Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 056c

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Quelle für den Text der Lektionen 051c bis 063c Lektionen ist das Buch
Alles über Wikipedia und die Menschen hinter der größten Enzyklopädie der Welt
Das Buch erschien unter einer freien Lizenz (Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Unported, CC-by-sa).
fuente: Allesueberwikipedia.pdf - CC-BY-SA Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Unported, CC-by-sa - CC-BY-SA
Inhalt
Inhalt
VORWORT 9
EINLEITUNG 11
DIE ENTSTEHUNG DER DEUTSCHEN WIKIPEDIA 15
Von Nupedia zu Wikipedia:Wie alles anfing ... 15
Odyssee ins Jahr 2001: Die Anfänge der deutschen Wikipedia 23
Ein Blick zurück von der anderen Seite der Diskette 31
Zehn Jahre Wikipedia: Meilensteine 35
Der millionste Artikel für die deutsche Wikipedia 41
Wikipedia: Eine kritische Sicht 43
DIE WIKIPEDIA-ARBEIT 47
Grundkenntnisse 47
Was braucht ein »guter« Artikel? 59
Ein Begrüßungslöschantrag 63
Von der IP zum Bürokraten: die »Karriere« eines Wikipedianers 64
Da kann ja jeder reinschmieren! 67
Wo erhalten Benutzer Hilfe und Unterstützung? 71
WIE GUTE ARTIKEL ENTSTEHEN 81
Die Qualität von Wikipedia: Anspruch und Wirklichkeit 81
Geständnis eines Kleinvandalen 100
Die Zebrarennschnecke:Vom Kindermund zum enzyklopädischen Artikel 101
Wer rastet, der rostet 104
Listen über Listen 105
Nicht zu benutzen 107
Wikipedia organisiert 108
Schon gewusst? - oder: Wie kommt man flott auf die Hauptseite? 115
Masse mit Klasse 118
Die Todesopfer an der Berliner Mauer 121
MOTIVATION: FREIWILLIG FÜR FREIES WISSEN 125
Unverhofftes Wiedersehen 125
Von Metzgern und Schlachtern - oder: Wenn's sonst keiner macht ... 127
Wikipedia-Mitarbeit hält die Festplatte am Drehen 130
Der Traum von einer eigenen Enzyklopädie 131
»Wikipedia and I« 133
Wikipedia - der erste Schuss ist gratis 138
Damenfang 140
Wikipedia: Ein persönlich gefärbter (was sonst?) Erfahrungsbericht 141
Warum ich immer noch mitspiele 144
Der Büchermessie 147
Wikipedia-Momente 149
KOMMUNIKATIONSKULTUR 151
Möglichkeiten und Grenzen demokratischer Strukturen in derWikipedia 151
Wissen ist Macht 162
Exklusionisten gegen Inklusionisten ein enzyklopädischer Bruderkrieg 164
Exklusionismus: In den Maschinenräumen von Wikipedia 173
Inklusionismus: Mehr Toleranz! 178
Mit 80 + dabei 182
DIE DUNKLE SEITE DER WIKIPEDIA 187
Am Anfang war der Streit 187
Kaffeeservice und Bügelbrett: Von der Wikipedia ohne Umweg in die Köpfe 210
Aus der Löschhölle an die Wand 214
Von der »Hassenstein-Debatte« zu allerlei Erfreulichem 216
Trollosophie 222
DIE WISSENSCHAFT ZU WIKIPEDIA 225
Wikipedistik 225
Wikipedia als Forschungsobjekt 241
Die Wikipedia als Werkzeug für individuelle und kooperative Lernprozesse 243
Verborgenes Wissen in Wikipedia 246
Die Enzyklopädie und der Elfenbeinturm - wie Wikipedia und Wissenschaft zueinander finden können 247
»Sag bloß keinem, dass du da mitmachst!« 266
Durch Kooperation zum Erfolg: Die Johann-Heinrich-ZedlerMedaille 268
Wikipedia und Wissenschaft aus der Sicht der Akademieforschung 269
Einstieg mit Hürden 273
Wikipedia als Lebensweise 274
Wikipedia und Speziallexika im Wettstreit 276
DIE TECHNIK HINTER WIKIPEDIA 283
MediaWiki - oder: Das Web 0,0 283
Hardware: Betrieb der Wikipedia 295
Das Werden und Wachsen der Helferlein: Bots, Skripte und Werkzeuge 300
AUSBLICK: WIKIPEDIA 2021 311
ANHANG 327
Glossar: Wikipedia-Jargon für Anfänger 327
Die Autoren 333
Creative Commons License 344



MC251 - MC260

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MC251

Von Metzgern und Schlachtern - oder: Wenn's sonst keiner macht ...
VON BENUTZER:KAISERSOFT
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Mein Einstieg in die Wikipedia-Welt verlief unspektakulär und wie bei Hunderten, wenn nicht Tausenden anderen Autoren auch - man las oder hörte von diesem immer schneller wachsenden Internet-Enzyklopädie-Ding, rief die Seite mal versuchsweise auf, und irgendwann benutzte man als erste Suchadresse im Internet nicht mehr Google, sondern eben Wikipedia. Weil ich immer stolz war, mein Pseudonym im Internet zu sehen, meldete ich mich natürlich auch an, und im Laufe von zwei Jahren sammelten sich unfassbare 100 Bearbeitungen an! Natürlich so, wie sie bei unzähligen anderen Neulingen auch aussehen: »Quellen? Was ist das? Ich weiß doch, dass es so ist!« An eigene Artikel war nicht zu denken. Oder vielmehr: Ich dachte schon daran - aber es gab ja schon mehrere hunderttausend Artikel - was soll ich dazu noch beitragen? Zumal ich mir selbst in vielen Bereichen ein gesundes Halbwissen attestiere, aber in keinem echtes Expertenwissen. Also überlasse ich das lieber anderen.
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Bis zum 27. November 2007!
In den Medien geisterten zu dieser Zeit Berichte über den Grünen-Politiker Oswald Metzger, weil er Äußerungen von sich gegeben hatte, die so gar nicht zu einem Grünen passen wollten. Und da der gute Mann ebenso wie ich aus dem Südwesten kam, verfolgte ich die Diskussion über ihn mit einem halben Ohr. Am Dienstag, dem 27. November 2007, kam schließlich gegen Mittag eine Meldung im Radio, dass Metzger aus der Partei austrete und mittelfristig auch sein Landtagsmandat aufgeben werde. Als Nachfolger für das Parlament kündigten die Grünen den Biberacher Eugen Schlachter an.




MC252

Vokabeln:


MC253

Der Metzger geht, der Schlachter kommt?
Das war jetzt so schräg, dass es mir im Gedächtnis haften blieb. Zu diesem Zeitpunkt war ich trotz relativ weniger eigener Beiträge der Wikipedia schon zumindest ein wenig verfallen, und so gab ich den Namen Eugen Schlachter ins Suchfeld ein. Nanu? Den gibt's noch nicht? Na gut, dann ist das die Möglichkeit, einmal mitzuverfolgen, wie schnell Wikipedia tatsächlich ist. Also bin ich im Laufe des Nachmittags immer wieder mal an den PC gegangen und wollte kontrollieren, wie lange es dauert, bis es einen Eintrag gibt. Aber selbst als der Nachmittag langsam zum Abend wurde - nix!
Und da kam mir der Gedanke, der als zweiter Titel für diese Geschichte dient: Wenns sonst keiner macht... Ich habe mich ein wenig in die Wiki-Syntax eingelesen, im Internet über Eugen Schlachter recherchiert, noch mal kontrolliert, dass wirklich noch kein anderer ... Und dann habe ich meinen ersten Artikel geschrieben und abgeschickt. Und so, wie ich im Laufe des Nachmittags darauf gewartet habe, dass irgendjemand den Artikel schreibt, so habe ich im Anschluss darauf gewartet, dass jemand meinen Artikel löscht. Aber im Gegenteil, zuerst hat sich niemand dafür interessiert, und nach zwei Stunden wurden die ersten Korrekturen vorgenommen. Im Laufe der Zeit kamen Bilder dazu, erfahrene Kollegen ergänzten die vielen Formalien, die ich noch nicht kannte (und teilweise bis heute nicht ganz verstehe), und im Nachhinein bin ich fast etwas überrascht, dass der Artikel anfangs überlebt hat: Streng genommen war Herr Schlachter zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich relevant im Sinne unserer Kriterien. Nicht auszudenken, was aus mir (wikipediamäßig) geworden wäre, hätte sich der Artikel einen Löschantrag und eine darauf folgende siebentägige Diskussion eingefangen ...
Und das war der bescheidene Beginn meiner bescheidenen Autorenkarriere. Schnell bemerkte ich dann, dass Wikipedia trotz sechs-, inzwischen sogar siebenstelliger Artikelanzahl immer noch Lücken aufweist. So gab es zum Beispiel noch keine Einträge zu drei meiner schönsten filmischen Kindheitserinnerungen: Zärtliche Chaoten, Teil eins und zwei, sowie Big Boy Der aus dem Dschungel kam. Und ganz nebenbei lernte ich: In einigen Bereichen braucht man gar keine Ahnung zu haben, um Artikel schreiben zu können! Recherchieren, auswerten und zusammenfassen - das ist die Hauptaufgabe eines Autors.
Also, wenn du demnächst einen Artikel suchst, den es aber noch nicht gibt, und dir zum hundertsten Mal durch den Kopf geht: Wieso hat den noch niemand geschrieben? - immer dran denken: Wenns sonst keiner macht...


MC254

Vokabeln:


MC255

Wikipedia-Mitarbeit hält die Festplatte am Drehen
VON PETER CÜPPERS
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Für die Suche nach einem Begriff wollte ich nicht aufstehen und das Lexikon aus dem Bücherschrank holen. Also gab ich das Wort bei Google ein, und einer der ersten Einträge verwies auf Wikipedia. Mit dem Klick dorthin ist es dann passiert: Nach dem Durchlesen des Artikels habe ich herumgestöbert, um anhand von mir bekannten Themen festzustellen, ob man ganz allgemein diesem Machwerk trauen kann.
Bis auf einen Kommafehler und eine etwas verunglückte Formulierung verlief das erfolgreich. Nach wenigen Minuten war klar, wie man diese Fehler korrigieren kann - und schon ist man süchtig. Das war mein ganz unspektakulärer Weg zur Wikipedia, wie er sicherlich für viele heutige Mitarbeiter typisch ist.
Es folgte die Registrierung, die Änderungen wurden umfangreicher, neue Artikel entstanden, und bald kam eine Anfrage, in der »Redaktion Chemie« mitzuwirken. Dort und auch in anderen Bereichen galt es, neben Sachbeiträgen und -korrekturen diverse Formulierungen präzisier, logischer und omatauglicher (also für Leser »ohne mindeste Ahnung«) zu machen.



MC256

Vokabeln:


MC257

Wichtig war und ist es, dass die eigenen Formulierungen Bestand hatten und haben; denn wenn man sich um Verbesserungen bemüht, die von anderen nicht als solche bewertet und deshalb wieder zurückgesetzt, geändert oder gelöscht würden, hätte man bald die Lust an dieser Tätigkeit verloren.
Hier zeigt sich ein systemimmanentes Regulativ von Wikipedia, was automatisch eine ständige Vervollkommnung zur Folge hat: Bestand haben nur solche Texte, die von den anderen Benutzern akzeptiert werden. Als Autoren verbleiben diejenigen, deren Texte Bestand haben.
Die zahlreichen Möglichkeiten innerhalb von Wikipedia, mit anderen Kontakte zu pflegen, Konsens zu suchen, Fragen zu stellen oder Details zu klären, tragen dazu bei, dass gute Artikel entstehen und dass man diese Arbeit gern macht. Inzwischen kenne ich einige Mitstreiter persönlich: bei der »Redaktion Chemie« infolge meiner Teilnahme an einigen der jährlichen Treffen sowie bei örtlichen Stammtischen in Ostwestfalen-Lippe und in meiner Heimatstadt Dresden.
Zum Thema Mitarbeit im Alter: Man lernt jeden Tag noch etwas Neues, hält seine Festplatte am Drehen, kommuniziert mit anderen und freut sich, wenn man gefragt wird bzw. noch gefragt ist.
Hinzu kommt aber auch die persönliche Situation: Meine Frau ist pflegebedürftig und benötigt ständige Aufsicht. Somit kann ich das Haus nur verlassen, wenn jemand das übernimmt. Aufpassen und den PC bedienen ist jedoch gleichzeitig möglich, was für andere Tätigkeiten weniger gelten dürfte. So erklären sich die knapp 14.000 Bearbeitungen in rund 1.700 Tagen, womit ich wohl der aktivste unter den ältesten Wikipedianern bin.



MC258

Vokabeln:


MC259

Der Traum von einer eigenen Enzyklopädie
VON NANDO STÖCKLIN
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Etwa acht Jahre war ich alt, als ich mein erstes Lexikon erhielt. Ich liebte es so sehr, dass ich es in die Ferien mitnahm. Immer wieder blätterte ich darin, las einzelne Artikel, übersprang andere. Plötzlich kam ich auf die Idee, selbst ein Lexikon zu verfassen. Ich schrieb Artikel ab, fasste zusammen, dachte mir andere Themen aus, zu denen ich einen Eintrag verfassen wollte. Bald begriff ich, wie viel Arbeit es kosten würde, ein Lexikon zu schreiben. Ich kam nur sehr schleppend voran. So wandte ich mich anderen Dingen zu, und das eigene Lexikon war schon bald vergessen.
In meiner Jugendzeit begann ich mich immer intensiver mit nordamerikanischen Indianern zu beschäftigen. Ich legte mir einen Ordner an - einen physischen - und sammelte lexikalische Informationen zu Indianervölkern. In Fachbüchern waren allerdings oft nur Hinweise zum historischen Leben der Indianer zu finden, Aktuelles entdeckte man in der damaligen internetlosen Zeit kaum. Auch dieses Projekt versandete. Immerhin entschloss ich mich, das Thema in einem EthnologieStudium zu vertiefen.



MC260

Vokabeln:


MC261 - MC270

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MC261

2003 stieß ich auf Wikipedia. Neugierig begann ich einige Änderungen zu machen und legte bald einen ersten Artikel an. Gut erinnern kann ich mich an den Eintrag, den ich zum Yellowstone-Nationalpark schrieb. Er bestand aus einem einzigen Satz:
»Der in den US-Bundesstaaten Wyoming, Montana und Idaho gelegene Yellowstone-Nationalpark wurde am 1. März 1872 gegründet.«
Eine Viertelstunde später ergänzte ein Benutzer mit dem Pseudonym »Fristu« den Artikel um zwei Sätze:
»Er ist berühmt für seine vulkanogene Landschaft mit Geysiren, Schlammtöpfen und heißen Quellen. Er ist Rückzugsgebiet für selten gewordene Tierarten, z. B. Bisons.«
Wiederum eine Viertelstunde später fügte »Head« den Link zur offiziellen Website des Nationalparks an. Ich war begeistert! Mit dieser konstruktiven Zusammenarbeit sollte es doch tatsächlich möglich sein, ein wirklich gutes Lexikon zu schaffen! Über das Potenzial des Projekts war ich mir damals bei weitem nicht im Klaren. Wir freuten uns über den vierzigtausendsten Artikel, freuten uns über die gemeinsame Arbeit und dachten kaum an die Zukunft. Vermutlich wagte damals niemand zu hoffen, dass wir einige Jahre später bereits die Millionengrenze überschreiten würden, und schon gar nicht, dass unser kleines Projekt dann zu den zehn weltweit am häufigsten aufgerufenen Websites gehören könnte.


MC262

Vokabeln:


MC263

»Wikipedia and I«
VON ASAF BARTOV
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2001 berichtete mir ein internetaffiner Freund von einer seltsamen Website - Wikipedia, wo eine Enzyklopädie durch gemeinschaftliche Zusammenarbeit in einem Wiki entstehen sollte. Ich hatte bereits vorher mit Wikis gearbeitet, denn ich bin ein Freund von Freier Software und Offenen Inhalten (so habe ich beispielsweise 1999 das Projekt »Ben-Yehuda« gegründet, um Freiwilligen das Sammeln von gemeinfreien Texten auf Hebräisch zu ermöglichen), und dennoch erschien mir der Ansatz lächerlich. Ich sagte meinem Freund: »Ich wünsche ihnen viel Glück, aber es wird nicht funktionieren. Das Internet wird immer unübersichtlicher, und es gibt zu viel Vandalismus. Und, wichtiger noch, eine solche Zusammenarbeit vieler Menschen wird nie dazu führen, dass komplizierte, umstrittene Themen wie der israelisch-arabische Konflikt angemessen bearbeitet werden können.«
Mein Freund antwortete: »Möglicherweise hast du recht, aber ich folge dem Projekt bereits seit einigen Wochen, und es läuft gut und hat Potenzial.« Das machte mich neugierig, und so besuchte ich Wikipedia, um einen Blick darauf zu werfen. Ich war von der Seriosität beeindruckt, mit der die freiwilligen Mitarbeiter das Projekt behandelten, und fand zudem die Grundprinzipien wie »Geh von guten Absichten aus« oder »Neutraler Standpunkt« überaus faszinierend. Nicht zuletzt deshalb bearbeitete ich ein paar Artikel aus Themenbereichen, in denen ich mich gut auskenne, las einige Diskussionen und Hilfsseiten, machte mir allerdings nicht die Mühe, mich anzumelden. Ich schaute im Abstand von einigen Monaten vorbei und nahm, weiterhin anonym, kleine Korrekturen vor.
Im Jahr 2003 - ich hatte mir inzwischen ein Benutzerkonto zugelegt - war ich vom Erfolg des Wikipedia-Modells überzeugt. Wikipedia gedieh nicht nur auf Englisch, sondern auch in anderen Sprachen wie Französisch und Deutsch. Für mich war offensichtlich, dass Wikipedia eines Tages das gedruckte Universallexikon (nicht aber die Fachlexika) ersetzen wird.



MC264

Vokabeln:


MC265

Im Sommer desselben Jahres hatte ein Student in meinem Heimatland Israel beschlossen, es wäre an der Zeit, eine hebräische Sprachversion von Wikipedia zu gründen. Er übersetzte die Software ins Hebräische, eröffnete das entsprechende Wiki und begann mit dem Artikel »Mathematik«. (Das war ein sehr passender Auftakt, denn der griechische Wortstamm »mathema« bedeutet »Lernen«.)
Als ich davon erfuhr, dachte ich sofort: »Das ist absurd! Wikipedia funktioniert (überraschend genug) auf Englisch, Französisch und Deutsch, aber Hebräisch? Sieben Millionen Muttersprachler sind einfach nicht genug, um eine verlässliche Mitarbeiterbasis herzugeben. Außerdem würden Israelis die Bearbeitung von Wikipedia als >etwas für nichts tun< empfinden. Und dann der ganze Vandalismus! Und natürlich würde die Politik alles ruinieren! Nein, es ist zum Scheitern verdammt! Es macht keinen Sinn, das auch nur zu probieren - alles vergebliche Bemühungen. Wir sollten lieber die englischsprachige Wikipedia weiter verbessern.«
Aber in einem anderen Teil von mir regte sich Widerstand: »Das stimmt zwar alles, aber dennoch - wenn die hebräische Wikipedia scheitert, soll es nicht an mir gelegen haben. Ich sollte mitmachen, um zu sehen, wie es läuft. Es ist meine Pflicht als Wikipedianer.« Also meldete ich mich an und schrieb einige Artikel in meinem Fachbereich (Klassiker) - Homer, Ilias, Herodot, Thukydides usw.
Zu meinem völligen Erstaunen (wirklich!) hob die hebräische Wikipedia ab, neue Mitarbeiter tauchten auf, eine Gemeinschaft entstand, und ich ertappte mich dabei, immer häufiger dort zu arbeiten. Ein paar Wochen später fing ich an, mich für andere Wikimedia-Aktivitäten zu interessieren - alles, was mit der Vision der Bewegung (allen Menschen Zugang zu Freiem Wissen in ihrer eigenen Sprache ermöglichen) über die reine Artikelarbeit hinaus zu tun hatte: Bildungsanstrengungen, politisches Engagement, Fundraising, technologische Entwicklung, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, internationale Zusammenarbeit, Forschung usw.
Im Jahr 2008 trat ich in Wikimedia Israel, die Landesvertretung der Wikimedia Foundation, ein und bin jetzt sogar ein Vorstandsmitglied. Dadurch konnte ich ergiebige und inspirierende Dialoge mit Kollegen aus aller Welt führen, spannende Veranstaltungen organisieren, Vorträge halten und an diversen Projekten in Israel mitarbeiten. Ich hatte sogar die Gelegenheit, im Zuge einer israelischen Studentenexpedition eine bebilderte Wikipedia-Artikelsammlung auf CD an Kinder in Kamerun und Benin zu verteilen, die über keinen Internetanschluss verfügen.
Je mehr ich mich für Wikimedia engagiere, desto beeindruckter bin ich von diesem monumentalen Projekt des menschlichen Wohlwollens und desto mehr verschreibe ich mich der Förderung seiner Vision: der Zusammenarbeit einer Gemeinschaft zum Wohle aller, nur auf der Grundlage von Spenden, um die Server am Laufen zu halten und die kleine hauptamtliche Belegschaft zu entlohnen.



MC266

Vokabeln:


MC267

Ich lade Sie ein, unsere Arbeit nach Kräften zu unterstützen! Egal ob Sie online Zeit in die Mitarbeit an den Wikimedia Projekten investieren oder offline Freiwilligenarbeit in Ihrer Landesvertretung leisten. Und natürlich können Sie auch Geld spenden. Sie könnten durch Ihren Einsatz nämlich das Leben von Menschen grundlegend und nachhaltig verändern, wie anhand dieser anonymen Kurzgeschichte deutlich wird:
Ich wurde vor 22 Jahren in eine abgeschottete religiöse Gemeinschaft hineingeboren, die eine Mauer zwischen mir und meiner Umwelt aufrechterhielt. Mit 20 Jahren Rückstand bezüglich Allgemeinbildung und sozialer Kompetenz hatte ich keine guten Aussichten in dieser modernen Welt. Aber dann entdeckte ich Wikipedia und mit ihr die Freude am Wissen und am Leben selbst. Jetzt, nur zwei Jahre später, bin ich Student, ein vollwertiger Staatsbürger und mir der Kultur und Politik des 21. Jahrhunderts bewusst - eine Welt, über die ich damals überhaupt nichts wusste. Ich werde den Tag im Jahr 2008 nie vergessen, als ich erstmals Wikipedia betrat und die Freiheit erfuhr, endlich selbständig zu denken und zu entscheiden. Ich wuchs in Jerusalem, in einer Familie der ultraorthodoxen chassidischen Bewegung »Gur« auf. Ich hatte keinerlei Zugang zu allgemeinen (nicht religiösen) Büchern oder Nachschlagewerken. Die Mathematikkenntnisse, die mir bis zum 13. Lebensjahr vermittelt wurden, beschränkten sich auf die vier Grundrechenarten. Danach wurde ich ausschließlich in Religion unterrichtet. Ich hatte noch nicht einmal das Wort »Physik« gehört, bevor ich in Wikipedia darauf stieß.
Selbst die Beherrschung des Hebräischen - sowohl Landessprache als auch die Sprache der Tora - wurde mir während meiner Schulzeit nicht vernünftig beigebracht. Wikipedia entdeckte ich, kurz nachdem ich erstmals auf das Internet aufmerksam geworden war und den für mich selbstverständlichsten Suchbegriff »Gur Hassidim« eingetippt hatte, um zu sehen, was »die anderen« über uns schreiben. Ich war überrascht, eine zutreffende und umfassende Darstellung dieser kleinen israelischen Minderheit (insgesamt 12 ooo Haushalte) vorzufinden. Dieser Eintrag begeisterte mich für die Wikipedia, und nachdem ich alles über die großen Rabbiner und Anführer meiner Religionsgemeinschaft gelesen hatte - zweifelsohne Helden und kulturelle Ikonen fing ich damit an, andere Artikel aufzurufen. Schließlich zogen mich insbesondere Mathematik und Physik in ihren Bann. Der erste Artikel, den ich für die Wikipedia auf Hebräisch schrieb, war über Hippasos von Metapont.
Ich bin inzwischen ein aktiver Wikipedianer, der sowohl Artikel schreibt und bearbeitet als auch Inhalte überwacht. Meine Interessensgebiete sind Mathematik, Informatik, jüdische Religion und Archäologie des Nahen Ostens. Außerdem studiere ich derzeit Informatik an einer Universität in Israel.


MC268

Vokabeln:


MC269

Wikipedia - der erste Schuss ist gratis
VON TORSTEN KLEINZ
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Vorwurfsvoll starrt er mich an. Blau oder rot hängt er da und starrt mich an.
Er ist nur einer von über 100 Links auf der durchschnittlichen Wikipedia-Seite - aber er ist besonders. Er heißt »Beobachtungsliste« und ist der Fluch meiner langen Tage und kurzen Nächte. Klicke ich auf ihn, bekomme ich eine Liste der Artikel geliefert, die mich interessieren - und mit denen gewöhnlich irgendjemand wieder etwas Schreckliches angestellt hat.
Wer hätte gedacht, dass Links vorwurfsvoll starren können? Damals, als ich mich bei Wikipedia angemeldet hatte, war ich naiv. Ein paar Tippfehler habe ich noch ohne Anmeldung ausgebessert - aber als ich eine Frage zu einem Artikel hatte, blieb mir nichts übrig, als mich doch anzumelden. Schließlich wollte ich ja auch eine Antwort bekommen. Es war der Einstieg in eine Suchtkarriere. Wir kennen das aus billigen ZDF-Krimis: Nur der erste Schuss ist gratis. Danach musst du zahlen.
Der Tribut an die Wikipedia: Wer einen Artikel begonnen hat, ist für ihn verantwortlich. Fortan wird jede kleine Veränderung an dem Artikel in die Beobachtungsliste geschaufelt. Sicher - man könnte es ignorieren. Aber es erfordert Willenskraft, nicht nachzuschauen, was andere mit dem eigenen Artikel, mit der eigenen Arbeit gemacht haben. Noch schlimmer ist die teuflische Schwester der Beobachtungliste: »Eigene Beiträge« verzeichnet jede Änderung, die du je gemacht hast - egal ob Diskussionsbeitrag, Rechtschreibfehler oder Quellennachweis -, und natürlich die Änderungen, die nach dir kamen. Hat jemand deine Ergänzung rückgängig gemacht? Den klaren Satz in Geschwurbel verwandelt? Einen falschen Vornamen ergänzt? Schau lieber nach. Wenn du es nicht korrigierst, wird es vielleicht niemand anderes tun. Und das ist einfach falsch.



MC270

Vokabeln:


MC271 - MC280

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MC271

Oft wird von der Wikipedia als dem »wisdom of the crowd« oder der »Weisheit der vielen« gesprochen. Wer wirklich in der Online-Enzyklopädie aktiv ist, hat es jedoch viel mit der Dummheit der vielen zu tun. Schüler, die das Wort »Fotze« mitten in den Artikel über das Bruttosozialprodukt setzen. Früh-"' rentner, die den Frust ihres Lebens niederschreiben. Professoren, die nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch die Gepflogenheit des peer review und der wissenschaftlichen Zitierweise längst vergessen haben. Trolle. Das hive mind hat ein hive mindless geboren.
Der Klick auf die Beobachtungsliste zeigt zwar auch sehr viel Ermutigendes-Artikel wachsen, Quellen werden ergänzt, Leute machen sich sehr viel Arbeit -, aber wenn dann zum fünfzigsten Mal jemand einen Link auf sein Blog in den Artikel schmuggelt, um sein Google-Ranking zu erhöhen, dann zweifelt jeder mal.
Oft wird darüber gerätselt, warum die Millionen Artikel in der Wikipedia von scheinbar so wenigen Autoren geschrieben werden. Die Erklärung scheint mir klar. Die einen haben einen Account angelegt und gesehen, was die Beobachtungsliste mit einem Menschen anstellen kann. Sie entschieden sich richtig und zogen von dannen. Die anderen gaben nach und schufen das größte Nachschlagewerk der Weltgeschichte.
Mein eigener Wikipedia-Account liegt seit Jahren still. Die Existenz als anonyme IP ohne Verantwortung und schlechtes Gewissen liegt mir dann doch mehr.



MC272

Vokabeln:


MC273

Damenfang
VON BENUTZER:KÖNIGSGAMBIT
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Als ich mit meinen zwölf Jahren im Jahr 2007 bei Wikipedia anfing, da hatte ich noch gar keine konkrete Vorstellung davon, wie Wikipedia funktioniert oder was für Arbeit auf mich zukommen würde. Alles, was ich wusste, war, dass ich gern schreibe. Das Internet hatte ich jetzt erst als neues Medium entdeckt, und Wikipedia war wohl die erste Seite, die mich an den Bildschirm fesselte. Nun ja, dachte ich mir, man kann es mal versuchen. Also erstellte ich mein Benutzerkonto - »Königsgambit«, benannt nach einer aggressiven Eröffnung im Schach. Meine ersten Versuche, etwas auf Wikipedia beizutragen, waren noch äußerst unbeholfen. Zu wenig Ahnung hatte ich von Relevanzkriterien, zu wenig wusste ich, was einen guten Schreibstil ausmacht, und die Frage, wie man einen neutralen und objektiven Artikel erstellt, hatte ich mir noch gar nicht gestellt.
Wie der geneigte Leser sich mit Sicherheit denken kann, war mein erster Artikel zum Scheitern verurteilt, denn der von mir verfasste Text »Mikrowellenwaffen« stand im Plural, war unglaublich subjektiv und fast vollständig aus einer regionalen Boulevardzeitung abgeschrieben. Die Reaktion der WikipediaGemeinschaft erfolgte nach drei Minuten mit der Begründung »POV-lastiger Artikel, Quellen?« Natürlich war dieser Löschantrag mehr als berechtigt, aber ich mit meinen zwölf Jahren verstand erst einmal nur Bahnhof - glaubte ich doch, einen guten Beitrag geleistet zu haben. Die Frustration war groß, doch nun war mein Ehrgeiz geweckt, und ich hatte die Erkenntnis hinzugewonnen, dass man eben nicht - wie viele Menschen glauben - einfach so irgendwas in dieses Online-Lexikon reinschreiben kann.
Der zweite Versuch, etwas Sinnvolles beizutragen, war der Artikel »Damenfang«. Diesmal hielt sich der Artikel ganze elf Minuten, bis schließlich der erste Löschantrag eintrudelte. Doch ich hatte mir mehr Mühe gegeben, und so wurde der Artikel schließlich verbessert, in einen anderen eingebaut und das von mir erstellte Lemma »Damenfang« zu einer Weiterleitung zum Artikel »Dame (Schach)« umfunktioniert. Durch diese beiden Situationen habe ich viel über Wikipedia gelernt. Es reicht eben nicht aus, ein paar Zeilen ohne Quellen hinzuschmieren, sondern Wikipedia lebt von guter und seriöser Autorenarbeit und nicht von Selbstdarstellern. Aufgrund meiner Erfahrungen ist mir auch klar geworden, dass man verständnisvoll und ruhig mit Neulingen umgehen muss, die sich zunächst - ebenso wie ich damals - nur sehr eingeschränkt an die Regeln halten. Denn ein guter Autor zu werden ist ein Lern- und Reifeprozess. Ohne das Verständnis von anderen Wikipedia-Mitgliedern und die sachlichen und geduldigen Versuche, mir zu erklären, was ich besser machen kann, wäre ich wohl nach meinem misslungenen ersten Artikel nicht mehr aktiv. Diese Erfahrungen waren der Grundstein meiner Mitarbeit - und dafür bin ich sehr dankbar!


MC274

Vokabeln:


MC275

Wikipedia: Ein persönlich gefärbter (was sonst?) Erfahrungsbericht
VON MICHAEL KÜHNTOPF
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Ich habe keine konkrete Erinnerung mehr, wann mir Wikipedia zum ersten Mal begegnete, aber ich vermute, es war 2005. Ich habe auch keine konkrete Erinnerung mehr, wann mir zum ersten Mal - nach den ersten Begegnungen - klarwurde, was Wikipedia eigentlich ist. Ich vermute, es war 2006. Von da an war es nicht mehr weit, bis mir endlich auch aufging, dass Wikipedia ein Gemeinschaftsprojekt ist, an dem jeder mitwirken kann, darf und soll.
Von klein auf haben mich Bücher, und insbesondere Enzyklopädien, Wörterbücher, dicke Wälzer jeder Sorte und in allen möglichen Sprachen, fasziniert. Bereits vor dem Studium erstand ich - nachdem ich mir schon verschiedene mehrbändige Enzyklopädien hatte schenken lassen - die 25-bändige Brockhaus-Enzyklopädie (das war damals für mich ein Haufen Geld) und war schnell in Kontakt mit der Redaktion, weil ich nämlich akribisch alle entdeckten Fehler per Postkarte oder, falls zu viele, per Brief artig und regelmäßig meldete.
Mein Einstieg in Wikipedia erfolgte als Sprung ins kalte Wasser, da ich weder die Software oder Syntax noch irgendwelche Regeln oder Vereinbarungen kannte. Ich betrachtete einfach den Quelltext und bildete ihn für meine Artikel nach. Anfangs war ich als IP und unter wechselnden Identitäten unterwegs und spielte sowohl mit den Identitäten wie auch mit den Regeln und dem, was geht oder eben nicht geht. Klar, dass ich sofort und mehrfach aneckte (was bis heute so geblieben ist).
Endlich meldete ich mich unter meinem Klarnamen ohne Verwendung eines verschleiernden Pseudonyms an. Das war im Dezember 2007. Seither hat mich die Wikipedia, übrigens nicht nur die deutschsprachige, nicht mehr losgelassen. Wikipedia läuft immer im Hintergrund, wird ständig beobachtet und häufig bearbeitet. Berufliche und private Interessen muss ich nicht trennen, sie verschmelzen, und das ist auch gut so, denn nicht jeder ist in dieser privilegierten Position.



MC276

Vokabeln:


MC277

Meine persönlichen Erfahrungen als Wikipedia-Autor lassen sich von den Erfahrungen als Leser und Rezipient nicht trennen, es ist ein und dieselbe (Medien-)Wirklichkeit, in der man sich bewegt. Es ist ein Geben und Nehmen. Je länger man sich in Wikipedia als Autor bewegt, umso mehr hat man Wikipedia auch passiv wahrgenommen bzw. rezipiert, verdaut und (hoffentlich) verarbeitet. Es ist ein unaufhörliches, ewiges Lernen, indem man bereichert wird, aber auch andere bereichert. Es handelt sich um ein stetig wachsendes Universum, eine faszinierende (Parallel-?)Welt.
Wo aber Menschen und ihre verschiedenen Ansichten aufeinanderstoßen, geht es nicht ohne Konflikte, ohne Rempeleien und Schlimmeres ab. Wie im wirklichen Leben gibt es Schmähungen, Stalking und Mobbing. Die Frage, wie man sich in solch einem Haifischbecken miteinander konkurrierender Alphatiere verhält, ist eine Frage des persönlichen Temperaments, der je eigenen Streitkultur und Konfliktlösungsstrategien. Ich selbst war von Anfang an - heute noch mehr als früher, weil man sich als selbstbewusste Kämpfernatur vor Konflikten nicht scheut stärksten Anfeindungen ausgesetzt, die bis jetzt aber noch immer irgendwie an mir abgeprallt sind. Die hartnäckigsten »Feinde« halte ich rundheraus für böswillige und häufig unfähige Zeitgenossen, die ich nicht ernst nehmen kann. Die große schweigende Mehrheit hat in der Regel eine andere Meinung, bezieht aber nicht Stellung.
Zu meinen Hauptkonfliktfeldern gehört mangelnde Akzeptanz bürokratischer Überregulierung wie beispielsweise beim Streit um das typographische Kreuzzeichen zur Kennzeichnung des Todesdatums in jüdischen Biographien (Verwendung des genealogischen Kreuzzeichens). Das war sicher eine der erbittertsten Debatten, die innerhalb der deutschsprachigen Wikipedia je ausgefochten wurden (die Diskussion ergibt ausgedruckt rund 175 DIN-A4-Seiten).
Was mir an Wikipedia gefällt: Man lernt und lernt und lernt. Man erweitert seinen Horizont. Besonders das Hin- und Herspringen zwischen den unterschiedlichen Sprachversionen eines Artikels sagt oft mehr als tausend Worte, wenn man kulturelle und sonstige Unterschiede erkennen möchte. Die im Hintergrund von Wikipedia tobenden Debatten sind zwar einerseits total enervierend, aber dadurch, dass sich dort eine Vielzahl höchst intelligenter, kreativer und gebildeter Leute regelmäßig einfindet, ist es häufig ein intellektueller Genuss erster Güte, an den »Schlachten« beobachtend oder »kämpfend« teilzunehmen. Der ideale Platz für psychologische, soziologische, kulturwissenschaftliche etc. Feldforschung und dabei kein Studium der Vergangenheit, sondern Teilnahme am Hier und Jetzt. Leben pur.


MC278

Vokabeln:


MC279

Warum ich immer noch mitspiele
VON BENUTZER:GRIPWEED
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Zehn Jahre Wikipedia. Fünf Jahre bin ich jetzt aktiv, davon ein Jahr als Administrator. Wenn ich im sogenannten »Real Life« darüber berichte, gibt es meist zwei Reaktionen. Eine ist die Aussage: »Das ist ja spannend! Erzähl mir mehr davon.« Die zweite Reaktion, und die, bei der ich oft in Verlegenheit gerate, ist die Frage: »Warum tust du dir das an?«
Ja, warum tue ich mir das an? Diese Frage beschäftigt meine grauen Zellen schon länger. Warum tue ich mir das jeden Tag aufs Neue an? Lasse mich beschimpfen, mache Unsinn rückgängig, führe mehr oder minder sinnvolle Diskussionen und verbringe einen großen Teil meiner Freizeit vor dem Eingabefenster der größten Enzyklopädie aller Zeiten. Und dann auch noch seit einem Jahr als Administrator. Ich bin also mittlerweile ein Teil der Putztruppe oder der Willkürherrscher. Je nachdem, wen man fragt. Und wofür?
Um diese Frage zu beantworten, muss ich zurück an den Anfang gehen. Vor fünf Jahren war ich mit dem Verfassen einer Diplomarbeit über rechtsextreme Tendenzen in der HeavyMetal-Szene beschäftigt. Ich hatte sie als reine Internet- und Literaturrecherche geplant, sodass ich immer auf der Suche nach Seiten war, die mir einen Überblick gaben. Und so landete ich auch auf Wikipedia und zwar sehr oft. Gerade in jener Phase, die der Journalist Günter Schuler später als Zeit der Krisen umschrieb - um das Jahr 2005 -, als die ersten Skandale aufkamen, die Presse negativ über das Projekt berichtete und die Benutzer zahlen weitestgehend stagnierten. Davon merkte ich wenig, hatte ich doch dieses Medium gerade erst für mich entdeckt.
Es war die Grundidee, die mich ansteckte: Freies Wissen für jeden! Die Möglichkeit, Teil von etwas Größerem zu sein. Mit meinem Wissen dafür zu sorgen, dass andere ihr Wissen vergrößern, aber auch von anderen lernen. Neues entdecken und Altes hinterfragen. Kurzum: Ich begann, mich einzuarbeiten. Etwas blauäugig, aber lernfähig. So wurde ich Teil der Community und verwendete immer mehr Zeit darauf. Waren es zunächst nur ein paar kleinere Verbesserungen, entstanden die ersten Artikel etwa ein Jahr später. Irgendwann verging kaum noch ein Tag, an dem ich nicht im Projekt tätig war. Während dieser Zeit sah ich Leute kommen und gehen. Manche leise, manche etwas lauter. Viele gingen frustriert, andere dachten, ihre Arbeit wäre getan. Aber meinen Enthusiasmus habe ich während der letzten fünf Jahre nicht verloren.



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Was aber bringt die Arbeit am Projekt mir persönlich? Nun, in erster Linie ist es eine Freizeitbeschäftigung. Mit alldem, was auch jedes andere Hobby so mit sich bringt. Die einen sammeln Briefmarken, ich schreibe eben Artikel. Gelernt habe ich während dieser Zeit viel. Insbesondere hat die Beschäftigung natürlich zur Entwicklung eines eigenen Schreibstils geführt. Wie strukturiere ich eine schriftliche Arbeit? Wie formuliere ich etwas so, dass es andere verstehen? Solche Kompetenzen kann man selten gefahrlos üben. Ich habe Dinge über Grammatik und Rechtschreibung gelernt, die man sonst nirgends vermittelt bekommt. Nicht zuletzt ist es auch Teamfähigkeit, die man erlernt. Man muss es aushalten, dass eigene Texte überarbeitet werden, in manchen Fällen auch komplett, wonach man sein »eigenes Werk« nicht mehr wiedererkennt. Das Tolle an der Wiki-Arbeit ist, dass jeder »Experte« für irgendwas ist. Der eine bügelt meine Rechtschreibfehler aus, der andere ergänzt Kategorien. Dieses Zusammengreifen verschiedener Hände, gebündelte Kräfte, ist eine tolle Sache. Man muss lernen, Kompromisse einzugehen, eigene Ansichten im Sinne des »Neutralen Standpunkts« zurückzustellen. Man lernt außerdem einiges über Diskussionskultur, über offene und verdeckte Angriffe, den Aufbau von Argumentationen, über die richtige und falsche Art der Kritik.
Um es kurz zu machen: Nein, uneigennützig ist meine Arbeit am Projekt nicht. Brotlos vielleicht, aber sie bringt auch eine Menge Spaß mit sich. In diesem Sinne: Auf die nächsten zehn!


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Der Büchermessie
VON LUTZ HARTMANN
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Wikipedia ist auch etwas für Sammler. Ich habe schon als Jugendlicher angefangen, Briefmarken zu sammeln, und im Erwachsenenalter kamen Ansichtskarten hinzu, die ich bei allerlei Reisen erwarb. Seit ich zur Wikipedia stieß, haben sich die Schwerpunkte verschoben. Ich schreibe im Bereich Philosophie, obwohl ich in einem kaufmännischen Beruf tätig bin. Mein Bücherbestand zur Philosophie beschränkte sich bis dahin auf wenige Titel. Aufgrund meiner Arbeitszeiten komme ich selten in eine Bibliothek.
Als ich im Jahr 2005 sehen wollte, was auf Wikipedia zu Immanuel Kant stand, fand ich den Artikel ziemlich schwach. Also habe ich mir eine Einführung gekauft, diese gelesen und auch einige Korrekturen und Ergänzungen im Artikel vorgenommen. Dabei wurde gleich meine erste Bearbeitung, die einen Hinweis auf die Quelle enthielt, mit dem Hinweis auf einen »URV-Verdacht« (Urheberrechtsverletzung) rückgängig gemacht. Da ich mir keiner Schuld bewusst war, hielt ich dagegen und klärte das Missverständnis auf. Möglicherweise ist es diesem Umstand zu verdanken, dass ich Wikipedia interessant zu finden begann.



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Ich habe einigermaßen schnell gemerkt, dass man mit nur einer Einführung nicht allzu weit kommt, um ein Thema sachgerecht darzustellen, vor allem, wenn man nicht auf die Originalwerke des behandelten Philosophen zurückgreifen kann. Also kamen noch einige Bücher hinzu, vor allem die WeischedelAusgabe von Kants Werken. So konnte ich den Artikel weiter ausbauen, bis er als »lesenswert« ausgezeichnet wurde. Mittlerweile hatte ich Blut geleckt und mich auch an anderen Themen versucht. Hinzu kamen Artikel über Johannes Duns Scotus, Charles Sanders Peirce, das Universalienproblem, die Transzendentalphilosophie oder die Gerechtigkeit. Besonders viel Spaß hat mir der Artikel zu Karl Jaspers gemacht, weil mich ein anderer Wikipedianer durch ständiges Nachfragen zu immer weiteren Forschungen angetrieben hat. Stolz bin ich auch, dass ich einmal mit dem etwas abseitigen Thema »Methodischer Kulturalismus« den Schreibwettbewerb gewonnen habe. In meinem angestammten Fach habe ich mich mit dem Artikel über die Deutsche Bank bewegt. Ein bisschen Lokalpatriotismus steckt in den Artikeln zu meiner Heimatstadt Moers und meiner alten Schule, dem Gymnasium Adolfinum Moers.
Für alle diese und noch viel mehr Artikel war es natürlich erforderlich, weitere Literatur zu beschaffen. Bei jedem größeren Thema waren es fünf, zehn oder auch mehr Titel. Selbstverständlich mussten auch Speziallexika her. Eigene Bücher haben zudem den Vorteil, dass man darin schreiben und herummalen kann.
Inzwischen kann ich auf eine kleine, solide Bibliothek zur Philosophie mit deutlich mehr als tausend Bänden zurückgreifen. Und das Wachstum nimmt kein Ende. Das Problem ist, dass Bücher einen viel größeren Platzbedarf haben als Briefmarken oder Postkarten. Und es ist ja nicht allein die Philosophie. Da gibt es noch jede Menge Schulbücher, Mathematik, Geschichte, Biographien, WiSo, Belletristik und die Krimis bei uns zu Hause. Nicht nur im Arbeitszimmer, sondern auch im Wohnzimmer, im Schlafzimmer und an der Eckbank in der Küche finden sich die Spuren meines neuen Hobbys. Inzwischen stöhnt die Familie schon, wenn ich berichte, dass ich mich einem neuen Thema zuwenden möchte. Meine Frau bedauert ziemlich, dass ich die Internetantiquariate entdeckt habe. Doch die mit Büchern überfüllte Wohnung ist nur die eine Seite der Medaille. Ich habe nämlich nicht nur Bücher, sondern auch Wissen angesammelt und mir völlig neue Perspektiven eröffnet. Denn wenn ich schreibe und ein Thema systematisch aufbereite, lerne ich. Nur Lesen bringt da viel weniger. Und ein paar interessante Menschen habe ich auch kennengelernt, bei der Vergabe der Zedler-Medaille, an lokalen Stammtischen oder beim »Philosophentreifen« bei uns zu Hause. Und das ist das Schöne an der Wikipedia.



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Wikipedia-Momente
VON GEREON KALKUHL
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An einem gewöhnlichen Arbeitstag hatte ich drei besondere Wikipedia-Momente, und diese ereigneten sich alle am selben Ort. Um sie zu erklären, muss ich ein wenig ausholen.
Als angemeldeter Benutzer der Wikipedia verfügt man über eine persönliche Diskussionsseite, auf der Nachrichten hinterlassen werden können. Man freut sich über diese Nachrichten, denn oftmals sind es Fragen zu den Artikeln, die man schreibt. Wenn es eine neue Nachricht gibt, erscheint auf dem Bildschirm ein großer Balken in leuchtendem Orange, einer starken Signalfarbe.
Die gleiche Farbe findet man auf dem Düsseldorfer Hauptbahnhof. Dort grenzt sie auf den Bahnsteigen die Raucherbereiche von den Nichtraucherbereichen ab. Ich stand eines Morgens an Gleis 14 und wartete auf eine S-Bahn. Noch recht müde überschritt ich die Grenzmarkierung zu einem Raucherbereich, nur halb auf den Boden schauend, und dachte sofort: »Oh, du hast eine neue Nachricht.« Ich schaute auf den Boden, mir der Absurdität meines Gedankens bewusst werdend, und sah dort ein seltsames Insekt sitzen. Es war so groß wie eine Libelle, hatte auch einen hart wirkenden Panzer, aber die Farben einer Hornisse, dazu hier und da rote Segmente. Die Fühler waren lang und gekämmt. Eine Libelle konnte es nicht sein, denn das Insekt hatte keine Doppelflügel, sondern nur zwei große, transparente mit jeweils einem großen dunklen Fleck. Das Tier sah aus wie von einem anderen Planeten und wie nichts, was ich zuvor gesehen hatte. Als ich dann in die S-Bahn einstieg, sah ich auch einen Internationalen Meister des Schachsports einsteigen, den ich schon einmal bei einem Schachbundesligawettkampf getroffen hatte.
Als ich am Abend wieder zu Hause angekommen war, recherchierte ich erst einmal, um was für ein Tier es sich gehandelt haben könnte, und bald war mir klar, dass ich eine sogenannte Kammschnake gesehen hatte. Nun, so wie die fragilen Wiesenschnaken und Riesenschnaken, die wohl das allgemeine Schnakenbild prägen, sieht die Kammschnake ganz und gar nicht aus, sondern einfach nur sehr fremdartig. Da es in der deutschsprachigen Wikipedia keinen Artikel zu den Kammschnaken gab, recherchierte ich weiter, besorgte mir Fachliteratur zu Kammschnaken und schrieb letztendlich den WikipediaArtikel zu diesen Auwald- und Ufergebietbewohnern. Über den Schachmeister, den ich ein paar Sekunden später gesehen hatte an diesem Wikipedia-Tag, schrieb ich auch gleich einen biographischen Artikel für die Wikipedia.
Vielleicht war der erste Gedanke beim Sehen der Abgrenzungsmarkierung für den Raucherbereich also doch nicht so falsch: Du hast eine Nachricht. Schreibe etwas zu den Kammschnaken und dem Schachspieler.


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KOMMUNIKATIONSKULTUR
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Möglichkeiten und Grenzen demokratischer Strukturen in der Wikipedia
VON BENUTZER:STEFAN64
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In den Medien liest man oft, Wikipedia sei eine demokratische Enzyklopädie. Nicht immer wird klar, was damit eigentlich gemeint ist. Oft soll ausgedrückt werden, dass Wikipedia in den vergangenen Jahren zum einen den Zugang zu Wissen vereinfacht hat und zum anderen jedem erlaubt, mit seinem eigenen Wissen dazu beizutragen. Die internen Abläufe sind jedoch vielen Außenstehenden unbekannt. Um ein Bonmot zu zitieren: »Wikipedia ist wie eine Wurst. Man isst sie gern, aber möchte nicht wissen, wie sie hergestellt wird.« Dies gilt mittlerweile nicht mehr für Sozialwissenschaftler, die Wikipedia längst als Forschungsobjekt entdeckt haben und auf mehr oder weniger gut informierter Grundlage zu analysieren versuchen.
Dieser Beitrag soll in allgemeinverständlicher Form einige Beispiele für demokratische Strukturen und deren Grenzen innerhalb der Wikipedia aufzeigen. Zunächst seien zwei scheinbar unvereinbare Positionen schlaglichtartig gegenübergestellt:
• Ist Wikipedia eine Demokratie? Natürlich, was denn sonst? Wikipedia ist ein offenes System, es gehört der Community. Alle, die in freiwilliger Arbeit Inhalte beisteuern und damit den Erfolg des Projekts erst möglich machen, sollten über seine Regeln gleichberechtigt mitbestimmen können.
• Ist Wikipedia eine Demokratie? Natürlich nicht, wie denn auch. Man kann bei Wikipedia anonym mitarbeiten und sogar mehrere Accounts anlegen. Abstimmungen können daher manipuliert werden, da nicht sichergestellt ist, dass pro Person nur eine Stimme abgegeben wird.




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Wikipedia selbst betrachtet sich nicht als Demokratie, sondern als Mischung verschiedener Mitwirkungsmöglichkeiten, aus denen sich im Laufe der Projektentwicklung eine komplexe Machtstruktur entwickelt hat. Zu deren Verständnis ist es wichtig, die Geschichte des Vorgängerprojekts Nupedia zu kennen, das an seinen umständlichen und rigiden Strukturen scheiterte. Wikipedia verfolgte einen radikal anderen Ansatz, der auf maximale Offenheit und schnelles Wachstum setzte. Dabei überwogen anfangs die anarchischen Elemente: Es gab so gut wie keine Regeln, Probleme wurden innerhalb der noch sehr kleinen Community spontan gelöst. Im Artikelbereich gab es so viele Lücken, dass fast die gesamte Arbeitskapazität dort gebunden war. Es entwickelte sich schnell eine Art von Meritokratie. Das bedeutet: Mitarbeiter, die gute Inhalte beisteuerten, erwarben eine Reputation, und ihr Wort hatte auch in Diskussionen Gewicht.
Sobald der Artikelbestand gut genug war, um auch in den Medien positiv wahrgenommen zu werden, was etwa 2004 der Fall war, wuchs die Größe der Community sprunghaft an. Das hatte gute und weniger gute Seiten. Einerseits kamen viele kompetente neue Mitarbeiter zu Wikipedia, die Themenbereiche bearbeiten konnten, für die es bis dahin nicht genügend Experten gab. Andererseits zog Wikipedia auch weniger idealistisch motivierte Mitarbeiter an, darunter Selbstdarsteller und Politaktivisten jeglicher Couleur. Angesichts einer heterogener werdenden Autorenschaft mussten immer mehr Regeln ausgehandelt werden, um die unausweichlichen Konflikte beheben zu können. Dies erfolgte nicht planmäßig, sondern stückweise, und für vieles mussten Kompromisse gefunden werden. Daher stellen sich diese Regeln nicht als durchdachtes Ganzes, sondern als Sammelsurium dar, das für Neulinge heutzutage kaum durchschaubar ist.



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Demokratische Verfahren
Demokratische Verfahren kommen in verschiedenen Bereichen der Wikipedia in unterschiedlichen Ausprägungen vor. :Artikel kann jeder bearbeiten, ohne Identität oder Qualifikation offenlegen zu müssen. Natürlich erwerben regelmäßige Mitarbeiter einen gewissen Ruf, aufgrund dessen ihre Beiträge mehr oder weniger streng von anderen geprüft werden. Wenn Angaben in Zweifel gezogen werden, müssen aber ausnahmslos alle ihre Beiträge begründen, belegen und sich gegebenenfalls einer Diskussion stellen. Das führt übrigens gerade bei hochqualifizierten Autoren gelegentlich zu Frustration, weil ihre Expertise nicht ohne weiteres von anderen anerkannt wird. Im Artikelbereich könnte man Wikipedia als eine Konsensdemokratie bezeichnen. Bestand hat, was auf allgemeine Zustimmung stößt oder zumindest toleriert wird.
Um auch bei kontroversen Themen eine Akzeptanz durch Vertreter verschiedener Meinungen zu erreichen, gilt in Wikipedia das Grundprinzip des Neutralen Standpunktes (NPOV). Das bedeutet, Artikel sollten alle relevanten Aspekte eines Themas in unparteiischer Weise abhandeln, wobei Wertungen lediglich aus qualitativ guten Quellen referiert, nicht aber vom Artikelautor selbst vorgenommen werden sollten. Der hohe Stellenwert dieses Prinzips wird schon daraus deutlich, dass es eines von nur vier unveränderbaren Grundsätzen der Wikipedia ist. Trotzdem kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen über Artikelinhalte, die dann in oft langwierigen Diskussionen geklärt werden müssen. Abstimmungen sind dafür in der Regel nicht geeignet. Die Erde ist keine Scheibe, selbst wenn eine Mehrheit dieser Ansicht wäre.



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Natürlich ist die Frage, ob etwas richtig oder falsch ist, in den exakten Naturwissenschaften einfacher zu beantworten als in anderen Wissensgebieten. Im Bereich der Sozialwissenschaften, die in Wikipedia zu den eher kontroversen Themenbereichen gehören, stellt sich oft die Frage, ob und in welchem Umfang bestimmte Ansichten oder Theorien, die nicht dem wissenschaftlichen Mainstream folgen, Eingang in die entsprechenden Artikel finden sollten. Nutzer mit Informationskompetenz wissen, dass bei solchen Artikeln die Versionsgeschichte und die Diskussionsseite ein Indikator für die Verlässlichkeit des Inhalts sein können. Die dort ausgefochtenen Streitigkeiten mögen für die Beteiligten zwar anstrengend sein, bieten dem Leser aber die Gewähr, dass der Artikel und die dort verarbeiteten Quellen einer genauen Kontrolle unterzogen werden. Ein oft vorgebrachter, nicht ganz von der Hand zu weisender Kritikpunkt ist jedoch, dass sich in solchen Diskussionen oft diejenigen durchsetzen, die am meisten Zeit und Durchhaltevermögen haben, auch wenn ihre Argumente nicht besser sind als die ihrer Kontrahenten.
Ein Sonderfall, bei dem es im Artikelbereich zu Abstimmungen kommt, sind Kandidaturen von Artikeln, die als »lesenswert« oder »exzellent« ausgezeichnet werden sollen. Die Prädikate dienen der Wikipedia nach außen als Aushängeschild, intern als Messlatte für andere Artikel und Anerkennung für die jeweiligen Hauptautoren. Da bei diesen Kandidaturen jeder stimmberechtigt ist, selbst nicht angemeldete Benutzer, sind diese Abstimmungen für Manipulationen anfällig. Es gab durchaus Fälle, in denen versucht wurde, durch Absprachen eine Mehrheit für oder gegen die Auszeichnung eines Artikels zu organisieren. Da reines Stimmenauszählen in solchen Fällen problematisch ist, werden am Ende des Abstimmungszeitraums die Argumente gewichtet, es besteht also ein Ermessensspielraum bei der Auswertung. Dabei führt schon der Nachweis eines einzigen gravierenden Mangels, der nicht abgestellt wurde, in der Regel dazu, dass der Artikel nicht ausgezeichnet wird.




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Auch in Löschdiskussionen geht es nicht um Mehrheiten. Das ist insbesondere Neulingen, deren erster Artikel womöglich gleich zur Löschung vorgeschlagen wird, nur schwer klarzumachen. Es gab einige notorische Fälle, in denen etwa Blogleser aufgerufen wurden, gegen eine Löschung zu votieren, und diesem Appell auch in großer Zahl nachkamen. Wenn ein solcher Artikel dann trotzdem gelöscht wird, ist natürlich sofort die Rede von undemokratischen Verhältnissen bei Wikipedia. Es lassen sich jedoch gute Gründe anführen, warum Löschdiskussionen von einem Administrator ausgewertet werden, der dabei einen gewissen Ermessensspielraum hat. In der nicht ohne Grund sogenannten »Löschhölle« geht es oft unsachlich zu. Bei katastrophal schlechten Artikeln wird in der vagen Hoffnung auf Verbesserung für Behalten votiert, demgegenüber finden sich bei Artikeln über anstößige Themen immer Benutzer, die trotz brauchbarem Inhalt für Löschen plädieren etc. Hier aufgrund von Zufallsmehrheiten zu entscheiden würde dazu führen, dass keine klare Linie mehr erkennbar wäre, was in Wikipedia Bestand haben sollte.
Administratoren sind mit den Qualitäts- und Relevanzkriterien, die in langen Diskussionen entwickelt wurden und ständig fortgeschrieben werden, vertraut und sollten diese im Sinne der Community umsetzen. Natürlich kann es dabei zu Fehlentscheidungen kommen, und sicherlich gibt es Administratoren, die etwas löschfreudiger sind als andere. Daher wurde die sogenannte Löschprüfung geschaffen, in der Entscheidungen nach dem Mehraugenprinzip überprüft und gegebenenfalls revidiert werden. Ein Administrator, der mehrfach falsche Entscheidungen trifft, verliert schnell den Rückhalt der Community.



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Die Wahl der Administratoren ist einer der Bereiche, die am ehesten einer demokratischen Abstimmung im herkömmlichen Sinne entsprechen. Zu den Anfangszeiten der Wikipedia galt der Grundsatz, dass die Ernennung zum Administrator keine große Sache sei und im Prinzip jeder vertrauenswürdige Nutzer die zusätzlichen Funktionen bekommen sollte. Das hat sich im Laufe der Zeit stark geändert. Mittlerweile hat ein Kandidat, der nicht mindestens ein Jahr aktiv mitarbeitet, mehrere tausend Bearbeitungen vorgenommen und einige gute Artikel geschrieben hat, kaum noch eine Chance, gewählt zu werden. Auch die Anforderungen an die Stimmberechtigung sind mehrfach erhöht worden. Das ist ein oft genannter Kritikpunkt, weil damit für Neulinge nicht unerhebliche Hürden errichtet werden. Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass anderenfalls die Gefahr von Manipulationen durch den Einsatz von Mehrfachkonten besteht.
Um einen Kandidaten einschätzen zu können, sollten auch die Abstimmenden über eine gewisse Erfahrung verfügen. Kandidaten werden meist sehr kritisch unter die Lupe genommen und mit allen möglichen Fehlern konfrontiert, die ihnen in der Vergangenheit unterlaufen sind. Ihre Reaktion darauf kann den Ausgang der Wahl entscheidend beeinflussen, denn sie liefert Anhaltspunkte dafür, wie sie sich als Administratoren in Konflikten verhalten werden. Um gewählt zu werden, ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Selbst gute Kandidaten scheitern gelegentlich an dieser Hürde, was natürlich beim Betroffenen zu Frustration führen kann. Andererseits ist dadurch gewährleistet, dass ein breiter Rückhalt in der Community besteht.


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Damit sind Administratoren legitimiert, bei Konflikten einzugreifen. Einer der wichtigsten Grundsätze dabei ist, nicht in eigener Sache tätig zu werden und sich insbesondere durch die zusätzlichen Funktionen keine Vorteile im Streit um Inhalte zu verschaffen. Das ist in Themenbereichen, in denen es nicht viele fachlich qualifizierte Administratoren gibt, nicht unproblematisch, denn durch eigene Mitarbeit an umstrittenen Artikeln kann ein Administrator als befangen gelten und Fehlverhalten anderer Mitarbeiter dann nicht mehr sanktionieren. Ursprünglich wurden Administratoren auf unbestimmte Zeit gewählt und haben ihre Rechte auch bei Inaktivität nicht verloren. Dagegen regte sich Widerstand in der Community, weil erwartet wird, dass Administratoren über Entwicklungen innerhalb der Wikipedia auf dem aktuellen Stand sind. Regelmäßige Wiederwahlen wurden zwar verworfen, weil die Community dadurch permanent mit Wahlen beschäftigt sein würde, die bei guten Administratoren völlig überflüssig wären. Stattdessen gibt es nun Wiederwahlen auf Antrag, sobald eine bestimmte Zahl stimmberechtigter Nutzer das fordert.
In extremen Fällen können die erweiterten Rechte aufgrund einer Abstimmung auch temporär entzogen werden. Absichtlicher Missbrauch kommt allerdings äußerst selten vor. Da alle administrativen Vorgänge in Logbüchern erfasst werden und von anderen Administratoren rückgängig gemacht werden können, kann ein einzelner Administrator keinen dauerhaften Schaden anrichten. Trotzdem kann ein Administrator, der wiederholt zweifelhafte Entscheidungen trifft, zu einer Belastung werden. Es zählt zu den ungeschriebenen Regeln, dass Entscheidungen von Administratoren, sofern sie nicht offensichtlich völlig verfehlt sind, nicht ohne Rücksprache revidiert werden sollten. Dies wird von Kritikern gern so interpretiert, dass unter Administratoren ein Korpsgeist herrsche und Fehlentscheidungen gedeckt würden. Es wäre jedoch fatal, wenn sich einzelne Administratoren andauernd gegenseitig revidieren würden. Man stelle sich Schiedsrichter im Sport vor, die sich nicht einigen könnten: Es würde kein Spielfluss mehr zustande kommen. Falls ein Administrator auf einer Entscheidung beharrt, obwohl dagegen gute Argumente vorgebracht werden, müssen weitere Administratoren hinzugezogen werden, und die endgültige Klärung erfordert dann einen nicht unbeträchtlichen Aufwand. Gerade bei absehbar kontroversen Aktionen sollte ein Administrator sich deshalb vorher überlegen, ob er wirklich im Interesse der Community handelt und das auch entsprechend begründen kann.



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Konflikte
Da sich herausgestellt hat, dass es Konfliktfälle gibt, in denen kein Konsens hergestellt werden kann oder die Autorität einzelner Administratoren nicht ausreicht, um eine allgemein akzeptierte Lösung für ein Problem zu finden, wurde 2007 als zusätzliches Gremium ein Schiedsgericht gegründet. Ihm gehören zehn Benutzer an, die von der Community jeweils für ein Jahr gewählt werden. Im Gegensatz zu den Wahlen von Administratoren sind dabei keine Gegenstimmen zugelassen, sondern es werden die Kandidaten mit den meisten Stimmen gewählt. Dies ermöglicht es auch Kandidaten, die bei einer Wahl zum Administrator nicht die notwendige Mehrheit erreichen würden, in der Community aber populär sind, in das Gremium gewählt zu werden. Die Regelung wurde Ende 2010 revidiert. Das Schiedsgericht entscheidet letztinstanzlich, darf seine Entscheidungen aber nicht selbst umsetzen. In einem Meinungsbild wurde von der Community festgelegt, in welchen Fällen das Schiedsgericht überhaupt tätig werden darf. Entscheidungen zu inhaltlichen Fragen darf es nicht treffen, in der deutschsprachigen Wikipedia hat es sich daher im Wesentlichen als zahnlos erwiesen. In der englischsprachigen Wikipedia ist das Schiedsgericht mit weitaus größeren Vollmachten ausgestattet, was aber ebenfalls Anlass zur Kritik gibt.
Besonders kontrovers sind erfahrungsgemäß langfristige Benutzersperren. Für jedes Projekt ist es von großer Wichtigkeit, wer daran mitarbeiten kann und wer von der Mitarbeit ausgeschlossen wird. Bei Wikipedia stellen sich hier mehrere Probleme: Zum einen ist es überhaupt nicht möglich, Benutzer wirkungsvoll an der Mitarbeit zu hindern, da jederzeit ein neuer Account angelegt werden kann, der dann erst erkannt und gegebenenfalls erneut gesperrt werden muss. Einige gesperrte Personen entwickeln in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Hartnäckigkeit. Zum anderen gibt es bei Wikipedia den Grundsatz, von gutem Willen auszugehen. Dauerhafte Sperren werden daher von vielen Benutzern als unverhältnismäßig empfunden.



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Grundsätzlich kann jeder Administrator Sperren beliebiger Länge verhängen. In Fällen von offensichtlichem Vandalismus ist das normalerweise unproblematisch. Bei Sperren wegen Verstößen gegen den Grundsatz, nach dem persönliche Angriffe unterbleiben sollten, gibt es bereits unterschiedliche Ansichten, was zwingend zu einer Sperre führen sollte und was nicht. Während einige der Meinung sind, dass Wikipedia kein »Mädchenpensionat« sei und Diskussionen so offen wie möglich geführt werden sollten, weisen andere darauf hin, dass ein rüpelhafter Umgangston auf andere Mitarbeiter und insbesondere Neulinge oft sehr abschreckend wirkt und daher unterbunden werden sollte. Einen festgelegten Maßnahmenkatalog gibt es nicht, Administratoren haben hier einen recht breiten Ermessensspielraum, auch was die Länge einer Sperre angeht. Die daraus folgende Uneinheitlichkeit von Sanktionen führt natürlich oft zu Diskussionen.
Noch schwieriger sind Fälle, in denen Benutzer beharrlich gegen Projektgrundsätze verstoßen, aber zumindest ansatzweise auch konstruktiv mitarbeiten. Die Grenze zwischen Querdenkern und Trollen verläuft gelegentlich fließend. Einem einzelnen Administrator wird in der Regel nicht die Entscheidungsbefugnis zugestanden, einen solchen Benutzer dauerhaft zu sperren. Hierfür gibt es das Instrument des Benutzersperrverfahrens, bei dem eine Mehrheit stimmberechtigter Benutzer für eine bestimmte Sperrdauer zustande kommen muss. In der Praxis sind längere oder gar dauerhafte Sperren auf diesem Wege kaum noch zu erreichen, allein weil etliche Nutzer, die prinzipiell gegen solche Sperren sind, fast immer dagegen votieren. Immerhin zeigt sich an der Seltenheit, mit der unbefristete Sperren verhängt werden, der Wille der Community, auch problematische Mitarbeiter zu integrieren.
Ein weiterer Fall von Abstimmungen innerhalb der Community sind die sogenannten Meinungsbilder, durch die neue Regeln eingeführt oder bestehende geändert werden sollen. Es lassen sich in der Wikipedia heute zwei gegenläufige Tendenzen beobachten. Einerseits gibt es Stimmen, die monieren, dass es schon zu viele Regeln gebe. Andererseits wird alles, was nicht durch eine explizite Regel abgedeckt ist, von manchen als willkürlich abgelehnt, insbesondere wenn es nicht der eigenen Meinung entspricht.



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In der Anfangszeit der Wikipedia wurde vieles nur recht allgemein festgelegt, die konkrete Ausgestaltung der Regeln wurde der Community überlassen. Das war seinerzeit sicherlich sinnvoll, denn es gab ja keine Erfahrungen, auf die man sich hätte stützen können. Die Folge ist aber, dass nichts mehr ohne Beteiligung der Community durchgesetzt werden kann, geschweige denn gegen deren Willen. Das musste selbst Wikipedia-Gründer Jimmy Wales erfahren, der 2010 im Alleingang eine Vielzahl angeblich pornographischer Bilder aus dem Medienarchiv Commons löschte und sich daraufhin einem Sturm der Entrüstung seitens der Community ausgesetzt sah.
Die Vorbereitung eines Meinungsbildes, ursprünglich als unkomplizierte Möglichkeit gedacht, die Stimmung in der Community abzufragen, ist mittlerweile sehr aufwendig. Sind etwa die Abstimmungsoptionen oder Auswertungsmodalitäten nicht klar genug dargestellt, werden Meinungsbilder oft: genug aus formalen Gründen abgelehnt. Ein grundsätzliches Problem aller Abstimmungen in Wikipedia ist übrigens, dass sich meist nur wenige hundert sehr aktive Wikipedianer daran beteiligen. Gelegentliche Nutzer bekommen sie in vielen Fällen überhaupt nicht mit, und selbst unter den regelmäßigen Autoren gibt es etliche, die weder Zeit noch Lust haben, sich mit Meinungsbildern zu befassen. Wirklich repräsentativ sind sie daher nicht. Dem Anspruch nach ist Wikipedia eine Enzyklopädie, der Form nach ein Wiki. Oft zitiert wird eine Aussage von Ward Cunningham, dem Urvater der Wiki-Software, dass Wikipedia am Ende eher ein Wiki als eine Enzyklopädie sein wird. Tatsächlich handelt es sich im Grunde um eine recht ineffiziente Methode, qualitativ hochwertige Inhalte zu erstellen und zu sichern. Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen ist mit ständigen, oft langwierigen Diskussionen verbunden. Man kann das aber auch positiv sehen, nämlich dass Wikipedia ein Beispiel für deliberative Demokratie ist und gerade der möglichst freie Austausch von Argumenten einen wesentlichen Erfolgsfaktor darstellt. Jedenfalls ist bemerkenswert, wie viele hunderttausend Arbeitsstunden freiwillig und unbezahlt aufgewendet wurden, um den heutigen Stand zu erreichen.
Wikipedia hat sich unbeabsichtigt zu einem Leitmedium entwickelt. Das ist für die weitere Entwicklung nicht ungefährlich, denn es ist zu erwarten, dass Manipulationsversuche weiter zunehmen werden. Trotzdem soll das Projekt so offen wie nur möglich bleiben. Um diese Herausforderung auch in den nächsten zehn Jahren zu bewältigen, muss sich die Community bewusst sein, dass das Projektziel vorrangig die Erstellung einer Enzyklopädie ist, nicht die Durchführung eines Experiments in Online-Demokratie. Die Verwendung demokratischer Strukturen ist kein Selbstzweck. Und um es mit Helmut Schmidt zu sagen: »Die Demokratie lebt vom Kompromiss. Wer keine Kompromisse machen kann, ist für die Demokratie nicht zu gebrauchen.«



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Wissen ist Macht
VON ARNO MATTHIAS
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Hmmmm ... ganz schön schwierig, ganz allein einen Artikel zu schreiben ... Ich bin es von meiner Wikipedia-Mitarbeit gewohnt, dass von allen Seiten Hilfe herbeikommt, um meine Lücken zu füllen und meine Fehler zu beseitigen, kostenlos und anonym: ein echtes Geschenk.
Sich eine gedruckte Enzyklopädie zu leisten war immer, selbst im reichen Deutschland, eine wohlüberlegte Anschaffung; für die meisten kam solch ein Kauf nicht in Frage. Enzyklopädisches Wissen war ein Luxusgut. Wohl hätte die Regierung jedem Haushalt eine Enzyklopädie schenken können, zur Deckung des Grundbedarfs, aber hätte die Bevölkerungsmehrheit diesen Schatz nutzen können? Meine Eltern haben sich mit Mühe, vielleicht weil mein Vater Lehrer war, den 16. Großen Brockhaus geleistet, erschienen von 1952 bis 1963. Heute dient er als Regalschmuck. Die Bände 13 und 14 waren Ergänzungsbände; in diesen musste man suchen, was man in A - Z nicht fand - oder um die »neuesten« Aktualisierungen zu bekommen. Und natürlich waren auch die Ergänzungsbände nach heutigen Maßstäben schon bei der Auslieferung völlig veraltet.
»Wikipedia is a charity« (Jimmy Wales; Wikipedia ist Wohltätigkeit), abhängig von Geldspenden und gespendetem Wissen. Ich spende (Informationen), weil ich mir eine kostenpflichtige Enzyklopädie nicht leisten könnte und dank meines Wissensdurstes gewiss zu den häufigsten Nutzern der Wikipedia gehöre. Daher möchte ich dazu beitragen, dass das laufende Experiment Wikipedia, innerhalb des laufenden Experiments Internet, gelingt. »Alles Wissen für alle« heißt das Ziel, und der Hauptgegner - das Geschäftsmodell, mit Informationen Geld zu verdienen - ist stark. Die Notwendigkeiten, zu essen und zu wohnen, erzeugen Profite schon seit langem; saubere Atemluft und sauberes Wasser, dank der Umweltverschmutzung, seit kurzem. Wer sich Essen, Trinken, Wohnen und Atmen leisten kann, bedarf der geistigen Nahrung. Also wird die Kommodifizierung von Informationen vorangetrieben; »own, be owned, or remain invisible« (Heath Bunting). »Den Geburtsfehler des Internets - kostenlose Inhalte - zu beseitigen, ist aber schwierig und langwierig«, beliebte die ARD-Vorsitzende Monika Piel zu formulieren. Wikipedia ist ein herber Rückschlag für die Genpatentierer dieser Welt. Stewart Brand: »Information wants to be free« (Information will frei sein), »You own your own words, unless they contain information. In which case they belong to no one.« (Du besitzt deine eigenen Worte, außer sie enthalten Informationen. In diesem Fall gehören sie niemandem.)



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Während gedruckte Enzyklopädien noch intelligent designte Kreationen waren, ähnelt Wikipedia viel mehr einem evolvierenden Lebewesen. Erstere gehören vergangenen autoritären Zeitaltern an, Letztere ist demokratisch. Wiki-Artikel können wie Lebewesen zugrunde gehen, wenn keine Negentropie-Arbeit mehr hineingesteckt wird. Gleichgültigkeit führt zur EntropieZunahme und letztlich zum Wärmetod. »He not busy being born is busy dying« (Bob Dylan). Wiki-Artikel steigern, wie Lebewesen, ihre Überlebenswahrscheinlichkeit dadurch, dass sie aufs Geratewohl kleine Änderungen produzieren und dem Urteil der Umwelt anheimstellen, ob diese Änderungen beibehalten werden können. Wiki-Darwinismus erklärt, warum bei so vielen unterschiedlichst qualifizierten Mitarbeitern etwas so Gutes herauskommen kann. »Democracy doesn't come from the top. It comes from the bottom« (Howard Zinn).
Das Internet »lädt sehr stark zu demokratischen Prozessen ein« (Prof. Peter Kruse), und auch Wikipedia kann sich an der »Erziehung zur Mündigkeit« (Theodor W. Adorno) beteiligen. So ist es zum Beispiel gut, dass sie als nicht immer zuverlässig gilt (unabhängig davon, ob solche Zweifel gerechtfertigt sind). Das erzieht dazu, Einzelquellen zu misstrauen und Tatsachenbehauptungen zu überprüfen. Nur so lassen sich die Privatinteressen einzelner Meinungsmacher in Schach halten. Allzu großes Vertrauen erzieht dagegen zum faulen und gefährlichen »Wird schon stimmen, steht ja in Wikipedia«.
Wichtiger als die unzensierte Erfassung aller noch so entlegenen Detailinformationen, wichtiger als der Ausbau zu einer professionell nutzbaren, hieb- und stichfesten Lehrbuchsammlung ist die vollständige, möglichst neutrale und verständliche Darstellung von Fakten, die es jedem Benutzer, auch aus bildungsfernen Schichten, ermöglicht, sich jedes Thema zu erschließen und »produktiv ins eigene Bewusstsein aufzunehmen« (Adorno). Die wichtigsten Regeln der Wikipedia sind letztlich »Neutraler Standpunkt« und »Laientest« (Wikipedia:Laientest). »With great power comes great responsibility« (Spider-Man).




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Vokabeln:


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Exklusionisten gegen Inklusionisten ein enzyklopädischer Bruderkrieg
VON TOBIAS LUTZI
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Kennen Sie Ernie Wasson? Wasson ist Botaniker und Mitherausgeber eines Standardwerkes für Gartenpflanzen. Er leitet den botanischen Lehrgarten des Cabrillo College in Kalifornien. Und er ist Gegenstand des millionsten Artikels auf der deutschen Wikipedia. Moment mal! Wie kommt Ernie Wasson zu einem Wikipedia-Artikel? Was sucht ein Text über einen Gärtner, der vielleicht einer Handvoll Pflanzenkundlern bekannt ist, in einer Enzyklopädie?
Weil auf Wikipedia jeder einen neuen Artikel anlegen kann, stellt sich dort täglich die Frage, zu welchem Thema es einen Artikel geben sollte - und welches besser draußen bleibt. Entsprechend gut gefüllt ist die Spezialseite »Löschkandidaten«, auf der täglich mehrere Dutzend Artikel zur Löschung vorgeschlagen werden. Neun Minuten nach seiner Erstellung landete auch »Ernie Wasson« dort - wegen »grenzwertiger Relevanz«.
Tatsächlich können Artikel aus zwei Gründen aus der deutschsprachigen Wikipedia gelöscht werden: wegen fehlender Qualität und wegen fehlender Relevanz. Dass ein unverständlicher, falscher oder aus einer urheberrechtlich geschützten Quelle kopierter Artikel gelöscht wird, ist ebenso selbstverständlich wie selten; regelmäßig reichen wenige Handgriffe, um die bereits vorhandenen Informationen in angemessener Qualität darzustellen. Artikel, die allein ihrer Qualität wegen zur Löschung vorgeschlagen sind, werden deshalb üblicherweise im Laufe der Löschdiskussion überarbeitet und anschließend behalten.




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Vokabeln:


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Ganz anders verhält es sich beim zweiten möglichen Grund für eine Artikellöschung, der Relevanz. Einerseits besteht in kaum einer Löschdiskussion Einigkeit darüber, ob ein Artikel im Sinne der »Relevanzkriterien«, die in der deutschen Wikipedia seit langem das Maß der Dinge sind, relevant ist; während gerade die in der Löschdiskussion aktiven Autoren dies meist bezweifeln, ist der Verfasser eines Artikels regelmäßig davon überzeugt. Andererseits ist die Frage, ob Relevanz überhaupt ein brauchbares Kriterium zur Auswahl der Artikel für Wikipedia ist, noch immer nicht abschließend geklärt - und seit Jahren Gegenstand eines regelrechten Glaubenskrieges.
Zwei Autorengruppen stehen sich dabei gegenüber. Zum einen die sogenannten Inklusionisten, für die »kein Thema irrelevant ist, das sich durch reputable Quellen belegen lässt« und für die Wikipedia idealerweise »zu jedem Begriff und Namen, dem ein Mensch begegnen kann, [Auskunft geben solll«. Für sie gehört in Wikipedia alles, was richtig ist. Zum anderen die Exklusionisten und Deletionisten, die »Wikipedia zum geschliffenen Diamanten machen [wollen]«. Für sie gehört in Wikipedia nur das, was wichtig ist. Beide Seiten sollen in diesem Teil des Buches zu Wort kommen. Der folgende Text dient dabei dem besseren Verständnis der Debatte und ihres Kontextes.




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Vokabeln:


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Glaube: Die Grundfrage
»[Wikipedia] glich einem gigantischen >Wir sammeln Laub<Projekt, in dem jeder sofort als Landschaftsgärtner bezeichnet wurde. Einige benutzten dafür sehr professionelle Harken aus Metall oder trugen sogar Laubgebläse auf dem Rücken. Andere waren nur Kids, die mit ihren Füßen über den Boden fuhren und die Taschen ihrer Sweatshirts mit bloßen Händen vollstopften. Aber auch ihre Blätter waren auf dem gemeinsamen Haufen willkommen. Der Haufen wuchs, und jeder tollte darin herum. Im Lauf der Zeit wurde er zum größten Laubhaufen, den je einer gesehen hatte - ein Weltwunder. Dann aber tauchten selbsternannte Laubhaufenwächter auf, Zweifler und Gegner, die jede angebotene Handvoll Laub misstrauisch beäugten und ihre Köpfe schüttelten. Und dann meinten sie, dass die Blätter zu zerknautscht seien oder zu matschig oder zu gewöhnlich, und warfen sie einfach beiseite. Das war schade.«
Das Bild, mit dem der amerikanische Schriftsteller Nicholson Baker die Anfangsjahre des Online-Lexikons beschreibt, zeigt, wie Wikipedia sich grundlegend von einer klassischen Enzyklopädie unterscheidet. Während Wikipedia ein Laubhaufen ist, dessen Umfang allein von den Ideen derer abhängt, die ihn zusammentragen, steht bei Brockhaus und Britannica von vornherein fest, aus welchen Blättern der Haufen am Ende bestehen soll.



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Die herkömmliche Enzyklopädie ist daher zwangsläufig exklusionistisch. Verlag und Redaktion sind schon aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, sich auf einen bestimmten Umfang festzulegen. Anschließend müssen sie die begrenzten Ressourcen Platz und Arbeitszeit bestmöglich aufteilen, indem sie Anzahl, Länge und Inhalt der Artikel bestimmen. Schließlich müssen sie im Hinblick auf diese Faktoren eine möglichst große Kohärenz erreichen, die verschiedenen Bereiche also in eine (vor allem für den Leser) schlüssige Relation setzen.
Wikipedia ist frei von diesen Zwängen. Dass Wikipedia jemals an eine physikalische Grenze stoßen wird, ist äußerst unwahrscheinlich; dass sich Autoren innerhalb des unbestritten relevanten Bereichs inhaltliche Vorgaben machen lassen, ebenfalls. Wikipedia ist damit die einzige Enzyklopädie, deren Redaktion die Ressource Platz nicht beschränken muss und die Ressource Arbeitskraft nicht verteilen kann. Sie ist damit a priori inklusionistisch und kann alle Inhalte aufnehmen, die ihre Mitarbeiter erschaffen.
Dass für Wikipedia Inklusionismus die Regel ist, während exklusionistische Beschränkungen als Ausnahme der Begründung bedürfen, ändert jedoch nichts daran, dass es für sie gute Gründe geben kann. Vielfach werden etwa die Gefahren eines Verzichts auf die Forderung nach einer Mindestrelevanz von Artikeln genannt (schlechtere Auffindbarkeit relevanter Artikel, größerer Aufwand für Pflege und Verwaltung des Artikelbestandes, Verlust von Seriosität etc.), die nur durch eine Ausnahme vom inklusionistischen Grundprinzip von Wikipedia bekämpft werden könnten - für das es freilich seinerseits gute Argumente gibt. Festzuhalten bleibt, dass sich aus der grundsätzlichen Möglichkeit, eine inklusionistische Enzyklopädie unbegrenzten Inhalts zu schaffen, kein logisches Gebot ergibt, Schulchöre, denkmalgeschützte Doppelhäuser oder einzelne Pokémon aufzunehmen.



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Liebe: Der Status quo
Die deutsche Wikipedia gilt im Allgemeinen als exklusionistisch. Grund ist vor allem die Wichtigkeit der sogenannten Relevanzkriterien, die vor mehr als sieben Jahren von einer Handvoll Benutzern als »Einschlusskriterien« (also Faustregeln, um einen unstreitig relevanten Artikel identifizieren zu können) formuliert worden sind und inzwischen einen umfangreichen und ausdifferenzierten Kriterienkatalog bilden, an dem die Löschwürdigkeit eines jeden Artikels gemessen wird.
Erstaunlich ist dabei zunächst, dass der heutige Status quo vor allem das Ergebnis einer langjährigen Wechselwirkung zwischen stetiger Ausdifferenzierung der Relevanzkriterien und deren immer strikterer Handhabung innerhalb der Löschdiskussionen ist. Eine klare demokratische Legitimation sucht man dagegen vergebens.
Zwar ist die generelle Forderung nach einer bestimmten Relevanz für neue Artikel in drei (einen Gegenvorschlag ablehnenden) Meinungsbildern mehr oder weniger deutlich bestätigt worden. Das erste enthielt mit der Abschaffung der (inzwischen umformulierten) Richtlinie »Wikipedia ist keine Datenbank« aber einen Vorschlag, der deutlich über eine Reform der Relevanzkriterien hinausging. Das zweite Meinungsbild (für eine »liberale Löschpraxis«) wurde vor allem wegen der überaus unklaren Abstimmungsoptionen abgelehnt, während das dritte (für eine »Reform der Relevanzpolitik«) gleich zwei tiefgreifende und (auch in ihrer Darstellung) komplizierte Reformvorschläge enthielt und deshalb bereits als solches abgelehnt wurde. Inhaltlich fand sich nur eine hauchdünne Mehrheit für den Status quo.



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Noch deutlich schwieriger ist es, den konkreten Inhalt der Relevanzkriterien zu rechtfertigen. Tatsächlich ist er in den meisten Bereichen das Ergebnis der Diskussion zwischen wenigen Benutzern, die sich innerhalb eines Fachbereichs auf bestimmte Kriterien geeinigt haben. Zuzugestehen ist den Befürwortern dieser Praxis zwar, dass im Falle von Konflikten, die längere Zeit zu keinem Kompromiss führen, tatsächlich ein Meinungsbild durchgeführt wird und besonders strittige Einzelfragen so von der Community entschieden werden. Nichtsdestotrotz war die überwältigende Mehrheit der Relevanzkriterien nie Gegenstand einer Abstimmung. Entsprechend unabhängig voneinander haben sich die Kriterien über Jahre hinweg entwickelt und sind dabei gleichzeitig immer präziser und anspruchsvoller geworden. Eine klare Mehrheit der Autoren sprach sich in einer Umfrage Ende 2009 denn auch für eine insgesamt niedrigere Relevanzhürde aus.
Dass die meisten Kriterien inzwischen gleichwohl zu einer Art Gewohnheitsrecht erstarkt sind, liegt vor allem an ihrer strikten und ständigen Anwendung in der Löschdiskussion. Das ist schon deshalb problematisch, weil die dort tätigen Autoren mehrheitlich Verfechter einer restriktiven Relevanzpolitik sind. Kaum einem der (meist vergleichsweise unerfahrenen) Autoren eines zu löschenden Artikels ist zudem die geringe Legitimation der Relevanzkriterien bewusst, weshalb in der Löschdiskussion regelmäßig nur über die Auslegung einzelner Regeln, nicht aber über die Existenz der Regel als solche diskutiert wird.
Die Anwendung und Auslegung der Relevanzkriterien in der Löschdiskussion scheint denn auch am wenigsten Rückhalt unter den Autoren zu haben. Schon im Jahr 2007 haben sich in einer Umfrage 55 Prozent der Teilnehmer für insgesamt weniger Artikellöschungen ausgesprochen. Die bereits 2004 angelegte »Unterschriftenliste für eine liberale Löschpraxis« wurde im Januar 2011 von ihrem 800. Unterstützer unterzeichnet - die Liste »gegen eine liberale Löschpraxis« hatte zum gleichen Zeitpunkt 104 Unterzeichner.



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Dass sich indes auch am zehnten Geburtstag von Wikipedia weder für eine grundsätzliche Reform der Relevanzkriterien oder deren Abschaffung noch für eine Liberalisierung der Löschpraxis eine Mehrheit gefunden hat, zeugt von einer gewissen Konsolidierung des Status quo. Ob dieser inzwischen auch Ergebnis der Sozialisierung neuer Mitarbeiter ist, für die Wikipedia-Artikel grundsätzlich an ihrer Qualität und Relevanz gemessen werden, sei dahingestellt.
Auffällig ist jedenfalls, dass sich der Streit zwischen Inklusionisten und Exklusionisten (wenigstens in der deutschsprachigen Wikipedia) fast ausschließlich an der Frage nach Artikellöschungen entzündet. Ist ein Artikel als solcher relevant, hängt die Auswahl der dargestellten Informationen dagegen allein von den persönlichen Vorstellungen der beteiligten Autoren ab. Während sich in der Löschdiskussion inzwischen ein fester Kanon des Relevanten gebildet hat, sind Umfang und Tiefe eines Artikels kaum reglementiert. Zwar kommt es auch zwischen den Verfassern eines Artikels zu Diskussionen über die Relevanz einzelner Inhalte - etwa der spannenden Frage, ob der Umstand, dass Lukas Podolski beim zweiten Vorrundenspiel der WM 2006 (gegen Polen) die deutsche Nationalhymne nicht mitgesungen hat, im Artikel über ihn Erwähnung finden sollte -, doch mangels fester Kriterien und systematischer Kontrolle schwankt die Relevanzgrenze für einzelne Inhalte von Artikel zu Artikel erheblich.
Die unterschiedliche Bedeutung der Relevanz eines Artikels und der Relevanz von Inhalten kann dabei zunächst abstrakt erklärt werden: Da Wikipedia im Grundsatz zwingend inklusionistisch ist, bedarf jede Beschränkung ihres Inhalts einer Begründung. Nicht alle Argumente, die von den Exklusionisten für die Beschränkung der Artikel auf Wikipedia ins Feld geführt werden, sind jedoch auf die Artikelinhalte übertragbar. Auffindbarkeit und Verwaltung des Artikelbestands etwa leiden stärker unter einer Flut von Artikeln denn unter einer Flut von Informationen.
Hinzu kommt ein wichtiger praktischer Grund: Wahrend die Neuanlage von Artikeln leicht zu überwachen ist, finden Änderungen an den bestehenden Artikeln im Zehntelsekundentakt statt. Zudem besteht mit der Löschdiskussion ein einheitliches Diskussionsforum für die Relevanz von Artikeln; die Relevanz einzelner Inhalte wird dagegen auf der Diskussionsseite des entsprechenden Artikels besprochen. Eine systematische Kontrolle der Artikelinhalte ist schon deshalb nicht möglich.
Die exklusionistische Grundeinstellung der deutschen Wikipedia, die auch sonst im internationalen Vergleich auffällig stark an klassischen Enzyklopädien wie dem »Brockhaus« orientiert ist, kristallisiert sich daher primär in der Löschdiskussion. Für den Umfang des Artikelbestands stellt sie den zentralen Flaschenhals dar. Einen Flaschenhals, der in den meisten anderen Sprachversionen deutlich breiter ist, allen voran der englischen, die weit über dreieinhalb Millionen Artikel beherbergt, darunter auch solche zu regional bekannten Schulchören und einzelnen Pokemon; ihr millionster Artikel beschreibt einen kleinen Bahnhof am Rande von Glasgow.



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Hoffnung: Die Bedeutung der Debatte
Wer sich mit der gerade beschriebenen Debatte längerfristig beschäftigt, wird sehen, dass es sich zwar um ein Grundsatzthema handelt, das täglich Gegenstand und Grundlage Dutzender Löschdiskussionen ist, innerhalb der zentralen Projektdiskussionen aber trotzdem nur selten auf der Tagesordnung steht. Die Meinungsbilder etwa, die konkret die Relevanzkriterien zum Thema haben, kann man wörtlich an einer Hand abzählen.
Es sind vor allem die zahlreichen (Internet-)Medienberichte, in denen seit Jahren vom »Reizthema Relevanz«, von »Löschkriegen« oder gar einer »Diktatur der Relevanz« die Rede ist. Für das Jahr 2009, in dem das Thema in den Medien besonders stark diskutiert wurde, listet der Wikipedia-Pressespiegel über 40 Berichte zum Thema Relevanz auf.
Die Mehrheit der Wikipedia-Autoren beschäftigt sich hingegen allenfalls sporadisch mit der Debatte (dann aber gern mit harten Bandagen). Bei vielen mag dies schon daran liegen, dass sie sich in unstreitig relevanten Bereichen beteiligen und nur selten die Luft der »Löschhölle« schnuppern. Wer heute zu Wikipedia stößt, lernt die Relevanzkriterien zudem als fest etablierte und unumstößliche Grundlage des Projekts (und seiner Löschdiskussionen) kennen - und blickt möglicherweise auch deshalb nie hinter dessen Kulissen, weil er ihm nach Löschung seines »irrelevanten« Erstlingswerks schlicht den Rücken kehrt.
Die faktische Erfolglosigkeit aller auf Veränderung gerichteter Meinungsbilder drückt nichtsdestotrotz eine gewisse Zustimmung der Autorenschaft zum Status quo aus. Dem offenbar geringen Interesse an einer grundsätzlichen Neuorientierung Wikipedias in der Relevanzfrage entspricht dabei das Fehlen spürbarer Fluchtbewegungen. Wie andere aus Wikipedia entstandene Alternativprojekte, die sich etwa eine höhere Qualität auf die Fahne geschrieben haben, zieht auch PlusPedia, das »Wiki ohne Relevanzkriterien«, dessen Motto »Wissen ist willkommen« lautet, bisher nur wenige Autoren an. Der Artikel zum »Sack Reis Nr. 19.234.23b«, der angeblich dafür bekannt ist, dass er am Morgen des 15. Juni 2006 umgefallen ist, dürfte aber wohl auch für viele Inklusionisten zu viel des Guten sein.



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Vokabeln:


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Exklusionismus: In den Maschinenräumen von Wikipedia
VON BENUTZER:WENIGER=MEHR
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Wikipedia ist eine Online-Enzyklopädie zum Mitmachen, so lautet die landläufige Auffassung. Doch wie bei so vielen Dingen gibt es auch hier zwei Seiten: die glänzende Oberfläche und das, was sich darunter verbirgt. Man kann Wikipedia mit einem Bibliotheksgebäude vergleichen, von dem viele Leute nur das kennen, was man von außen sieht. Wer sich lediglich für die Bücherregale interessiert, wo es viel zu lesen, zu ergänzen und zu verbessern gibt, kann jahrelang achtlos an den Türen vorübergehen, die hinunter in die Kellergeschosse führen. Dort unten liegen die Maschinenräume, wo Wikipedia gesteuert wird, und dort herrscht Hauen und Stechen.
Das bekam auch ich zu spüren. Es dauerte sehr lange, bis ich begann, mich für die Kellerräume zu interessieren. Natürlich war mir das umfangreiche Regelwerk von Wikipedia bekannt, aber das fand ich so in Ordnung. Wie es entstanden war, hatte ich nie hinterfragt, und es erschien mir für meine Mitarbeit bedeutungslos. Ich ahnte auch nicht, dass dieses Regelwerk ständigen Veränderungen unterworfen ist, die teilweise mit härtesten Bandagen ausgefochten werden. Für mich war selbstverständlich, dass wir alle - von kleinen Meinungsverschiedenheiten abgesehen - am selben Strang ziehen: eine qualitativ hochwertige Enzyklopädie zu schaffen, die keinen Vergleich mit etablierten Werken fürchten muss.



MC330

Vokabeln:


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Aufstand der Erbsenzähler
Bis ich eines Tages im Artikel »Geschichte Thailands« lesen musste, dass Sicherheitskräfte massiv gegen Demonstranten vorgegangen waren und dass dabei in der Hauptstadt Bangkok nach Angaben aus Krankenhäusern mindestens fünf Menschen getötet und etwa 300 verletzt worden waren. So ein Unfug, dachte ich, diese Details sprengen einen Artikel, der 5000 Jahre Geschichte darstellen soll, bei weitem. Ich kondensierte den Text auf »... was zu Toten und Verletzten führte«, was ich für enzyklopädisch angemessen halte. So und nicht anders würde dies im »Brockhaus« stehen! Denn selbst wenn sich ein Leser für die genauen Zahlen interessieren sollte, müssen dann 100 andere darüber hinweglesen?
Dies entpuppte sich als die folgenschwerste Bearbeitung meines Lebens. Mit dem Kommentar »Vandalismus!« machte ein detailbesessener Benutzer meine Änderung rückgängig. Okay, kleine Meinungsverschiedenheit, glaubte ich damals noch, die kann man vernünftig ausdiskutieren. Von wegen! »Das ist mit Quellen belegt, also bleibt es drin«, belehrte mich ein weiterer Informationserbsenzähler. Als leuchtendes Beispiel wurde ich mit einem Artikel - zutreffender: Presseschaubericht - über einen Flugzeugabsturz konfrontiert, den man völlig schadlos auf die Hälfte hätte sublimieren können. »Im Gegenteil«, wurde weiteres Unheil angekündigt, »der Artikel gehört noch kräftig ausgebaut!« Ich sah ein, dass jede weitere Diskussion zwecklos war. Mit einem anderen Autor, der meine Position unterstützt hatte, kam ich überein, dass wir Gras über den Artikel wachsen lassen und ihn später auf einen enzyklopädisch relevanten Umfang eindampfen würden.
Währenddessen wurden die minutiösen Schilderungen der Geschehnisse in einen eigenständigen Artikel »Unruhen in Bangkok 2010« ausgelagert und dort fleißig aufgebläht. Guido Westerwelle, so wurde uns berichtet, zeigte sich besorgt über die Situation und appellierte an beide Seiten, auf Gewalt zu verzichten. Ich stellte mir das bildlich vor: Westerwelle sieht die Geschehnisse in der Tagesschau und sagt am nächsten Morgen zu seiner Sekretärin: »Niemand soll sagen, der deutsche Außenminister hätte das alles ignoriert. Schreiben Sie doch bitte mal kurz das Übliche auf einen Zettel, so mit Besorgnis, Gewaltverzicht und dergleichen. Sie wissen schon ... Und den faxen Sie dann an die gewohnten Nachrichtenagenturen.« Und wahrscheinlich wäre Westerwelle selbst verblüfft, wenn er sehen würde, dass diese banale außenministeriale Pflichtübung - weltweit von Dutzenden anderer Außenminister ähnlich lautend verbreitet - für bedeutend genug gehalten wurde, um sie in Wikipedia einzubauen.



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Vokabeln:


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Sektenkrieg
Bald musste ich feststellen, dass der Wahnsinn Methode hatte. Eine völlig neue Seite von Wikipedia tat sich vor mir auf: Artikel zu tagesaktuellen Ereignissen. Ihre Autoren hatten eine völlig andere Auffassung über Wikipedia, als ich es bisher gewohnt war und für selbstverständlichen Konsens hielt. Auf ihren Benutzerseiten entdeckte ich verblüffendste Meinungsäußerungen über Inhalt und Umfang von Wikipedia-Artikeln - und schließlich stolperte ich über den Begriff »Inklusionist«. Was war das? Und: Gibt es auch das Gegenstück dazu? Ich forschte weiter und stieß auf Diskussionen aus längst vergangenen Zeiten. Mit anderen Worten: Ich hatte die Kellergewölbe entdeckt und die Kämpfe, die dort ausgefochten wurden und immer noch werden.
Wenn man die Geschichte von Wikipedia erforscht, stößt man immer wieder auf unterschiedliche Vorstellungen über Inhalt, Form und Mitarbeit, die mit geradezu religiösem Eifer verfochten wurden und letztendlich zu dem führten, was man auch bei den großen Weltreligionen beobachten kann: Bestenfalls bilden sich Sekten, die den jeweiligen Religionsvarianten anhängen, schlimmstenfalls - was auch bei Wikipedia bereits vorgekommen ist - schart ein Prophet seine Getreuen um sich, spaltet sich ab und gründet eine Konkurrenzreligion.
Eine dieser Sekten bilden die bereits erwähnten Inklusionisten. Ihren Widerpart musste ich lange suchen, denn nur wenige nennen sich ausdrücklich Exklusionist. Jede Seite unterstellt der anderen, Sinn und Funktionsweise von Wikipedia nicht verstanden zu haben, und wahrscheinlich nimmt auch jede Seite in Anspruch, allein die reine, ursprüngliche Lehre zu vertreten.



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Vokabeln:


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Die Inklusionisten lehnen jegliche Relevanzkriterien ab. Alles, was nur durch eine einigermaßen renommierte Quelle belegt ist, kann und soll in Wikipedia eingebaut werden, denn ihr Credo lautet: Es gibt ja Platz genug. Wenn die Schülerband einer Dorfschule in einer der großen Tageszeitungen erwähnt wurde, dann ist sie allein dadurch hinreichend geadelt, um einen eigenen Eintrag in Wikipedia zu verdienen. Dass der Artikel nur in einer der vielen Lokalbeilagen der Zeitung zu lesen war und eigentlich die Verabschiedung des Schuldirektors zum Thema hatte, dass der kurze Absatz über die Band nur deshalb in dem Artikel erschien, weil ihr Schlagzeuger auch Pressereferent der Schule ist, und dass dieser Absatz nur deshalb nicht gestrichen wurde, weil der Layouter zufällig noch ein bisschen Platz zu füllen hatte, interessiert nicht: Belegt ist belegt und damit auch relevant, basta. Dass Wikipedia dadurch Schritt für Schritt von einer qualitativ hochwertigen Enzyklopädie zu einer quantitativ hochwertigen Presseschau mutiert, interessiert ebenso wenig oder wird wahrscheinlich sogar gutgeheißen.
Eine lange Liste mit aufsteigender Tendenz, in der ein bekennender Inklusionist Gleichgesinnte sammelt, zeugt von stetigem Zulauf zu dieser Sekte. Offensichtlich stellt ein weiteres inklusionistisches Credo ein Erfolgsrezept dar: »Schlechte Artikel können ruhig monatelang auf Wikipedia stehen, vielleicht werden sie ja irgendwann mal verbessert. Voreiliges Löschen vergrault nur neue Autoren.«



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Vokabeln:


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Weniger ist mehr
Für Exklusionisten ist und bleibt Wikipedia ganz klar eine Enzyklopädie, und genau so soll sie auch aussehen. Enzyklopädischer Stil ist angesagt: prägnant und auf das Wesentliche konzentriert. Inklusionisten glauben, dass herkömmliche Enzyklopädien so knapp formuliert wären, damit sie auf relativ wenig Papier passen. Exklusionisten wissen, dass herkömmliche Enzyklopädien so knapp formuliert sind, damit wichtige Informationen nicht zwischen Bergen von Flachlaberei untergehen. Denn in der Kürze liegt die Würze, weniger ist mehr. Wenn man den Wald nicht mehr sieht, müssen Bäume gerodet werden. Qualität ist oberstes Gebot. Lieber zu viel weglassen oder löschen, als Wikipedia irgendeinem Makel aussetzen, denn jeder Artikel vertritt zu jeder Sekunde das Qualitätsniveau des gesamten Werks. Eine schlechte Qualität ist nur Wasser auf die Mühlen derjenigen, die ein Interesse daran haben, das Ansehen von Wikipedia zu mindern. Und sie vergrault langgediente Autoren, die ihre eigenen Ansprüche und Ideale nicht mehr vertreten sehen und die sich mit einer Banalitäten-Wikipedia nicht mehr identifizieren können.
Wie viele Exklusionisten es gibt, ist völlig unbekannt. Nur wenige bekennen sich ausdrücklich zu dieser Sicht. Wahrscheinlich ist es den meisten von ihnen gar nicht bewusst, dass sie Exklusionisten sind, denn sie halten ihre Einstellung zu Wikipedia für völlig selbstverständlich und ahnen nicht im Geringsten, dass es Andersdenkende gibt.
Wer sich einen Eindruck von dem Sektenkrieg verschaffen möchte, braucht nur hinab in die Kellergewölbe der Bibliothek zu steigen und an den verschiedenen Türen zu lauschen. Hinter vielen hört man Schwerter klirren oder gar Schüsse peitschen. In vielen Räumen zum Beispiel werden Löschungen von Artikeln vorgeschlagen und diskutiert. Ein Dutzend Benutzer tippt tausendmal mehr Zeichen, als der diskutierte Artikel lang ist, um seine Irrelevanz bloßzustellen bzw. um seine Existenzwürdigkeit zu verteidigen. In anderen Räumen wird darum gefochten, ob etablierte Artikel mit Banalitäten aufgebläht oder enzyklopädisch gestrafft werden sollen. Wiederum in anderen Räumen wird das Regelwerk von Wikipedia selbst zum Ziel, das eine Burgmauer wider eindringenden Inklusionismus bildet: Die einen versuchen, Breschen in Lösch- und Relevanzkriterien zu schlagen, die von Exklusionisten erbittert verteidigt werden.



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Vokabeln:


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Inklusionismus: Mehr Toleranz!
VON OLIVER SCHNEIDER
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Wichtig ist zunächst, dass es hier im Grunde gar nicht um einen Sektenkrieg geht, denn in weiten Teilen ziehen Inklusionisten und Exklusionisten ja am selben Strang: Beide Lager wollen eine qualitativ hochwertige Universalenzyklopädie schaffen. Sie unterscheiden sich lediglich etwas in ihrer Toleranz- und Fehlerkultur.
Ein manchmal zu hörendes, wohl durch den Namen verursachtes Missverständnis ist, dass Inklusionisten einfach alles aufnehmen wollen. Dies stimmt natürlich nicht. Ein Artikel soll sein Lemma prägnant, exakt und abgerundet erklären sowie gegebenenfalls auf weiterführende Literatur hinweisen, denn der Leser einer Enzyklopädie erwartet relativ kompakt dargebotenes Wissen. Auch soll natürlich keiner in einen Artikel schreiben dürfen, was er will oder zu wissen glaubt. Nur durch reputable Quellen belegbares, bereits andernorts publiziertes Wissen sollte Einzug in eine Enzyklopädie halten. Völlig unstrittig ist also, dass Zweifelhaftes, Unsittliches, Werbung, durch persönliche Meinungen Gefärbtes oder einfach schlecht Geschriebenes nichts in einer Enzyklopädie zu suchen hat und daher auch gelöscht werden sollte.


MC340

Vokabeln:


MC341

Unterschiede im Detail
Beide Sehweisen sind eng mit der Entstehung der Relevanzkriterien vor sieben Jahren verbunden.
Mit der Herausforderung konfrontiert, die Weichen für das Projekt möglichst sinnvoll zu stellen, sah man sich vor einem riesigen Berg von Arbeit. Eine Hauptsorge mancher Benutzer lautete beispielsweise; »Wir haben nicht genug Lemmata für alle Dinge.« Aus diesem Grund und auch um die zu leistende Arbeitsflut einzudämmen, die allein mit der Aktualisierung von Artikeln verbunden ist, befürwortete ein Teil der Wikipedianer, die sogenannten Exklusionisten, die Einführung von Relevanzkriterien, ähnlich wie sie auch in traditionellen Enzyklopädien angewendet wurden. Eine andere Gruppe, die Inklusionisten, war der Meinung, auf hauseigene Relevanzkriterien verzichten zu können. Ihr Argument war und ist bis heute, dass sich Wikipedia aufgrund der enormen elektronischen Speicherkapazität von herkömmlichen Enzyklopädien auf Papier unterscheidet und durch eine große Zahl von Artikeln nicht unübersichtlicher, teurer oder unhandlicher, sondern vollständiger wird. Ein weiteres Argument der Inklusionisten ist, dass nach dem Wiki-Prinzip Leser ausdrücklich zur Mitarbeit aufgefordert sind, sodass die Verantwortung für ein Gelingen sowieso nicht in den Händen einer kleinen selbsternannten Redaktion liegt.


MC342

Vokabeln:


MC343

Wer schreibt, der bleibt
Während von Exklusionisten also mitunter die Position vertreten wird: »Relevant ist, was eine Gruppe wechselnder Freiwilliger für pflegenswert hält«, ist die inklusionistische Position wohl eher: »Relevant ist, was mit zuverlässigen Quellen belegbar und einem Autor so wichtig erscheint, dass er darüber einen Artikel schreibt.« :Inklusionisten stört an den hauseigenen Relevanzkriterien der Exklusionisten am meisten, dass sie anderen Leuten vorschreiben wollen, was für sie wichtig sein darf. Was Inklusionisten ebenfalls aufstößt, sind die sich inzwischen etablierenden sogenannten Mindestanforderungen. Diese führen mitunter dazu, dass bereits begonnene Artikel gelöscht werden sollen, weil sie nicht alle Informationen enthalten, die man von einem Artikel erwartet.
Während Exklusionisten anscheinend mehr Angst vor schlechter Qualität haben, machen sich Inklusionisten verstärkt Sorgen darum, »das Kind mit dem Bade auszuschütten«. Inund Exklusionisten unterscheiden sich aber auch in ihrer Fehlerkultur: Exklusionisten befürchten offenbar, ohne Relevanzkriterien könnten Qualitätsmängel so groß werden, dass sie dem Ansehen der Wikipedia schaden. Dagegen vertreten Inklusionisten die Meinung, dass die Möglichkeit, einen Fehler zu verbessern oder eine Lücke zu füllen, zur Mitarbeit motiviert, während eine allzu rigorose Löschpraxis genau das Gegenteil bewirkt. Als Beispiel dafür mag eine Anfrage in einem Mikroskopieforum dienen, einige in Wikipedia dringend benötigte Mikrofotos zur Verfügung zu stellen. Einer der dortigen Experten meinte diesbezüglich schlicht:
»... meine eigenen Erfahrungen und die in meinem Umfeld sind nicht so, dass ich dazu raten kann, sich [an der Arbeit in Wikipedia] zu beteiligen. Das Problem ist nicht so sehr, Bilder und Texte einzustellen, sondern sie gegen Löschungsanträge jeder Art über Wochen und Monate zu verteidigen^ wobei überwiegend die Einwendungen bar jeder Sachkompetenz sind. Man muss für sich entscheiden, ob man diesen Aufwand fahren will. Gerade Themen abseits des Mainstreams - wie viele mikroskopische Themen - haben es sehr schwer.«
Auch für mich persönlich sind natürlich viele Themen nicht relevant. Es macht mir aber nichts aus, wenn ein anderer etwas für mich Irrelevantes schreibt, weil ich ja nicht gezwungen bin, es zu lesen, und Wikipedia im Gegensatz zu einem Papierwerk dadurch weder unübersichtlicher noch teurer wird. Es stört mich demzufolge auch nicht, wenn so etwas erst dann aktualisiert wird, wenn jemand, der sich dafür interessiert, darauf stößt. Jeder einigermaßen medienkompetente Leser sollte in der Lage sein, der Versionsgeschichte eines Artikels zu entnehmen, wann der Artikel aktualisiert wurde. Es käme doch auch keiner auf die Idee, Buchhandlungen oder Bibliotheken zu schließen, wo Bücher und Nachschlagewerke angeboten werden, die bereits vor einiger Zeit gedruckt wurden und daher nicht den aktuellen Stand der Dinge spiegeln.



MC344

Vokabeln:


MC345

Inquisition des Wissens
Um es noch mal prägnant zusammenzufassen:
Inklusionismus: Über Relevanz entscheiden die Herausgeber reputabler Quellen sowie Wikipedia-Autoren und -Leser. Inklusionisten sind überzeugt, über wirklich irrelevante Themen wird keiner schreiben, weil es keinem die Zeit und Mühe wert ist. Außerdem belasten weniger relevante Beiträge niemanden, weil sie erst sichtbar werden, wenn man aktiv danach sucht.
Exklusionismus: Über Relevanz entscheiden die Herausgeber reputabler Quellen sowie Wikipedia-Autoren sowie

Leute, die sich an den Löschdiskussionen beteiligen und dort bestimmen, ob ein Thema andere Leute interessieren darf.

Nun kann jeder selbst entscheiden, welches das bessere Vorgehen ist und ob man so eine Inquisition des Wissens (im Sinne des im vorangegangenen Text angesprochenen Sektierertums) wirklich braucht.
Bei dieser Diskussion darf aber nicht übersehen werden, dass sie in einem Randbereich stattfindet. Bei den unzweifelhaft relevanten Themen ziehen Ex- und Inklusionisten nämlich am gleichen Strang. Inklusionisten sind halt nur ein kleines bisschen toleranter, wenn es darum geht, was dem anderen wichtig ist. Dieser Aspekt wird unterschiedlich gesehen und bewertet, aber davon unberührt bleibt die Tatsache, dass In- und Exklusionisten in den letzten zehn Jahren ein tolles Projekt geschaffen haben, auf das man inzwischen auch gemeinsam ein wenig stolz sein darf.



MC346

Vokabeln:


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Mit 80 + dabei
VON MEINOLF WEWEL
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Bei Wikipedia bin ich schon seit Jahren und hoffentlich noch lange. Es macht viel Freude, aus diesem Ozean des Wissens zu nehmen und ihm etwas zu geben. Die Mär von seiner Unzuverlässigkeit ist längst widerlegt. Wikipedia hat sich als so zuverlässig erwiesen wie die Encyclopcedia Britannica und der Brockhaus. Nicht selten ist sie sogar exakter und ausführlicher, vor allem der Gegenwart näher als jede gedruckte Enzyklopädie.
»Aber es kann doch jeder darin ungeprüft schreiben und ändern!« - Das hält manchen ab, sich auf Wikipedia einzulassen, gar für sie zu schreiben oder in ihr zu korrigieren, sein Wissen einzubringen. Wie oft bin ich von Fachleuten auf Fehlendes und auch Fehler hingewiesen worden. Meine Ermunterung, gleich selbst zu ergänzen oder zu korrigieren, fand nur selten Anklang. Halten am Ende Ängste um den Verlust eines Status manche davon ab, einen Wissensvorsprung in ein jedermann offenes »work in (of) progress« (Arbeit in Gang; Arbeit des Fortschritts) einzubringen?
Für mich ist die Mitarbeit bei Wikipedia das zivilgesellschaftliche Engagement, das den mir im Alter verbliebenen Möglichkeiten am meisten entspricht und bei dem ich meine im Laufe des Lebens und vieler Berufsjahre erworbenen Kompetenzen am besten anwenden kann.
Mit einem selbst gewählten Pseudonym (Benutzernamen) entledigt man sich ganz bewusst all dessen, was sich als Status angesammelt hat. Das geschieht nicht aus Sorge um diesen Status, sondern weil das, was eingebracht wird, ohne Ansehen des Verfassers für sich stehen soll. Der Autor tritt hinter den Text zurück. Es ist ein großer Vorzug, dass bei Wikipedia alle Mitarbeit unentgeltlich und anonym ist. Keine finanziellen Interessen und auch keine Interessen der Profilierung eines Autors können seine Mitarbeit bestimmen.
Von Vorurteilen befreit, türmen sich aber leider neue Hindernisse auf: die »Relevanzkriterien«, die für Löschungen ins Feld geführt werden. »Relevanz«? - ein modischer Begriff. Was sagt Wikipedia darüber? Im eher dürftigen Artikel kein Wort über »Relevanzkriterien« und auch kein Hinweis, wie oder wo man sie finden kann. Dass man nur über einen Klick auf »Hilfe« zu ihnen gelangt, ist nicht selbstverständlich. Ich versuchte es dem Benutzer einfacher zu machen und setzte beim Artikel einen Link. Doch der wurde sofort gelöscht. Auf Nachfrage hieß es zur Begründung, dass »aus dem Artikelraum kein Link in den redaktionellen Bereich führen« darf. Warum diese Abschottung? Sollte Wikipedia nicht eine freie demokratische Sammlung allen Wissens sein? Zumindest alles Relevante sollte doch hinein. Sind die »Relevanzkriterien« selbst nicht relevant, also irrelevant?



MC348

Vokabeln:


MC349

Ist es nicht auch ziemlich irrelevant, unter welchen Gegebenheiten Hunderassen, Brauereien, Sportvereine, Krankenhäuser, Busunternehmen, Weingüter, Köche, Musiker, Mobiltelefone, Webseiten, Verkehrswege als relevant gelten sollen, wie es die »Relevanzkriterien« auf 30 DIN-A4-Seiten vorschreiben? Wen würde es schon stören, wenn auch eine kleine Brauerei, die noch keine Jahresproduktion von 100 000 Hektoliter erzielt hat und auch noch keine 100 Jahre alt ist, einen Artikel in Wikipedia bekäme?
Es gibt eine Regelungssucht, die in der guten Absicht, ein Werk von höchster Qualität zu schaffen, vielen kompetenten Leuten so sehr auf die Nerven geht, dass sie ihre Mitarbeit einstellen oder auch erst gar nicht damit beginnen. Kein Wunder, kann es doch zum Beispiel durchaus vorkommen, dass ein junger Informatiker einem Professor für Alte Geschichte erklärt, sein Beitrag, an dem er tagelang gearbeitet hat, sei irrelevant und daher zu löschen.
ind hier nicht neue Hierarchien entstanden? Hierarchien, die sich statt auf Fachkompetenz auf fragwürdige »Relevanzkriterien« stützen? Mehr und mehr werden Einzelnachweise gefordert, weil man den Autoren keine Fachkompetenz zutraut. Administratoren, die nicht fachlich ausgewiesen sind, sollen darüber wachen und Löschungen vornehmen. Seit Jahren gibt es eine heftige Debatte darüber. Sie ist nicht weniger abschreckend, als es die »Relevanzkriterien« schon sind.
Mitunter geht es in Bearbeitungskriegen (Edit-Wars) mit Vorwürfen wie »völliger Quatsch«, »keine Ahnung«, »konfuse Ansichten«, »Irreführungen« so schrill zu, dass man sich lieber zurückzieht. Vor allem uns Alten geht es so, hatten wir doch ohnehin schon Mühe, uns an den Umgangston mit seinem »Du« zu gewöhnen, ganz abgesehen davon, dass doch auch die ganze Computertechnik für uns Neuland war. Wen wundert es da, dass viele sich gar nicht erst für Wikipedia engagieren wollen und auch viele nach ersten Versuchen abspringen. Aber die Kompetenz vieler Älterer wäre doch notwendig, auch im Sinne der sogenannten »Exklusionisten«, die um einer hohen Qualität willen für strenge Relevanz- und Belegpflicht eintreten.
Ich bin ein sogenannter »Inklusionist«, ein Wikipedianer, der Artikel lieber behält und ausbaut als löscht. Alles Wissen der Welt frei zugänglich für jedermann - das ist die großartige Vision von Wikipedia, der wir treu bleiben sollten. Zu erreichen ist das freilich schon wegen der prinzipiellen Unabgeschlossenheit nicht, aber wir können uns um Annäherung bemühen. Die Relevanz eines Artikels ist für mich irrelevant. Es geht allein darum, ob er wahr und richtig ist. Dass sinnlose und beleidigende Artikel, Artikel, die reine Werbung sind oder das Urheberrecht verletzen, gelöscht werden, dagegen wird niemand etwas einzuwenden haben.
Wahr und richtig - freilich in der prinzipiellen Begrenztheit menschlichen Wissens. Und selbstverständlich weiß sich auch dieser Artikel begrenzt.


MC350

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