Diferencia entre revisiones de «Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 300c»

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== 54. Die Große Gesandtschaft ==
 
:Plötzlich, wie aus dem Nichts emporgetaucht, griff ein riesiger Schatten aus dem Osten her über Europa. Leibniz hatte ihn schon seit langem gesehen. Aber dieses neue Problem des Weltteils kam den Herrschern und den Völkern erst zum Bewußtsein, als die Große Gesandtschaft durch Monate fast den einzigen Gesprächsstoff der Eingeweihten und der Abseitsstehenden bildete.
:Plötzlich, wie aus dem Nichts emporgetaucht, griff ein
riesiger Schatten aus dem Osten her über Europa.
Leibniz hatte ihn schon seit langem gesehen. Aber dieses neue
Problem des Weltteils kam den Herrschern und den Völkern
erst zum Bewußtsein, als die Große Gesandtschaft durch Mo-
nate fast den einzigen Gesprächsstoff der Eingeweihten und der
Abseitsstehenden bildete.
Leibniz hatte sich eben angekleidet. Er hatte nur vier Stun-
den geschlafen. Aber er wollte den Eindruck, den die Fremden
machen würden, um keinen Preis Versäumen. Und er hatte von
sich aus, zusammen mit Grote, einen förmlichen Überwa-
chungsdienst eingerichtet, damit ihnen die Gesandtschaft nicht
gleichsam durch die Finger glitt. Man wußte nämlich so recht
 
:Leibniz hatte sich eben angekleidet. Er hatte nur vier Stunden geschlafen. Aber er wollte den Eindruck, den die Fremden machen würden, um keinen Preis Versäumen. Und er hatte von sich aus, zusammen mit Grote, einen förmlichen Überwachungsdienst eingerichtet, damit ihnen die Gesandtschaft nicht gleichsam durch die Finger glitt. Man wußte nämlich so recht eigentlich gar nichts. Alles, was man wußte, war „angeblich“. Eine Kavalkade von angeblich 270 Russen sollte sich angeblich heute schon auf hannöverschem Gebiet befinden. Ebenso angeblich wurde die Gesandtschaft von Admiral Lefort, Wojwoden von Nowgorod, von Generalkriegskommissär Fedor Alexejewitsch Golowin, Wojwoden von Sibirien, und vom Geheimen Kanzler und Wojwoden von Bolchow, Prokofii Bogdanowitsch Wosnizyn geführt. Zweiundzwanzig Kavaliere, sieben Kanzleibeamte, fünf Dolmetscher, einen Arzt, achtundsechzig Offiziere und Soldaten, Kaufleute, Lustigmacher, Heiducken, Kalmücken und Zwerge hatte irgendwer in Ostpreußen festgestellt. Aber auch das war nur angeblich. Denn die Gesandtschaft teilte sich oft in mehrere Teile, und man wußte dann erst recht nicht, ob man den Teil der Kavalkade vor sich hatte, bei dem sich Zar Peter selbst befand. Obgleich es nämlich geleugnet wurde, obgleich man es offiziell nicht einmal aussprechen durfte, wußte wieder ganz Europa, daß Zar Peter die Gesandtschaft begleitete. Er war bisher gewöhnlich als jüngeres Gesandtschaftsmitglied unter dem Namen Peter Michailowitsch aufgetreten, hatte aber auch noch durch andre Maskierungen überrascht. So hatte er einmal als Unteroffizier Gawrilo Kobylin mit zehn Soldaten das Gefolge verlassen, ein andresmal wieder hatte er den Spaßmacher gespielt. Man konnte ihn einfach nicht fassen. Denn er war wohl einer der seltsamsten Herrscher, die bisher die Geschichte hervorgebracht hatte: Soldat, Handwerker, Bauer, Edelmann, Charmeur, Wüstling, Wahnsinniger, Europäer, Asiate, Jüngling, Greis, Philosoph, Gelehrter, Ekstatiker, Spieler, Jäger, Gaukler, Matrose: alles nacheinander und durcheinander. Und man wußte nicht einmal, wie er aussah. Ununterbrochen wechselte er die Tracht, verkroch sich, schlief auf dem Fußboden und in Dachkammern, kochte für sich selbst und für andre, erlernte jedes Handwerk in wenigen Augenblicken und war von einer geradezu unbändigen Neugierde besessen, die das Gefüge jeder Ordnung in den Staaten lockerte, durch die er zog.
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:Mit unfehlbarer Ahnung wußte Leibniz, als er auf die Straße eilte, um den Einzug der Gesandtschaft als unbeteiligter Spaziergänger zu beobachten, daß er in Peter nicht einen Sonderling, nicht eine Einzelerscheinung, sondern eben Rußland selbst vor sich hatte. Die blasierten Hofleute und Damen mochten scherzen und höhnen, so viel sie wollten. Mochten auch wieder mit geheimem Prickel das Schauspiel dieser bunten Kavalkade bewundern. Mochten denken und grübeln, deuten und auslegen. All das Geschwätz traf nicht den Kern. Irgend eine Urkraft, eine noch gar nicht begriffene Welt war in eine zweite Welt, in eine satte, hochmütige Verstandeswelt, eingebrochen. Und es war kein Zufall, daß gerade Leeuwenhoek viele Stunden lang dem Zaren seine Mikroskope gezeigt und wie es hieß ihm seine neueste Entdeckung, den Blutkreislauf, an den Flossen lebender Fische demonstriert hatte. Die irrationale Welt hatte sich in dieser Begegnung verbrüdert, die der rationalen eines Spinoza oder eines anderen Aufklärers entgegentrat.
 
:Vor allem, und das war beinahe erheiternd, ging das Chaotische dieser Gesandtschaft oder halben Gesandtschaft so weit, daß nicht einmal der Kurfürst Ernst August wußte, ob es der Kavalkade belieben würde, in Hannover haltzumachen. Daß man sich unklar darüber war, wen man eigentlich vor sich hatte, war man in Europa nun schon gewohnt. Aber daß man keinerlei Disposition erfuhr, bereitete selbst Grote einige zeremonielle Schwierigkeiten.
 
:Nach all dem war nun Leibniz durchaus nicht überrascht, als er das Mirakel sah, bevor er es noch erwartet hatte. Mitten durch ein fast lebensgefährliches Volksgedränge kam der Aufzug daher. Und blendete an diesem wolkenlosen Sommermorgen die Augen.
 
:Pferde, merkwürdig klein und scheu, mit struppigen Haaren und langen Schwänzen. Mit ungewohntestem Zaumzeug aus grellrotem Saffianleder, an dem Edelsteine in allen Farben funkelten. Die Reiter in langen, verwirrend farbigen Kaftanen. Weiß, rot, blau, grün. Uber und über mit Perlen und Edelsteinen bestickt. Fußhohe Pelzmützen aus hellbraunem Zobel, aus Biber oder schwarzem Astrachan. Krumme Säbel und unwahrscheinlich lange Lanzen. Kalmücken mit Bogen und Köchern. Plötzlich dazwischen Soldaten in neuester Bewaffnung und gedrillter Haltung. Mißgeburten von Zwergen. Jahrmarktsharlekine. Eine vergoldete Kanone, deren Räder mit Malachit besetzt waren, und die offensichtlich trotzdem kein Spielzeug war. Einige Reiter sangen dumpfe Lieder, die von monotoner Traurigkeit sich plötzlich zu schreckenerregenden Angriffsrhythmen verwandelten und in wilden, tierischen Schreien endigten, um gleich darauf wieder beinahe die Stimmung heiliger Choräle zurückzugewinnen. Und auch die Spannung zwischen der Tiefe der Bässe und der Höhe der Tenöre war ungewöhnlich. Ebenso ungewöhnlich wie das unvermittelt losbrechende herausfordernde Trompetengeschmetter, das gurgelnde Klimpern von Balalaiken und das bis zu einer Art von Tobsucht vorstoßende Wirbeln der Trommeln.
 
:Mit geröteten Gesichtern, mitgerissen und verdonnert, starrten die Bewohner Hannovers den tollen Spuk an, sahen in die Gesichter unter den Pelzmützen, die in allen Abtönungen - von hellstem Weiß bis zu tiefem Braun und glattem Gelb - vorüberzogen. Kleine, stechende, schwarze Augen. Schlitzaugen. Große, blaue, verträumte, strahlende Augen. Es gab alles. Gab Hünen, gab winzige Kerle mit Säbelbeinen, gab untersetzte, wohlproportionierte Reiter von klassischem Bau der Gestalt und von klassischer Bewegung.
 
:In Leibniz aber formte sich wie eine riesige Zusammenschau das Bild Rußlands und verband sich mit dem Zaren aller Reußen zu untrennbarer Einheit. jenes Zaren, der vielleicht einer von den Russen war, die übersät mit Perlen, Rubinen, Smaragden, Karfunkeln, mit edelsteinstrotzenden Waffen dort vorbeiritten; wenn er es nicht vorgezogen hatte, irgendwo als Soldat in einer Schenke der Umgebung zu gröhlen und die Mägde zu belästigen oder tiefernst bei einem Mechanikus zu stehen und ihm die letzten Geheimnisse seines Handwerks abzugucken. Diese Einheit, die Leibniz sah, während noch die Hufe vor ihm klapperten und all die wilden Geräusche tönten, war so körperlich, daß das gegenwärtige Spektakel beinahe verblaßte. Dafür erblickte er endlose Wälder, eiskalte Steppen, riesige Ebenen, blühende Dörfer. Erblickte Städte mit Zwiebelkuppeln und Zwiebeltürmen in seltsam überladener Pracht. Strelitzenhorden, Kosakenheere. Aufstände in Städten, die ganz aus Holz erbaut waren. Furchtbare Grausamkeiten. Dreitausend gefangene Strelitzen, Kerntruppen, die stets wieder von irrsinnsnahen, machttrunkenen Vätern, Brüdern, Neffen der Dynastie, von revoltierenden Wojwoden und Großfürsten gegeneinander und aufeinander gehetzt wurden, marschieren, dumpfe Lieder singend, je zwei nebeneinander, zur Richtstatt. Jedes dieser aneinandergeketteten Paare trägt Block und Richtschwert. Sie werden sich vorher, bevor diese Instrumente auf sie Anwendung finden, noch die Gräber schaufeln. Und sie sind fast heiter. Man wird sie nicht foltern, nicht langsam braten oder spießen. Und es wird wieder Kurzweil und Frechheit geben bei der Hinrichtung. Hei, das war ein Spaß, als das Väterchen, Peter selbst, ein Richtschwert nahm und fünfzig Soldaten eigenhändig köpfte! Er kann es, bei Gott und beim doppelten Kreuz, er kann es. Und wie er es kann! Und da ist er dem wilden Wassili, der schon vor dem Block kniete, zu nahe gekommen, ist an ihn angestoßen. „Geh weg, Väterchen, dräng dich nicht! Hier ist mein Platz!“ hat ihn der Wassili angeschrien. Und der Zar und alle anderen Strelitzen, die vor den Blöcken knieten, haben gebrüllt vor Lachen. Und er hat dem Wassili, noch immer lachend, den Kopf abgehauen, daß das Schwert pfiff.
eigentlich gar nichts. Alles, was man wußte, war „angeblich“.
Eine Kavalkade von angeblich z7o Russen sollte sich angeblich
heute schon auf hannöverschem Gebiet befinden. Ebenso an-
geblich wurde die Gesandtschaft von Admiral Lefort, Woj-
woden von Nowgorod, von Generalkriegskommissär Fedor
Alexejewitsch Golowin, Wojwoden von Sibirien, und vom
Geheimen Kanzler und Wojwoden von Bolchow, Prokofii Bo gda-
nowitsch Wosnizyn geführt. Zweiundzwanzig Kavaliere, sieben
Kanzleibeamte, fünf Dolmetscher, einen Arzt, achtundsechzig
Offiziere und Soldaten, Kaufleute, Lustigmacher, Heiducken,
Kalmücken und Zwerge hatte irgendwer in Ostpreußen fest-
gestellt. Aber auch das war nur angeblich. Denn die Gesandt-
schaft teilte sich oft in mehrere Teile, und man wußte dann
erst recht nicht, ob man den Teil der Kavalkade vor sich hatte,
bei dem sich Zar Peter selbst befand. Obgleich es nämlich ge-
leugnet wurde, obgleich man es offiziell nicht einmal aus-
sprechen durfte, wußte wieder ganz Europa, daß Zar Peter die
Gesandtschaft begleitete. Er war bisher gewöhnlich als jüngeres
Gesandtschaftsmitglied unter dem Namen Peter Michailowitsch
aufgetreten, hatte aber auch noch durch andre Maskierungen
überrascht. So hatte er einmal als Unteroffizier Gawrilo Kobylin
mit zehn Soldaten das Gefolge verlassen, ein andresmal wieder
hatte er den Spaßmacher gespielt. Man konnte ihn einfach
nicht fassen. Denn er war wohl einer der seltsamsten Herrscher,
die bisher die Geschichte hervorgebracht hatte: Soldat, Hand-
werker, Bauer, Edelmann, Charmeur, Wüstling, Wahnsinniger,
Europäer, Asiate, jüngling, Greis, Philosoph, Gelehrter, Ek-
statiker, Spieler, Jäger, Gaukler, Matrose: alles nacheinander
und durcheinander. Und man wußte nicht einmal, wie er aus-
sah. Ununterbrochen wechselte er die Tracht, verkroch sich,
schlief auf dem Fußboden und in Dachkammern, kochte für
sich selbst und für andre, erlernte edes Handwerk in wenigen
Augenblicken und war von einer geradezu unbändigen Neu-
gierde besessen, die das Gefüge jeder Ordnung in den Staaten
lockerte, durch die er zog.
Mit unfehlbarer Ahnung wußte Leibniz, als er auf die Straße
eilte, um den Einzug der Gesandtschaft als unbeteiligter Spazier-
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:Nicht immer aber geht es so lustig her. Die besoffenen Aufrührer holen Großfürsten aus den Betten, reißen sie von den Altären, stöbern sie in Schlupfwinkeln auf, die ihnen von den Brüdern und Müttern der Gesuchten angegeben wurden. Und dann tränkt man es den feinen Bürschchen ein, die in Seidenbetten schlafen und nach Moschus oder nach anderen häßlichen Dingen riechen, die sie sich aus glitzernden Flaschen auf die Glieder gießen. Gut, man sauft diesen Blumenschnaps, daß man kotzt. Man muß aber dann die Bürschchen behandeln. Da hört der Spaß auf. Eine Folterkammer wird gestürmt. Und nun versucht man sich tagelang an den Zangen, Stricken, Schrauben. Und das Gebrüll der Bürschchen stört die Strelitzen schließlich so sehr, daß sie in Wut geraten, die Gefolterten auf den Platz vor die Kirche schleppen und sie dort langsam in Stücke hauen oder mit Pferden zerreißen. Oder sie aus Fenstern auf Spieße hinunterwerfen oder irgendwo anbinden und mit Pfeilen um eine Flasche Schnaps ein Wettschießen veranstalten, während die Brüder Balalaika spielen. Und man weiß nie, ob man recht getan hat oder unrecht. Die Zarinmutter sagt so, Peter so, der Wojwode anders. jeder ist ein Verräter. Und jeder schreit, daß er keiner ist.
 
:Wie schön aber ist dann wieder das Osterfest mit den blauen Eiern. Alle Menschen lieben einander. Alle sind gut. Ich und du und jeder. Und die Kinder und Weiber sind toll vor Freude. Das Land muß bestellt werden. Die Erde ist schwarz und feucht und die Ströme schwellen an und schleppen noch Eisschollen, auf denen Raben sitzen. Hei, wir werden das Korn säen. Hei, der Ochse und das Pferd müssen gefüttert werden. Und der Strelitze wischt den Säbel ab und wirft ihn in die Rumpelkammer.
gänger zu beobachten, daß er in Peter nicht einen Sonder-
ling, nicht eine Einzelerscheinung, sondern eben Rußland
selbst vor sich hatte. Die blasierten Hofleute und Damen moch-
ten scherzen und höhnen, so viel sie wollten. Mochten auch
wieder mit geheimem Prickel das Schauspiel dieser bunten
Kavalkade bewundern. Mochten denken und grübeln, deuten
und auslegen. All das Geschwätz traf nicht den Kern. Irgend
eine Urkraft, eine noch gar nicht begriffene Welt war in eine
zweite Welt, in eine satte, hochmütige Verstandeswelt, einge-
brochen. Und es war kein Zufall, daß gerade Leeuwenhoek
viele Stunden lang dem Zaren seine Mikroskope gezeigt und
wie es hieß ihm seine neueste Entdeckung, den Blutkreislauf,
an den Flossen lebender Fische demonstriert hatte. Die irratio-
nale Welt hatte sich in dieser Begegnung verbrüdert, die der
rationalen eines Spinoza oder eines anderen Aufklärers ent»
gegentrat.
Vor allem, und das war beinahe erheiternd, ging das Chaotí-
sche dieser Gesandtschaft oder halben Gesandtschaft so weit,
daß nicht einmal der Kurfürst Ernst August wußte, ob es der
Kavalkade belieben würde, in Hannover haltzumachen. Daß
man sich unklar darüber war, wen man eigentlich vor sich hatte,
war man in Europa nun schon gewohnt. Aber daß man keiner-
lei Disposition erfuhr, bereitete selbst Grote einige zeremo-
nielle Schwierigkeiten.
Nach all dem war nun Leibniz durchaus nicht überrascht, als
er das Mirakel sah, bevor er es noch erwartet hatte. Mitten
durch ein fast lebensgefährliches Volksgedränge kam der Auf-
zug daher. Und blendete an diesem wolkenlosen Sommermor-›
gen die Augen.
Pferde, merkwürdig klein und scheu, mit struppigen Haaren
und langen Schwänzen. Mit ungewohntestem Zaumzeug aus
grellrotem Saffianleder, an dem Edelsteine in allen Farben
funkelten. Die Reiter in langen, verwirrend farbigen Kaftanen.
Weiß, rot, blau, grün. Uber und über mit Perlen und Edel-~
steinen bestickt. Fußhohe Pelzmützen aus hellbraunem Zobel,
aus Biber oder schwarzem Astrachan. Krumme Säbel und
unwahrscheinlich lange Lanzen. Kalmücken mit Bogen und
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:Väterchen Zar hat große Kriege gewonnen. Es gibt keine Revolten, es gibt keinen Krieg. Er baut Schiffe, die die Welt durchsegeln sollen. Alles kann er, der große Zar. Und sie küssen sein Bild, schlagen die Stirne auf die schwarze Erde und küssen die Ikonen der Muttergottes von Kasan.
Köchern. Plötzlich dazwischen Soldaten in neuester Bewaff-
nung und gedrillter Haltung. Mißgeburten von Zwergen.
jahrmarktsharlekine. Eine vergoldete Kanone, deren Räder
mit Malachit besetzt waren, und die offensichtlich trotzdem
kein Spielzeug war. Einige Reiter sangen durnpfe Lieder, die
von monotoner Traurigkeit sich plötzlich zu schreckenerregen-
den Angriffsrhythmen verwandelten und in wilden, tierischen
Schreien endigten, um gleich darauf wieder beinahe die Stim-
mung heiliger Choräle zurückzugewinnen. Und auch die
Spannung zwischen der Tiefe der Bässe und der Höhe der
Tenöre war ungewöhnlich. Ebenso ungewöhnlich wie das un-
vermittelt losbrechende herausfordernde Trompetengeschmet-
ter, das gurgelnde Klimpern von Balalaiken und das bis zu einer
Art von Tobsucht vorstoßende Wirbeln der Trommeln.
Mit geröteten Gesichtern, mitgerissen und verdonnert, starr-
ten die Bewohner Hannovers den tollen Spuk an, sahen in die
Gesichter unter den Pelzmützen, die in allen Abtönungen
--von hellstern. Weiß bis zu tiefem Braun und glattem Gelb -
vorüberzogen. Kleine, stechende, schwarze Augen. Schlitz-
augen. Große, blaue, verträumte, strahlende Augen. Es gab
alles. Gab Hünen, gab winzige Kerle mit Säbelbeinen, gab unter-
setzte, wohlproportionierte Reiter von klassischem Bau der Ge-
stalt und von klassischer Bewegung.
In Leibniz aber formte sich wie eine riesige Zusammenschau
das Bild Rußlands und verband sich mit dem Zaren aller Reu-
ßen zu untrennbarer Einheit. jenes Zaren, der vielleicht einer
von den Russen war, die übersät mit Perlen, Rubinen, Smarag-
den, Karfunkeln, mit edelsteinstrotzenden Waffen dort vorbei-
ritten; wenn er es nicht vorgezogen hatte, irgendwo als Soldat
in einer Schenke der Umgebung zu gröhlen und die Mägde zu
belästi gen oder tiefernst bei einem Mechanikus zu stehen und ihm
die letzten Geheimnisse seines Handwerks abzugucken. Diese
Einheit, die Leibniz sah, während noch die Hufe vor ihm klap-
perten und all die wilden Geräusche tönten, war so körperlich,
daß das gegenwärtige Spektakel beinahe verblaßte. Dafür er-
blickte er endlose Wälder, eiskalte Steppen, riesige Ebenen,
blühende Dörfer. Erblickte Städte mit Zwiebelkuppeln und
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:Und er wird die ganze Welt erobern, der Zar. Es ist prophezeit. Michael Feodorowitsch, der Starost, hat es gesagt. Es ist also wahr. Und der Zar zieht mit einer Gesandtschaft durch die verrotteten westlichen Länder, die nicht einmal mit dem Türken fertig werden. Und es ist gesagt worden, daß alle Könige vor Schrecken auf das Gesicht fallen und die Erde küssen, wenn der Zar erscheint. Und daß ihm jede Stadt die Schlüssel gibt. Einen ganzen Wagen voll von Schlüsseln führt er schon mit sich, das Väterchen. Und wenn er zurückkehrt, wird er ein Heer sammeln, so groß, wie es noch niemand erblickte. Und wird alles niederrennen, was sich noch wehrt.
 
:Was aber ist das? Michael Feodorowitsch ruft die Strelitzen, um Ordnung zu machen, bevor der Zar zurückkommt? Heraus also mit dem Säbel aus der Rumpelkammer! Einige Verräter müssen zerhauen werden. Wer kann wissen, ob der Zar nicht selbst ein Verräter ist? Sollen die Weiber die Felder bestellen. Sie werden zu Weihnachten Kinder gebären. Hei! Die Strelitzen aber müssen Ordnung machen . . .
Zwiebeltürmen in seltsam überladener Pracht. Strelitzenhor-
den, Kosakenheere. Aufstände in Städten, die ganz aus Holz
erbaut waren. Furchtbare Grausamkeiten. Dreitausend gefan-
gene Strelitzen, Kerntruppen, die stets wieder von irrsinnsnahen,
machttrunkenen Vätern, Brüdern, Neffen der Dynastie, von
revoltierenden Wojwoden und Großfürsten gegeneinander und
aufeinander gehetzt wurden, marschieren, dumpfe Lieder
singend, je zwei nebeneinander, zur Richtstatt. Jedes dieser
aneinandergeketteten Paare trägt Block und Richtschwert. Sie
werden sich vorher, bevor diese Instrumente auf sie Anwendung
finden, noch die Gräber schaufeln. Und sie sind fast heiter.
Man wird sie nicht foltern, nicht langsam braten oder spießen.
Und es wird wieder Kurzweil und Frechheit geben bei der Hin-
richtung. Hei, das war ein Spaß, als das Väterchen, Peter selbst,
ein Richtschwert nahm und fünfzig Soldaten eigenhändig
köpfte! Er kann es, bei Gott und beim doppelten Kreuz, er kann
es. Und wie er es kann! Und da ist er dem wilden Wassili, der
schon vor dem Block kniete, zu nahe gekommen, ist an ihn ange-
stoßen. „Geh weg, Väterchen, dräng dich nicht! Hier ist mein
Platzl“ hat ihn der Wassili angeschrien. Und der Zar und alle
anderen Strelitzen, die vor den Blöcken knieten, haben gebrüllt
vor Lachen. Und er hat dem Wassili, noch immer lachend, den
Kopf abgehauen, daß das Schwert pfiff.
Nicht immer aber geht es so lustig her. Die besoffenen Auf-
rührer holen Großfürsten aus den Betten, reißen sie von den
Altären, stöbern sie in Schlupfwinkeln auf, die ihnen von den
Brüdern und Müttern der Gesuchten angegeben wurden. Und
dann tränkt man es den feinen Bürschchen ein, die in Seiden-
betten schlafen und nach Moschus oder nach anderen häßlichen
Dingen riechen, die sie sich aus glitzernden Flaschen auf die
Glieder gießen. Gut, man sauft diesen Blumenschnaps, daß man
kotzt. Man muß aber dann die Bürschchen behandeln. Da hört
der Spaß auf. Eine Folterkammer wird gestürmt. Und nun ver-
sucht man sich tagelang an den Zangen, Stricken, Schrauben.
Und das Gebrüll der Bürschchen stört die Strelítzen schließlich
so sehr, daß sie in Wut geraten, die Gefolterten auf den Platz
vor die Kirche schleppen und sie dort langsam in Stücke hauen
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:Leibniz erschrak, als ein Offizier der Garde ihn leise ansprach.
oder mit Pferden zerreißen. Oder sie aus Fenstern auf Spieße
hinunterwerfen oder irgendwo anbinden und mit Pfeilen um
eine Flasche Schnaps ein Wettschießen veranstalten, während
die Brüder Balalaika spielen. Und man weiß nie, ob man recht
getan hat oder unrecht. Die Zarinmutter sagt so, Peter so, der
Wojwode anders. jeder ist ein Verräter. Und jeder schreit, daß
er keiner ist.
Wie schön aber ist dann wieder das Osterfest mit den blauen
Eiern. Alle Menschen lieben einander. Alle sind gut. Ich und du
und jeder. Und die Kinder und Weiber sind toll vor Freude.
Das Land muß bestellt werden. Die Erde ist schwarz und
feucht und die Ströme schwellen an und schleppen noch Eis-
schollen, auf denen Raben sitzen. Hei, wir werden das Korn sä-
en. Hei, der Ochse und das Pferd müssen gefüttert werden.
Und der Strelitze wischt den Säbel ab und wirft ihn in die
Rumpelkammer.
Väterchen Zar hat große Kriege gewonnen. Es gibt keine Re-
volten, es gibt keinen Krieg. Er baut Schiffe, die die Welt durch-
segeln sollen. Alles kann er, der große Zar. Und sie küssen sein
Bild, schlagen die Stirne auf die schwarze Erde und küssen die
Ikonen der Muttergottes von Kasan.
Und er wird die ganze Welt erobern, der Zar. Es ist prophe-
zeit. Michael Feodorowitsch, der Starost, hat es gesagt. Es ist
also wahr. Und der Zar zieht mit einer Gesandtschaft durch die
verrotteten westlichen Länder, die nicht einmal mit dem Türken
fertig werden. Und es ist gesagt worden, daß alle Könige vor
Schrecken auf das Gesicht fallen und die Erde küssen, wenn der
Zar erscheint. Und daß ihm jede Stadt die Schlüssel gibt. Einen
ganzen Wagen voll von Schlüsseln führt er schon mit sich, das
Väterchen. Und wenn er zurückkehrt, wird er ein Heer sam-
meln, so groß, wie es noch niemand erblickte. Und wird alles
niederrennen, was sich noch wehrt.
Was aber ist das? Michael Feodorowitsch ruft die Strelitzen,
um Ordnung zu machen, bevor der Zar zurückkommt? Heraus
also mit dem Säbel aus der Rumpelkammerl Einige Verräter
müssen zerhauen werden. Wer kann wissen, ob der Zar nicht
selbst ein Verräter ist? Sollen die Weiber die Felder bestellen.
 
:„Gefallen Ihnen die Russen?“ erwiderte Leibniz aufblickend.
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:„Ein Fastnachtszug“, sagte der junge Edelmann wegwerfend.
 
:„Eine gefährliche Fastnacht, Herr von Ditfurth!“ Leibniz schüttelte den Kopf. „Doch glaube ich, daß Sie mich ansprachen, um mir etwas mitzuteilen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrach.“
Sie werden zu Weihnachten Kinder gebären. Hei! Die Stre-
litzen aber müssen Ordnung machen . . .
Leibniz erschrak, als ein Offizier der Garde ihn leise ansprach.
„Gefallen Ihnen die Russen P“ erwiderte Leibniz aufblik-
kend.
„Ein Fastnachtszug“, sagte der junge Edelmann wegwer-
fend.
„Eine gefährliche Fastnacht, Herr von Ditfurthl“ Leibniz
schüttelte den Kopf. „Doch glaube ich, daß Sie mich anspra-
chen, um mir etwas mitzuteilen. Entschuldigen Sie, daß ich
Sie unterbrach.“
„Ich habe in der Tat eine Meldung zu erstatten. Und zwar
eine dringende. Ich bin sehr froh, Sie gefunden zu haben, Ge-
heimer Herr justizrat. Ihre kurfürstliche Hoheit Sophie läßt
nämlich bitten, ohne Verzug und ohne Rücksicht auf Kleidung
in Sachen der Russen sofort bei ihr in Herrenhausen zu erschei-
nen. Mein Wagen wartet drüben in der Nebengasse.“
In Sachen der Russen? Sollte die Gesandtschaft in das
Schloß einziehen? Wußte Sophie mehr als er selbst und Grote,
der ihm noch vor einer halben Stunde hatte mitteilen lassen, die
Russen würden ohne Aufenthalt Hannover durchreitenP Auf
jeden Fall war ein neues Machtgefüge furchtbarster Spann-
kraft und Unberechenbarkeit in Europa eingebrochen. Es gab
nur eine Möglichkeit der Abwehr. Dazu aber mußte man Ein-
fluß auf die Russen gewinnen. Aber wie?
Doch wozu jetzt grübeln? Die Kurfürstin hatte ihn „in
Sachen der Russen“ zu sich befohlen. Vielleicht ergab sich eine
Möglichkeit, mit Lefort zu sprechen. Mit dem Führer der Ge-
sandtschaft. Mit diesem rätselhaften Genfer, dem ersten und ein-
flußreichsten Günstling und Freund Peters, konnte man sicher-
lich verhandeln. Obwohl auch er allen, die es bisher Versucht
hatten, entglitten war. In einer Stunde werden wir mehr wissen.
„Gehen wir, Herr von Ditfurth“, sagte Leibniz, der noch
nicht ganz in die Gegenwart zurückgefunden hatte.
Als er, kaum eine halbe Stunde später, den kleinen Salon
der Kurfürstin Sophie betrat, kam ihm zu seiner höchsten Über-
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:„Ich habe in der Tat eine Meldung zu erstatten. Und zwar eine dringende. Ich bin sehr froh, Sie gefunden zu haben, Geheimer Herr Justizrat. Ihre kurfürstliche Hoheit Sophie läßt nämlich bitten, ohne Verzug und ohne Rücksicht auf Kleidung in Sachen der Russen sofort bei ihr in Herrenhausen zu erscheinen. Mein Wagen wartet drüben in der Nebengasse.“
raschung Kurfürstin Charlotte von Brandenburg lächelnd ent-
gegen.
:In Sachen der Russen? Sollte die Gesandtschaft in das Schloß einziehen? Wußte Sophie mehr als er selbst und Grote, der ihm noch vor einer halben Stunde hatte mitteilen lassen, die Russen würden ohne Aufenthalt Hannover durchreiten? Auf jeden Fall war ein neues Machtgefüge furchtbarster Spannkraft und Unberechenbarkeit in Europa eingebrochen. Es gab nur eine Möglichkeit der Abwehr. Dazu aber mußte man Einfluß auf die Russen gewinnen. Aber wie?
„Ich bleibe einige Wochen in Hannover“, sagte sie nach der
Begrüßung. „Wir haben viele Probleme zu besprechen, Leibniz.
Und ich habe außerdem gut zehntausend Fragen an Sie zu stellen.
Aber jetzt kommen Sie schnell zu meiner Mutter. Sie müssen
uns aus einer Verlegenheit helfen.“ Und sie öffnete eine Tür
und ging in die Privatgemächer der Kurfürstin Sophie voran.
Leibniz folgte.
„Wann sind Sie eingetroffen, Hoheit P“ fragte er, noch immer
erstaunt.
„Heute nacht“, erwiderte Charlotte.
„Sie hat uns beide überrascht“, fiel Kurfürstin Sophie ein,
die in ihrem Boudoir in einem Fauteuil saß. Nachdem sich Leib-
niz verbeugt hatte, fuhr sie fort: „Guten Morgen, Leibniz!
Setzen Sie sich einen Augenblick.“ Und sie wies auf einen
Polsterstuhl.
Charlotte ging zum Fenster und blickte hinaus.
„Ich habe die Russen gesehen“, begann Leibniz, als er sich
niedergelassen hatte.
Die Kurfürstin lachte unvermittelt auf.
„Eine nette Bande“, sagte sie dann etwas ernster. „Sie wissen
ja, daß ich Sie wegen eben dieser Russen hieherbat.“
„Es wurde mir gemeldet.“
„Gut, daß man Sie so schnell fand. Nun hören Sie zuerst
das Wichtigste. Wir haben Glück. Der berüchtigte Zar ist nicht
dabei. Er hat mit einer anderen Kolonne Halberstadt beglückt,
soll auf den Blocksberg gestiegen sein und ist jetzt schon auf
dem Weg nach Wien. Ich bin, aufrichtig gesagt, froh, daß wir
seine Anwesenheit mit Anstand vermeiden können.“
„Mir tut es leid, Hoheit“, erwiderte Leibniz. „Man hätte
vielleicht mit ihm sprechen können.“
„Das können Sie besser mit Lefort. Der Zar ist nach meiner
Ansicht ein \Wahnsinniger, wenn ihm auch eine gewisse Geniali-
tät nicht abzusprechen ist. Wir lachen in einemfort über seine
Streiche. Aber diese Stückchen sind leider sehr ernste Anzeichen
für das, was Europa von ihm zu fürchten hat.“
 
:Doch wozu jetzt grübeln? Die Kurfürstin hatte ihn „in Sachen der Russen“ zu sich befohlen. Vielleicht ergab sich eine Möglichkeit, mit Lefort zu sprechen. Mit dem Führer der Gesandtschaft. Mit diesem rätselhaften Genfer, dem ersten und einflußreichsten Günstling und Freund Peters, konnte man sicherlich verhandeln. Obwohl auch er allen, die es bisher Versucht hatten, entglitten war. In einer Stunde werden wir mehr wissen.
 
:„Gehen wir, Herr von Ditfurth“, sagte Leibniz, der noch nicht ganz in die Gegenwart zurückgefunden hatte.
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:Als er, kaum eine halbe Stunde später, den kleinen Salon der Kurfürstin Sophie betrat, kam ihm zu seiner höchsten Überraschung Kurfürstin Charlotte von Brandenburg lächelnd entgegen.
„Ganz meine Ansicht, Hoheit.“
„Das freut mich, Leibniz. Und darum will ich, daß Sie mit
Lefort sprechen.“
„Sind die Russen hier eingezogen? Ich sah im Schlosse nir-
gends eine Spur von ihnen.“
„Nein, sie sind dem Schloß im Bogen ausgewichen. Sie
hatten nur einen Dolmetsch vorausgesandt, der mit uns ver-
handelte, noch bevor die Russen in Hannover ankamen. Sie sind
trotz ihrer prahlerischen Pracht geradezu menschenscheu. Und
sie baten, in einem möglichst abgelegenen Schloß für einen Tag
rasten zu dürfen. Ich habe ihnen mein stilles Koppenbrügge zur
Verfügung gestellt. Und Sie, Leibniz, müssen jetzt sofort hin-
aus nach Koppenbrügge. Der Wagen und sechs Gardisten mit
einem Offizier warten bereits unten.“
Leibniz erhob sich, da die Kurfürstin ein wenig hastig ge-
sprochen hatte. In diesem Augenblick drehte sich Charlotte um
und konnte ihr Lachen kaum verhalten.
„Noch ein paar Anekdoten, Leibniz, bevor Sie zu diesen
Monstren fahren“, sagte sie lächelnd. „Es ist fast unglaublich,
was diese Menschen treiben.“ Und sie kam näher. Dann setzte
sie fort: „Von ihren Festlichkeiten und Gelagen spreche ich
lieber nicht. Die sind beispiellos. Die übliche Zecherei des Za-
ren mit Lefort pflegt ununterbrochen drei Tage und drei Näch-
te zu dauern. Dabei legen die Wüsten Gesellen nicht einmal in
den Nächten die Kleider ab, sondern schlafen zwischendurch
irgendwo auf dem Boden oder auf einem Sofa. Daß sämtliche
Gläser zerschlagen werden, ist klar. Es ist auch selbstverständ-
lich, daß man ab und zu mit scharfen Waffen fıcht und daß ein
paar Leute dabei verletzt werden. Gewöhnlich hält Peter, wenn
er betrunken ist,irgendwen für einen Verräter und will ihn auf-
spießen. Wer ihn davon abhält, ist ein Mitverschworener. Wer
ihn nicht abhält, ist ein Verräter, wenn der Zar wieder nüchtern
ist.“
„Ein angenehmer Hofdienst 1“ fiel Leibniz ein.
„Gewiß, sehr angenehm.“ Charlottens Ton wurde ebenfalls
ironisch. „Es gibt aber noch charmante Einzelheiten bei diesen
Festen. Stets muß ein eigener Raum mit allerlei Frauenzimmern
516
 
:„Ich bleibe einige Wochen in Hannover“, sagte sie nach der Begrüßung. „Wir haben viele Probleme zu besprechen, Leibniz. Und ich habe außerdem gut zehntausend Fragen an Sie zu stellen. Aber jetzt kommen Sie schnell zu meiner Mutter. Sie müssen uns aus einer Verlegenheit helfen.“ Und sie öffnete eine Tür und ging in die Privatgemächer der Kurfürstin Sophie voran.
angefüllt sein. Und diese Mädchen haben die Pflicht, Während
der ganzen Zeit der Gelage zu Diensten zu stehen. Da dies
aber keine aushält, hat Lefort, als routinierter Admiral, die Ord-
nung der Schiffswachen eingeführt. Die Mädchen werden genau
alle vier Stunden abgelöst, wie die Wachen einer Fregatte.
Ist das nicht Wunderschön ?“
„Zumindest durchdacht und zweckentsprechend.“ Leibniz,
den ein Ekel ankroch, blickte zu Boden.
Charlotte aber lachte auf.
„Das ist ja bloß die Erholung“, sagte sie sarkastisch. „Die
,Regierungstätigkeifi ist bedeutend komplizierter. So hat Peter
unlängst in Mitau einer Dame auf der Straße plötzlich mit so
furchtbarer Stimme ein Halt zugerufen, daß sie wie erstarrt
stehen blieb. Dann ging er auf sie zu, als ob er sie Verschlucken
wollte, nahm ihr kurzerhand die emaillierte Uhr vom Busen,
beguckte sie außen und innen, gab sie Wieder zurück und
brüllte ,Marsch!' Dann ging er gemächlich Weiter. Ein anderes-
mal hat er sich in Königsberg bei einem Galadiner plötzlich
eingebildet, er müsse die ihm noch unbekannte Strafe des Rä-
derns sehen. Als man ihm erklärte, es sei niemand da, der zu
solcher Strafe verurteilt sei, lachte er zuerst schallend, dann
sprang er auf, hieb mit der Faust auf den Tisch und schrie un-
verständliche Flüche. Plötzlich Wurde er ruhig und Vergnügt
und zeigte auf einen seiner Gardisten, der an der Saalwand
Leibwache stand. ,Nehmt den dort! Dem Wird es eine Ehre
sein, mir das kleine Vergnügen zu machen“, grinste er. Und
mein Gatte, der Kurfürst, mußte alles aufbieten, um den Ju-
stizmord zu verhindern. Aber ich Will sie nicht länger aufhalten,
Leibniz. Ich erzähle Ihnen nur noch, daß sich der Zar sehr ein-
gehend für die Naturwissenschaften interessiert. Besonders die
Anatomie ist sein Gebiet. Als er in Holland einmal einer Sezie-
rung zusah, und bei einer Leiche alle Adern und Sehnen bloß-
lagen, Wollte sich ein Edelmann seines Gefolges drücken, da
anscheinend sein Magen dem Anblick nicht gewachsen War.
Peter bemerkte es, faßte ihn am Kragen und befahl ihm bei
Todesstrafe, mit den Zähnen einen Muskel der Leiche heraus-
zureißen. Er nennt solche Dinge ,Aufklärung des Volkes“.
517
 
:Leibniz folgte.
 
:„Wann sind Sie eingetroffen, Hoheit?“ fragte er, noch immer erstaunt.
Sehen Sie jetzt ein, Leibniz, daß meine Mutter froh ist, nur
Herrn Lefort zu beherbergen P“
Leibniz machte eine verständnislose Geste.
„Ein Rätsel“, erwiderte er dann langsam. „Ein unlösbares
Rätsel. Derselbe Zar Peter besitzt nämlich, soviel ich hörte, auch
andre Fähigkeiten. Weit andre. Ich werde auf jeden Fall ver-
suchen, Lefort ein wenig zu beeinflussen. Im Sinne einer Tren-
nung Asiens von Europa. Auch in der eigenen Brust des Zaren.“
„Dieser Versuch ist zumindest gewagt“, sagte plötzlich die
Kurfürstin Sophie, die dem letzten Teil des Gespräches kaum
zugehört zu haben schien. „Und nun, Leibniz, sehen Sie zu,
was Sie ausrichten. Daß Sie nicht auf strenge Etikette zu rech-
nen haben, dürfte Ihnen klar sein. Leben Sie wohll“
Leibniz kam zu Mittag in Koppenbrügge an. Das Schloß
war zwischen Wäldern gelegen und ließ an Einsamkeit nichts zu
wünschen übrig.
Schon im Schloßhof sah er, daß die Russen sich häuslich ein-
gerichtet hatten. Die Pferde, die Wagen, Lanzen, Gewehre, die
vergoldete Kanone und alles übrige stand regellos umher und
die Soldaten saßen beim Branntwein und sangen und gröhlten.
Die hannöverschen Gardisten, die Leibniz begleiteten, waren
Veteranen aus den Türkenkriegen. Sie wußten genau, daß
solcher Soldateska gegenüber jede Schwäche nur schwere Kon-
flikte bringen konnte. Deshalb traten sie möglichst entschie-
den, fast drohend auf, herrschten die Russen an und umringten
Leibniz so lange, bis ein etwas weniger bezechter Offizier
sichtbar wurde.
Dieser nun erblickte seine Aufgabe wieder darin, zu brüllen.
Er teilte sogar an seine Leute Fußtritte aus und machte schließ-
lich vor Leibniz einige Verbeugungen, die dieser sehr hoheits-
voll erwiderte. Der Offizier war über die Unherzlichkeit Leib-
nizens zuerst beleidigt. Plötzlich aber dämmerte es ihm auf,
daß es vielleicht geratener wäre, seinen Unmut zu unterdrücken
und er führte Leibniz wortlos über eine Treppe hinauf.
In einem Vorsaal saßen Edelleute in Hemdärmeln, die eben-
falls „rasteten“. Das heißt, sie spielten Karten, schrien durch-
einander und tranken. Einer schien über Leibniz einen Witz
518
 
:„Heute nacht“, erwiderte Charlotte.
 
:„Sie hat uns beide überrascht“, fiel Kurfürstin Sophie ein, die in ihrem Boudoir in einem Fauteuil saß. Nachdem sich Leibniz verbeugt hatte, fuhr sie fort: „Guten Morgen, Leibniz! Setzen Sie sich einen Augenblick.“ Und sie wies auf einen Polsterstuhl.
gemacht zu haben. Denn alle blickten unvermittelt auf ihn,
kehrten sich dann ab und lachten.
„Mit wem haben wir das Vergnügen P“ fragte plötzlich neben
Leibniz eine Stimme auf französisch. Das Lachen verstummte.
Leibniz wandte sich zum Sprecher. Ein typischer Russe mit
breiten Backenknochen und tiefliegenden schwarzen Augen. Er
trug eine minderprächtige Uniform.
„Mit dem Geheimen Justizrat, Reichsfreiherrn von Leibniz“,
erwiderte Leibniz leise und abweisend. „Ich erscheine im di-
rekten Auftrag des hohen Kurfürsten. Ich bitte, mich Seiner
Hoheit, dem Herrn Wojwoden Admiral Lefort zu melden.“
„Sofort werde ich die Meldung erstatten.“ Der Dolmetsch
grinste sonderbar und verschwand durch eine Tür.
7 Leibniz war ein wenig verstört. So schlimm hatte er sich
den Empfang nicht vorgestellt. Diese Gesandtschaft, die
„Große Gesandtschaft“, die Europa imponieren, die geradezu
die Geschicke Europas verwandeln sollte, war doch sicher aus
der Elite Rußlands zusammengesetzt. Wie sahen dann die an-
deren Russen aus? Wahrlich, ein sehr, sehr bedenklicher Fast-
nachtsaufzug 1
Der Dolmetsch kam zurück.
„Väterchen Wojwode lassen bitten“, schnarrte er nicht eben
freundlich. Und er zeigte mit einer plumpen Geste gegen die
Tür.
S Nun kam die Entscheidung. Eine Entscheidung, die das Ge-L
schick Europas für Jahrhunderte beeinflussen konnte. Leibniz
biß die Zähne zusammen. Er mußte Lefort für sich gewinnen.
Mußte! Das Beiwerk dieser betrunkenen Horde war gleichgül-
tig. Lefort war ein Genfer. Aus französischem Adel. War ein
Europäer, wenn er auch, wie man hörte, der Anführer aller
Zechgelage und Orgien war. Das war aber vielleicht nur feinste
Diplomatie, um Peter zu betäuben. Man würde sehen. Jeden-
falls habe ich meinen ehernen Plan. Ich habe schon schwierigere
Kämpfe durchgefochten. Lefort ist wahrscheinlich nur im Ver-
hältnis zu den Russen ein großer Staatsmann. Und Leibniz trat
eın.
Auf einem Fauteuil, hinter einem verschwenderisch gedeckten
519
 
:Charlotte ging zum Fenster und blickte hinaus.
Tisch saß, ungemein prächtig gekleidet, der „Wojwode“. Er
lungerte eher als daß er saß. Und hatte eine nasse Binde um
die Stirne geschlagen.
„Mir ist nicht recht wohl“, sagte er mit müder Stimme und
erhob sich ein wenig, ließ sich jedoch gleich wieder zurück-
fallen. „Bitte, Baron, setzen Sie sich zu mir. Hoffentlich haben
Sie mir nicht zu viel zu erzählen. Jedes Wort schmerzt mich
im Kopf. Ich fürchte, es ist der Beginn einer Krankheit.“ Und
er nahm eine Birne vom Tisch und biß unbekümmert hinein.
„Ach, Pawel Iwanowitsch, du bist noch da? Mach, daß du hin-
auskommst! Stell dich aber vorher noch gefälligst vor.“
Jetzt erst bemerkte Leibniz, daß im Hintergrund des Zim-
mers vor einem Tischchen ein grotesk gekleideter Sekretär
hockte, der eifrig schrieb. Er trug eine strohgelbe Stutzperücke,
war mit einem erbsengrünen französischen Rock bekleidet und
machte einen nicht unintelligenten Eindruck. Als er aufstand
und auf Leibniz zukam, schien er sogar eine gewisse Straffheit
des Körpers zu besitzen. Nur hatte er die merkwürdige Ge-
wohnheit, ganz unvermittelt wie besessen mit dem Kopf und
dem rechten Arm zu schütteln, wobei sich seine schwarzen
Augen erschreckend weiteten. Auf der rechten Wange hatte
er eine große Warze. Er stellte sich ein wenig scheu und schlott-
rig vor und verließ schweigend den Raum, nicht ohne daß ihn
noch bei der Tür eine seiner Zuckungen überkarn.
Als sich Leibniz gesetzt hatte, meinte Lefort gelangweilt:
„Das ist Pawel Naryschkin, ein entfernter Vetter Seiner Maje-
stät. Er ist mir ein Rätsel. Dieses Zucken ist mir unheimlich.
Ich halte es für den Beginn der hinfallenden Krankheit. An-
sonst ist er still, bescheiden und tüchtig. Und scheint auch, so-
weit ich es beurteilen kann, dem erhabenen Zaren nichts zu
hintertragen, obgleich er einigen Einfluß auf ihn hat. Aber
jetzt, Baron, sagen Sie mir schnell Ihre Wünsche. Wir sind die
Nacht durchgeritten und ich möchte mich niederlegen. Mor-
gen müssen wir dann dem Zaren nachjagen. Er soll schon
großen Vorsprung haben. Ich freue mich sehr auf Wien. Waren
Sie schon dort, Baron?“ Lefort gähnte und schlug sich mit der
flachen Hand auf den weitgeöffneten Mund.
520
 
:„Ich habe die Russen gesehen“, begann Leibniz, als er sich niedergelassen hatte.
Leibniz war entsetzt. Was sollte er antworten? Hatte es über-
haupt einen Sinn, zu antworten? Lefort schien Hannover an-
scheinend nicht für einen Staat zu halten, mit dem man über-
haupt zu verhandeln brauchte.
„Nun ?“ fragte Lefort gedehnt und ungeduldig. „Ach, ent-
schuldigen Sie, ich vergaß, Ihnen etwas anzubietenl“ Und er
füllte ein Glas mit Likör und schob es Leibniz hin.
Leibniz nippte mechanisch. Dann erwiderte er:
„Es tut mir unendlich leid, Sie in so schlechterVerfassung an-
zutreífen, Durchlaucht! Ich hatte die kühne Hoffnung gehegt,
aus so hervorragendem Munde einiges über Rußland zu er-
fahren und darüber hinaus Dinge zu besprechen, die Rußland
und Hannover gemeinsam interessieren könnten.“
Lefort lächelte melancholisch.
„Rußland? Was weiß ich über Rußland? Alles ist ein Spuk,
lieber Baron. Und Angelegenheiten zwischen uns und Hanno-
ver? Oh du meine Güte! Was sollten das für Angelegenheiten
sein ? Wir haben schon so viele Angelegenheiten, daß ich nicht
mehr aus noch ein weiß. Holland, England, Frankreich, Bran-
denburg, Litauen, Polen, Schweden, Türkei. Jetzt kommt Öster-
reich, Venedig und Ungarn dazu. Nein, verehrter, lieber, bester
Baron! Sagen Sie Ihrem Kurfürsten, wir ließen uns innigst für
das Schloß hier bedanken. Es gefällt uns sehr. Und wenn der
Kurfürst einmal nach Rußland kommt, werden wir ihm auch ein
Schloß zur Verfügung stellen. Das sind unsre gemeinsamenAn-
gelegenheiten. Wenn Sie aber einen russischen Orden zu tragen
wünschen, Baron, dann bitte schreiben Sie Ihren Namen bei
Naryschkin, ich meine den Sekretär, der sich einbildet, Pariser
Tracht zu tragen, in die Liste. Es hat mich wirklich aufrichtig
gefreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Baron I“ Und er
streckte Leibniz mit leidendem Gesichtsausdruck die Hand hin.
Leibniz fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Auf
eine solche Niederlage war er nicht gefaßt gewesen. Nichts,
weniger als nichts. Lefort spottete vielleicht nicht einmal. Ihm
war Hannover wirklich gleichgültig. Gleichgültiger als sein
schmerzender Kopf. Und er schien sich auch nicht im gering-
sten darüber klar zu sein, daß von hier doch einige Fäden nach
521
 
:Die Kurfürstin lachte unvermittelt auf.
Wien, nach Brandenburg, nach Polen, Ungarn und Venedig
liefen. Und Leibniz wollte schon versuchen, den anmaßenden
Wojwoden ein wenig aufzuklären. Lefort aber machte auch
diese Absicht zunichte, da er aufgestanden war und mit müden
Schritten sich anschickte, den Gast zur Tür zu begleiten.
Leibniz sah nach dieser unmißverständlichen Geste endgültig
ein, daß er als Abgesandter des Kurfürsten nur mehr die Mög-
lichkeit hatte, Lefort direkt zu beleidigen oder sich schweigend
zurückzuziehen. Zum ersten hatte er keine Vollmacht. Das
zweite war deshalb nicht so schlimm, da ja die Unzugänglich-
keit der Großen Gesandtschaft bekannt war. Aber es gab noch
einen Ausweg. Die Gesandtschaft hatte ja drei Führer. Viel-
leicht konnte er Golowin oder Wosnizyn stellen. Einen Dol-
metsch würde man schon auftreiben. So empfahl er sich äußerst
förmlich und gemessen.
 
:„Eine nette Bande“, sagte sie dann etwas ernster. „Sie wissen ja, daß ich Sie wegen eben dieser Russen hierherbat.“
522
 
:„Es wurde mir gemeldet.“
 
:„Gut, daß man Sie so schnell fand. Nun hören Sie zuerst das Wichtigste. Wir haben Glück. Der berüchtigte Zar ist nicht dabei. Er hat mit einer anderen Kolonne Halberstadt beglückt, soll auf den Blocksberg gestiegen sein und ist jetzt schon auf dem Weg nach Wien. Ich bin, aufrichtig gesagt, froh, daß wir seine Anwesenheit mit Anstand vermeiden können.“
 
:„Mir tut es leid, Hoheit“, erwiderte Leibniz. „Man hätte vielleicht mit ihm sprechen können.“
 
:„Das können Sie besser mit Lefort. Der Zar ist nach meiner Ansicht ein Wahnsinniger, wenn ihm auch eine gewisse Genialität nicht abzusprechen ist. Wir lachen in einemfort über seine Streiche. Aber diese Stückchen sind leider sehr ernste Anzeichen für das, was Europa von ihm zu fürchten hat.“
 
:„Ganz meine Ansicht, Hoheit.“
 
:„Das freut mich, Leibniz. Und darum will ich, daß Sie mit Lefort sprechen.“
 
:„Sind die Russen hier eingezogen? Ich sah im Schlosse nirgends eine Spur von ihnen.“
 
:„Nein, sie sind dem Schloß im Bogen ausgewichen. Sie hatten nur einen Dolmetsch vorausgesandt, der mit uns verhandelte, noch bevor die Russen in Hannover ankamen. Sie sind trotz ihrer prahlerischen Pracht geradezu menschenscheu. Und sie baten, in einem möglichst abgelegenen Schloß für einen Tag rasten zu dürfen. Ich habe ihnen mein stilles Koppenbrügge zur Verfügung gestellt. Und Sie, Leibniz, müssen jetzt sofort hinaus nach Koppenbrügge. Der Wagen und sechs Gardisten mit einem Offizier warten bereits unten.“
 
:Leibniz erhob sich, da die Kurfürstin ein wenig hastig gesprochen hatte. In diesem Augenblick drehte sich Charlotte um und konnte ihr Lachen kaum verhalten.
 
:„Noch ein paar Anekdoten, Leibniz, bevor Sie zu diesen Monstren fahren“, sagte sie lächelnd. „Es ist fast unglaublich, was diese Menschen treiben.“ Und sie kam näher. Dann setzte sie fort: „Von ihren Festlichkeiten und Gelagen spreche ich lieber nicht. Die sind beispiellos. Die übliche Zecherei des Zaren mit Lefort pflegt ununterbrochen drei Tage und drei Nächte zu dauern. Dabei legen die Wüsten Gesellen nicht einmal in den Nächten die Kleider ab, sondern schlafen zwischendurch irgendwo auf dem Boden oder auf einem Sofa. Daß sämtliche Gläser zerschlagen werden, ist klar. Es ist auch selbstverständlich, daß man ab und zu mit scharfen Waffen ficht und daß ein paar Leute dabei verletzt werden. Gewöhnlich hält Peter, wenn er betrunken ist,irgendwen für einen Verräter und will ihn aufspießen. Wer ihn davon abhält, ist ein Mitverschworener. Wer ihn nicht abhält, ist ein Verräter, wenn der Zar wieder nüchtern ist.“
 
:„Ein angenehmer Hofdienst!“ fiel Leibniz ein.
 
:„Gewiß, sehr angenehm.“ Charlottens Ton wurde ebenfalls ironisch. „Es gibt aber noch charmante Einzelheiten bei diesen Festen. Stets muß ein eigener Raum mit allerlei Frauenzimmern angefüllt sein. Und diese Mädchen haben die Pflicht, während der ganzen Zeit der Gelage zu Diensten zu stehen. Da dies aber keine aushält, hat Lefort, als routinierter Admiral, die Ordnung der Schiffswachen eingeführt. Die Mädchen werden genau alle vier Stunden abgelöst, wie die Wachen einer Fregatte. Ist das nicht wunderschön?“
 
:„Zumindest durchdacht und zweckentsprechend.“ Leibniz, den ein Ekel ankroch, blickte zu Boden.
 
:Charlotte aber lachte auf.
 
:„Das ist ja bloß die Erholung“, sagte sie sarkastisch. „Die ,Regierungstätigkeit‘ ist bedeutend komplizierter. So hat Peter unlängst in Mitau einer Dame auf der Straße plötzlich mit so furchtbarer Stimme ein Halt zugerufen, daß sie wie erstarrt stehen blieb. Dann ging er auf sie zu, als ob er sie verschlucken wollte, nahm ihr kurzerhand die emaillierte Uhr vom Busen, beguckte sie außen und innen, gab sie wieder zurück und brüllte ,Marsch!‘ Dann ging er gemächlich Weiter. Ein anderesmal hat er sich in Königsberg bei einem Galadiner plötzlich eingebildet, er müsse die ihm noch unbekannte Strafe des Räderns sehen. Als man ihm erklärte, es sei niemand da, der zu solcher Strafe verurteilt sei, lachte er zuerst schallend, dann sprang er auf, hieb mit der Faust auf den Tisch und schrie unverständliche Flüche. Plötzlich Wurde er ruhig und Vergnügt und zeigte auf einen seiner Gardisten, der an der Saalwand Leibwache stand. ,Nehmt den dort! Dem Wird es eine Ehre sein, mir das kleine Vergnügen zu machen‘, grinste er. Und mein Gatte, der Kurfürst, mußte alles aufbieten, um den Justizmord zu verhindern. Aber ich Will sie nicht länger aufhalten, Leibniz. Ich erzähle Ihnen nur noch, daß sich der Zar sehr eingehend für die Naturwissenschaften interessiert. Besonders die Anatomie ist sein Gebiet. Als er in Holland einmal einer Sezierung zusah, und bei einer Leiche alle Adern und Sehnen bloßlagen, Wollte sich ein Edelmann seines Gefolges drücken, da anscheinend sein Magen dem Anblick nicht gewachsen war. Peter bemerkte es, faßte ihn am Kragen und befahl ihm bei Todesstrafe, mit den Zähnen einen Muskel der Leiche herauszureißen. Er nennt solche Dinge ,Aufklärung des Volkes‘. Sehen Sie jetzt ein, Leibniz, daß meine Mutter froh ist, nur Herrn Lefort zu beherbergen?“
 
:Leibniz machte eine verständnislose Geste.
 
:„Ein Rätsel“, erwiderte er dann langsam. „Ein unlösbares Rätsel. Derselbe Zar Peter besitzt nämlich, soviel ich hörte, auch andre Fähigkeiten. Weit andre. Ich werde auf jeden Fall versuchen, Lefort ein wenig zu beeinflussen. Im Sinne einer Trennung Asiens von Europa. Auch in der eigenen Brust des Zaren.“
 
:„Dieser Versuch ist zumindest gewagt“, sagte plötzlich die Kurfürstin Sophie, die dem letzten Teil des Gespräches kaum zugehört zu haben schien. „Und nun, Leibniz, sehen Sie zu, was Sie ausrichten. Daß Sie nicht auf strenge Etikette zu rechnen haben, dürfte Ihnen klar sein. Leben Sie wohl!“
 
:Leibniz kam zu Mittag in Koppenbrügge an. Das Schloß war zwischen Wäldern gelegen und ließ an Einsamkeit nichts zu wünschen übrig.
 
:Schon im Schloßhof sah er, daß die Russen sich häuslich eingerichtet hatten. Die Pferde, die Wagen, Lanzen, Gewehre, die vergoldete Kanone und alles übrige stand regellos umher und die Soldaten saßen beim Branntwein und sangen und gröhlten.
 
:Die hannöverschen Gardisten, die Leibniz begleiteten, waren Veteranen aus den Türkenkriegen. Sie wußten genau, daß solcher Soldateska gegenüber jede Schwäche nur schwere Konflikte bringen konnte. Deshalb traten sie möglichst entschieden, fast drohend auf, herrschten die Russen an und umringten Leibniz so lange, bis ein etwas weniger bezechter Offizier sichtbar wurde.
 
:Dieser nun erblickte seine Aufgabe wieder darin, zu brüllen. Er teilte sogar an seine Leute Fußtritte aus und machte schließlich vor Leibniz einige Verbeugungen, die dieser sehr hoheitsvoll erwiderte. Der Offizier war über die Unherzlichkeit Leibnizens zuerst beleidigt. Plötzlich aber dämmerte es ihm auf, daß es vielleicht geratener wäre, seinen Unmut zu unterdrücken und er führte Leibniz wortlos über eine Treppe hinauf. In einem Vorsaal saßen Edelleute in Hemdärmeln, die ebenfalls „rasteten“. Das heißt, sie spielten Karten, schrien durcheinander und tranken. Einer schien über Leibniz einen Witz gemacht zu haben. Denn alle blickten unvermittelt auf ihn, kehrten sich dann ab und lachten.
 
:„Mit wem haben wir das Vergnügen?“ fragte plötzlich neben Leibniz eine Stimme auf französisch. Das Lachen verstummte.
 
:Leibniz wandte sich zum Sprecher. Ein typischer Russe mit breiten Backenknochen und tiefliegenden schwarzen Augen. Er trug eine minderprächtige Uniform.
 
:„Mit dem Geheimen Justizrat, Reichsfreiherrn von Leibniz“, erwiderte Leibniz leise und abweisend. „Ich erscheine im direkten Auftrag des hohen Kurfürsten. Ich bitte, mich Seiner Hoheit, dem Herrn Wojwoden Admiral Lefort zu melden.“
 
:„Sofort werde ich die Meldung erstatten.“ Der Dolmetsch grinste sonderbar und verschwand durch eine Tür.
 
:Leibniz war ein wenig verstört. So schlimm hatte er sich den Empfang nicht vorgestellt. Diese Gesandtschaft, die „Große Gesandtschaft“, die Europa imponieren, die geradezu die Geschicke Europas verwandeln sollte, war doch sicher aus der Elite Rußlands zusammengesetzt. Wie sahen dann die anderen Russen aus? Wahrlich, ein sehr, sehr bedenklicher Fastnachtsaufzug!
 
:Der Dolmetsch kam zurück.
 
:„Väterchen Wojwode lassen bitten“, schnarrte er nicht eben freundlich. Und er zeigte mit einer plumpen Geste gegen die Tür.
 
:Nun kam die Entscheidung. Eine Entscheidung, die das Geschick Europas für Jahrhunderte beeinflussen konnte. Leibniz biß die Zähne zusammen. Er mußte Lefort für sich gewinnen. Mußte! Das Beiwerk dieser betrunkenen Horde war gleichgültig. Lefort war ein Genfer. Aus französischem Adel. War ein Europäer, wenn er auch, wie man hörte, der Anführer aller Zechgelage und Orgien war. Das war aber vielleicht nur feinste Diplomatie, um Peter zu betäuben. Man würde sehen. Jedenfalls habe ich meinen ehernen Plan. Ich habe schon schwierigere Kämpfe durchgefochten. Lefort ist wahrscheinlich nur im Verhältnis zu den Russen ein großer Staatsmann. Und Leibniz trat ein.
 
:Auf einem Fauteuil, hinter einem verschwenderisch gedeckten Tisch saß, ungemein prächtig gekleidet, der „Wojwode“. Er lungerte eher als daß er saß. Und hatte eine nasse Binde um die Stirne geschlagen.
 
:„Mir ist nicht recht wohl“, sagte er mit müder Stimme und erhob sich ein wenig, ließ sich jedoch gleich wieder zurückfallen. „Bitte, Baron, setzen Sie sich zu mir. Hoffentlich haben Sie mir nicht zu viel zu erzählen. Jedes Wort schmerzt mich im Kopf. Ich fürchte, es ist der Beginn einer Krankheit.“ Und er nahm eine Birne vom Tisch und biß unbekümmert hinein. „Ach, Pawel Iwanowitsch, du bist noch da? Mach, daß du hinauskommst! Stell dich aber vorher noch gefälligst vor.“
 
:Jetzt erst bemerkte Leibniz, daß im Hintergrund des Zimmers vor einem Tischchen ein grotesk gekleideter Sekretär hockte, der eifrig schrieb. Er trug eine strohgelbe Stutzperücke, war mit einem erbsengrünen französischen Rock bekleidet und machte einen nicht unintelligenten Eindruck. Als er aufstand und auf Leibniz zukam, schien er sogar eine gewisse Straffheit des Körpers zu besitzen. Nur hatte er die merkwürdige Gewohnheit, ganz unvermittelt wie besessen mit dem Kopf und dem rechten Arm zu schütteln, wobei sich seine schwarzen Augen erschreckend weiteten. Auf der rechten Wange hatte er eine große Warze. Er stellte sich ein wenig scheu und schlottrig vor und verließ schweigend den Raum, nicht ohne daß ihn noch bei der Tür eine seiner Zuckungen überkam.
 
:Als sich Leibniz gesetzt hatte, meinte Lefort gelangweilt:
 
:„Das ist Pawel Naryschkin, ein entfernter Vetter Seiner Majestät. Er ist mir ein Rätsel. Dieses Zucken ist mir unheimlich. Ich halte es für den Beginn der hinfallenden Krankheit. Ansonst ist er still, bescheiden und tüchtig. Und scheint auch, soweit ich es beurteilen kann, dem erhabenen Zaren nichts zu hintertragen, obgleich er einigen Einfluß auf ihn hat. Aber jetzt, Baron, sagen Sie mir schnell Ihre Wünsche. Wir sind die Nacht durchgeritten und ich möchte mich niederlegen. Morgen müssen wir dann dem Zaren nachjagen. Er soll schon großen Vorsprung haben. Ich freue mich sehr auf Wien. Waren Sie schon dort, Baron?“ Lefort gähnte und schlug sich mit der flachen Hand auf den weitgeöffneten Mund.
 
:Leibniz war entsetzt. Was sollte er antworten? Hatte es überhaupt einen Sinn, zu antworten? Lefort schien Hannover anscheinend nicht für einen Staat zu halten, mit dem man überhaupt zu verhandeln brauchte.
 
:„Nun?“ fragte Lefort gedehnt und ungeduldig. „Ach, entschuldigen Sie, ich vergaß, Ihnen etwas anzubieten!“ Und er füllte ein Glas mit Likör und schob es Leibniz hin.
 
:Leibniz nippte mechanisch. Dann erwiderte er:
 
:„Es tut mir unendlich leid, Sie in so schlechter Verfassung anzutreffen, Durchlaucht! Ich hatte die kühne Hoffnung gehegt, aus so hervorragendem Munde einiges über Rußland zu erfahren und darüber hinaus Dinge zu besprechen, die Rußland und Hannover gemeinsam interessieren könnten.“
 
:Lefort lächelte melancholisch.
 
:„Rußland? Was weiß ich über Rußland? Alles ist ein Spuk, lieber Baron. Und Angelegenheiten zwischen uns und Hannover? Oh du meine Güte! Was sollten das für Angelegenheiten sein ? Wir haben schon so viele Angelegenheiten, daß ich nicht mehr aus noch ein weiß. Holland, England, Frankreich, Brandenburg, Litauen, Polen, Schweden, Türkei. Jetzt kommt Österreich, Venedig und Ungarn dazu. Nein, verehrter, lieber, bester Baron! Sagen Sie Ihrem Kurfürsten, wir ließen uns innigst für das Schloß hier bedanken. Es gefällt uns sehr. Und wenn der Kurfürst einmal nach Rußland kommt, werden wir ihm auch ein Schloß zur Verfügung stellen. Das sind unsre gemeinsamen Angelegenheiten. Wenn Sie aber einen russischen Orden zu tragen wünschen, Baron, dann bitte schreiben Sie Ihren Namen bei Naryschkin, ich meine den Sekretär, der sich einbildet, Pariser Tracht zu tragen, in die Liste. Es hat mich wirklich aufrichtig gefreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Baron!“ Und er streckte Leibniz mit leidendem Gesichtsausdruck die Hand hin.
 
:Leibniz fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Auf eine solche Niederlage war er nicht gefaßt gewesen. Nichts, weniger als nichts. Lefort spottete vielleicht nicht einmal. Ihm war Hannover wirklich gleichgültig. Gleichgültiger als sein schmerzender Kopf. Und er schien sich auch nicht im geringsten darüber klar zu sein, daß von hier doch einige Fäden nach Wien, nach Brandenburg, nach Polen, Ungarn und Venedig liefen. Und Leibniz wollte schon versuchen, den anmaßenden Wojwoden ein wenig aufzuklären. Lefort aber machte auch diese Absicht zunichte, da er aufgestanden war und mit müden Schritten sich anschickte, den Gast zur Tür zu begleiten.
 
:Leibniz sah nach dieser unmißverständlichen Geste endgültig ein, daß er als Abgesandter des Kurfürsten nur mehr die Möglichkeit hatte, Lefort direkt zu beleidigen oder sich schweigend zurückzuziehen. Zum ersten hatte er keine Vollmacht. Das zweite war deshalb nicht so schlimm, da ja die Unzugänglichkeit der Großen Gesandtschaft bekannt war. Aber es gab noch einen Ausweg. Die Gesandtschaft hatte ja drei Führer. Vielleicht konnte er Golowin oder Wosnizyn stellen. Einen Dolmetsch würde man schon auftreiben. So empfahl er sich äußerst förmlich und gemessen.
 
Kapitelende
 
:[[Curso de alemán nivel medio con audio|índice]]