitätssicherung wurde versucht, einen zentralen Ort zu schaffen, in dem zumindest deutlich sichtbare Qualitätsmängel behoben werden konnten. Unumstritten war diese Initiative jedoch nicht, denn schon seit 2003 versuchte man, dem Problem der Qualität in anderer Form habhaft zu werden. Die »Exzellenten Artikel« sollten für Leser die besten Inhalte der Wikipedia kennzeichnen, und später wurde mit den »Lesenswerten Artikeln« eine zweite Bewertungsstufe geschaffen, gefolgt von den »Informativen Listen und Portalen«. Im März 2011 gab es fast 2000 exzellente und mehr als 3200 lesenswerte Artikel sowie über 400 Informative Listen und mehr als 60 ausgezeichnete Portale.
 
 
 
MC56
:Vokabeln:
 
 
 
MC57
:'''2007 - 2010: Weitere Neuerungen'''
:Das Jahr 2007 brachte den Import zweier Institutionen aus der englischsprachigen Wikipedia: Zunächst wurde als oberste Berufungsinstanz bei Konflikten das »Schiedsgericht« installiert. Im weiteren Verlauf des Jahres wurde das »Mentorenprogramm« gegründet, in dem erfahrene Wikipedianer Neulinge betreuen. Nach Jahren des Wartens kam es 2008 zu zwei lang erwarteten Neuerungen: Zum einen entstand das »Single-User-Login«, womit die einmalige Anmeldung in einem Projekt den Zugang zu allen anderen Wikimedia-Projekten sicherstellte. Zum anderen kamen erstmals die »gesichteten Versionen« zum Einsatz. Hier war die deutschsprachige Wikipedia das Testfeld, nicht nur weil Wikimedia Deutschland die Entwicklung der Software finanziert hatte, sondern vor allem weil die Idee auf ein Mitglied der deutschsprachigen Autorengemeinschaft (Philipp Birken) zurückging. Die Nachsichtung von Beiträgen nicht angemeldeter oder neuer Autoren bedeutet zwar einen Mehraufwand, doch der Vandalismus ist seit deren Einführung spürbar zurückgegangen. Inzwischen ist diese Innovation auch in anderen Sprachversionen vorzufinden.
:Neben dem »Grimme-Online-Award«, den Wikipedia 2005 gewann, war die »Quadriga« die bisher wichtigste Auszeichnung für die Online-Enzyklopädie in Deutschland. Sie wurde Anfang Oktober 2008 in Berlin verliehen, und für Wikipedia nahm sie Jimmy Wales in Empfang. Das Jahr ging mit einem weiteren Erfolg zu Ende: Durch Verhandlungen von Mathias Schindler von Wikimedia Deutschland bekam die zentrale Dateiensammlung »Wikimedia Commons« aus dem Bundesarchiv eine Spende von mehr als 100 000 Bildern. Weitere Großspenden folgten 2009 von der Deutschen Fotothek und dem Königlichen Niederländischen Tropeninstitut.
:Kurz vor der Jahreswende 2009/10 schaffte es auch die deutschsprachige Wikipedia als zweite Sprachversion, die Millionenmarke zu überspringen. In alter Wikipedia-Tradition wurde auch dieser Artikel wegen vermeintlicher Irrelevanz zum Löschen vorgeschlagen, aber umgehend behalten.
 
 
 
 
MC58
:Vokabeln:
 
 
 
MC59
:'''2011: Das Jahr der Jubiläen'''
:Das Jubiläumsjahr 2011 begann mit einem großen Fest. Am 15. Januar wurde weltweit das zehnjährige Bestehen von Wikipedia gefeiert. Das größte Fest mit etwa 300 Gästen fand in Berlin statt. Wikipedia gewann während der letzten Jahre immer mehr Leser, doch nahm die Zahl der Mitarbeiter nicht im selben Maße zu. Deshalb ist es für die Zukunft besonders wichtig, neue Autoren zu gewinnen und die langjährigen Mitarbeiter zu motivieren. Wikimedia hat daher drei Ziele ausgegeben: Expansion in der südlichen Erdhälfte, in der Wikipedia noch zu wenig Autoren hat; Gewinnung weiblicher Autoren, die bislang weit unterrepräsentiert sind; und die Ausweitung der Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Universitäten.
 
 
 
 
 
MC60
:Vokabeln:
 
 
 
MC61
:'''Der millionste Artikel für die deutsche Wikipedia'''
:VON JÜRGEN F. KLOSE
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:In der Vorweihnachtszeit 2009 bahnte sich für die deutschsprachige Wikipedia an, dass in wenigen Tagen der Meilenstein von einer Million Artikeln geknackt werden würde. Viele Autoren legten sich für diesen Termin einen kleinen »Hamstervorrat« an neuen Artikeln an, mit denen versucht wurde, diesen Meilenstein zu erreichen. So hatte sich beispielsweise meine Tochter schon ein paar Artikel zusammengestellt. Ich hatte mich schlechter vorbereitet: Mein »Puffer« war gerade leer, und ich hatte wenig Zeit für Wikipedia-Arbeit.
:Im Sommer hatten wir unseren Urlaub im kleinen Ort Mölten in Südtirol verbracht, und dadurch entstanden auf zweierlei Weise neue Artikel für die Wikipedia: Zum einen wurden Ortschaften und Sehenswürdigkeiten mit Artikeln und Bildern bedacht, zum anderen hatte ich aus der örtlichen Bibliothek den dicken, reich bebilderten Schmöcker Botanica ausgeliehen und zum Anlass genommen, diverse Pflanzenartikel zu schreiben. Die so entstandenen Artikel hatte ich jedoch schon längst in die Wikipedia eingestellt. Was mir als Vorrat blieb, waren einige Stummelartikel, die ich noch nicht eingestellt hatte, weil ich sie noch für zu dürftig hielt. In der Not habe ich mir jedoch dieses knappe Dutzend Artikel als meinen Vorrat zurechtgelegt.
:Spannend wurde es dann am Tag nach Weihnachten, dem 27. Dezember 2009. Wir waren zum Mittagessen eingeladen und hofften natürlich, dass rechtzeitig vor unserer Abfahrt die Zeit des Meilensteins anbrechen würde. Daher zögerten wir unseren Aufbruch bis zur allerletzten Minute hinaus; schließlich stellten wir beide unseren kompletten Artikelvorrat online. Hastig schalteten wir die Rechner aus, setzten uns ins Auto und fuhren los. Ein bisschen geknickt waren wir schon, da wir den Jubiläumszeitpunkt nicht online verfolgen konnten und uns sicher wähnten, den rechten Augenblick zu verpassen.
 
 
 
 
MC62
:Vokabeln:
 
 
 
MC63
:Als wir abends heimkamen, galt der erste Blick der Wikipedia, und wir wären vollkommen von den Socken. Mein Artikel »Ernie Wasson« war tatsächlich der millionste Artikel. Es war ein magerer, kleiner Beitrag über einen Mitherausgeber des oben erwähnten Pflanzenlexikons Botanica. Wir freuten uns zunächst riesig, wobei ich ein schlechtes Gewissen meiner Tochter gegenüber hatte, die mehr und vor allem ausführlichere Artikel als ich aus dem Hamstervorrat eingestellt hatte. Leider wurde uns die Freude kurz darauf vergällt, denn ich begann die ätzend und bissig geführte Debatte zu lesen, die um den erreichten Meilenstein entbrannte. So wurde versucht, den Artikel wegen Irrelevanz zu löschen und einen Ersatzartikel auszuwählen, der sozusagen mehr hergeben würde. Ich haderte lange mit mir, ob ich meinerseits eine Stellungnahme verfassen und mich in die Diskussion einklinken sollte.
:Nachdem ich meinen Frust über die unerquickliche Neidund Löschdebatte nach einigen Tagen einigermaßen verarbeitet hatte, feierten wir mit Freunden am 6. Januar 2010 - meinem Geburtstag - eine bescheidene Millionen-Party. Da auch die lokale Presse zugegen war, gab es am 9. Januar 2010 eine fundierte Berichterstattung - »Der Ein-Millionen-Mann aus Coburg« in unserem ''Coburger Tageblatt'' und dem ''Fränkischen Tag''. Arg befremdet war ich von so manchen anderen Veröffentlichungen zum Thema, in denen mangels Recherche bizarre Behauptungen zu meiner Wenigkeit aufgestellt wurden. Ohnehin war mir der ganze Presserummel um meine Person nicht recht. Unermüdlich betone ich immer wieder, dass ich den Meilenstein als einen Gemeinschaftserfolg der gesamten Autorenschaft der deutschen Wikipedia betrachte, auf den alle stolz sein sollten!
 
 
 
 
 
MC64
:Vokabeln:
 
 
 
MC65
:'''Wikipedia: Eine kritische Sicht'''
:VON BENUTZER:NEON02
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:Die Wikipedia ist ein Projekt, das alle gedruckten Universalenzyklopädien sowohl in der Artikelzahl als auch im Umfang weit hinter sich gelassen hat. Auch wenn die Artikelqualität schwankt, bestätigen zahlreiche Untersuchungen, dass zufällig ausgewählte Wikipedia-Artikel in puncto Richtigkeit, Vollständigkeit, Aktualität und Verlässlichkeit mit den gedruckten Enzyklopädien durchaus mithalten können bzw. diese sogar übertreffen. Chris Anderson, der Chefredakteur der amerikanischen Technologie-Zeitschrift Wired, weist daraufhin, dass die Wahrscheinlichkeit für einen fehlerfreien und zutreffenden Artikel sehr hoch ist, auch wenn einzelne Artikel durchaus Fehler, Vandalismus etc. enthalten können.
:Zu Recht steht auf der Startseite: »Wikipedia ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie ...«, also noch nicht die Enzyklopädie selbst. Gemessen am eigenen Anspruch, das gesamte Wissen der Welt zu sammeln, steht Wikipedia erst am Anfang, sowohl quantitativ als auch qualitativ: Von den Millionen Lebewesen haben zum Beispiel erst die wenigsten einen Artikel, noch nicht einmal alle in Mitteleuropa vorkommenden Baumarten sind abgedeckt. Im Bereich der Popkultur hinkt die deutsche Wikipedia der englischen weit hinterher. In letzter Zeit wurde häufiger kritisiert, dass gerade bei Überblicksartikeln wie »Frühmittelalter« noch große Mängel bestehen. Wikipedia ist ein Generationenprojekt. Die meisten Artikel sind bereits heute sachlich richtig und beinhalten keine gravierenden Fehler. Es wird aber wahrscheinlich noch weitere Jahrzehnte dauern, bis sie alle ein stilistisch und inhaltlich zufriedenstellendes Niveau erreicht haben.
 
 
 
MC66
:Vokabeln:
 
 
 
MC67
:Die Wikipedia leidet aber meiner Meinung nach an einigen vermeidbaren Problemen, die ihre Weiterentwicklung erschweren:
:Das Hauptproblem ist die jetzige Definition von »NPOV« (Neutral Point of View - Neutraler Standpunkt). WikipediaGründer Jimmy Wales hat sich bei der Aufstellung dieses Prinzips an einem eng positivistischen Wahrheitsbegriff orientiert, der in den Naturwissenschaften noch akzeptabel sein mag, aber in den Sozialwissenschaften, wo soziale Interessen Forschungsprogramme und Erkenntnisse beeinflussen, große Probleme bereitet. Nicht zufallig drehen sich die großen Methodendebatten in der Soziologie um Fragen der möglichen oder unmöglichen Werturteilsfreiheit. Da in Wikipedia abgestritten wird, dass sozialwissenschaftliche Erkenntnisse immer auch durch bestimmte soziale Interessen beeinflusst werden, können diejenigen Benutzer, deren Meinung mit dem gerade existierenden Mainstream übereinstimmt, behaupten, sie verträten die reine Wahrheit, während alle anderen »POV-Pusher« oder »Men on a Mission« seien, die von Wikipedia ferngehalten werden müssen. Nur derjenige, der aus der Position der gesellschaftlich dominierenden Ideologie bzw. des dominierenden Wissens spricht, also der Doxa im Sinne von Bourdieu, kann diesen Vorwurf äußern. Das bedeutet, dass sich in den Artikeln langfristig diejenigen Positionen durchsetzen werden, die in der Gesellschaft gerade dominant sind. Allerdings noch nicht einmal in der Gesamtgesellschaft, sondern in der Gruppe der Wikipedia-Autoren, also vor allem der jungen, gut gebildeten, männlichen Naturwissenschaftler. Sie stellt die meisten Benutzer und Administratoren. Während die Enzyklopädie von Diderot und dAlembert die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit noch kritisierte, trägt Wikipedia dazu bei, die gerade herrschende Ordnung zu legitimieren. :Das bewirkt auch eine offene Flanke nach rechts außen. In einigen Artikeln wie »Polenfeldzug«, wo die Schuld Nazideutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges durch Verweis auf angebliche polnische Aggressionen relativiert wird und Revisionisten wie Alfred de Zayas als reputable Quellen gelten, ist offen rechtsextremes Gedankengut anzutreffen. Verbindungsglied zu weit rechts stehenden Positionen ist die in Wikipedia dominante Totalitarismustheorie.
 
 
 
 
MC68
:Vokabeln:
 
 
 
MC69
:Ein weiteres Problem ist der Umgang der Wikipedia-Administratoren mit den gewöhnlichen Benutzern. Die Administratoren sind sich einig: »Wikipedia ist keine Demokratie.« Bei ihrer Sanktionierung von normalen Benutzern entscheiden sie in der Regel nicht nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, sondern nach einem engen utilitaristischen Kosten-Nutzen-Kalkül für Wikipedia. Wenn sie davon ausgehen, einen unerwünschten Störer vor sich zu haben, der zudem mit ihrer Meinung nicht übereinstimmt, sperren sie häufig beim geringsten Anlass. Altgediente »Qualitätsautoren« können sich dagegen eine Menge herausnehmen und werden bestenfalls mit Wattebäuschchen beworfen. Diese Willkür führt aber zu einem vergifteten Arbeitsklima und schreckt viele Menschen von der Mitarbeit bei Wikipedia ab.
:Die meisten Admins werden gewählt, weil sie in einem Fachgebiet Bedeutendes geleistet haben. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie besonders dazu geeignet sind, Konflikte zwischen den Usern zu lösen. Im Allgemeinen sind sie es nicht. Häufig verschärfen sie durch ihr Agieren diese Konflikte eher noch zusätzlich.
:Nicht zuletzt dieses häufig unbefriedigende Arbeitsklima bewirkt, dass Frauen in der Wikipedia sehr unterrepräsentiert sind.
:Auch unter einem anderen Gesichtspunkt sind die Folgen von Wikipedia zumindest ambivalent: Das Aufkommen von interaktiven Diensten des Web 2.0, wofür Wikipedia Vorreiter war, hat zwar die Möglichkeiten der Bevölkerung zur Meinungsäußerung und des kulturellen Ausdrucks entscheidend verbessert. Zugleich führt die Entprofessionalisierung von Berufen wie Lexikonredakteurin, Fotoreporterin, Journalistin zu einer zunehmenden Prekarisierung vieler Menschen.