Diferencia entre revisiones de «Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 277c»

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== 31. Ankunft in Hannover ==
 
:Es war wenige Tage vor Weihnachten des Jahres 1676, als Leibniz, vom Westen kommend, mit seinem Reisewagen die Brücken der Leine und Ihme übersetzte und in Hannover einfuhr. Feierlich und sonderbar war ihm zumute. Denn von allen Kirchen tönte, durch einen Ostwind ihm entgegengetragen, das vielstimmige Lied der Mittagsglocken. Und ein leichtes, munteres Schneegestöber Wirbelte durch die Luft, über die Kirchtürme, Bastionen und die zahllosen spitzen Giebel hochragender Häuser.
:Es war wenige Tage vor Weihnachten des Jahres 1676, als
Leibniz, vom Westen kommend, mit seinem Reisewagen die
Brücken der Leine und Ihme übersetzte und in Hannover ein-
fuhr. Feierlich und sonderbar war ihm zumute. Denn von allen
Kirchen tönte, durch einen Ostwind ihm entgegengetragen,
das vielstimmige Lied der Mittagsglocken. Und ein leichtes,
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:In den Straßen tummelte sich in Vorweihnachtsstimmung die Jugend. Zahlreiche Bürger, Offiziere, Frauen, Kleriker lustwandelten und besahen sich ohne Hast und mit behaglichem Schmunzeln die ausgelegten Waren. Aus den Schornsteinen aber stieg dicker Rauch, und es duftete, vermengt mit herrlichem Schneegeruch, allenthalben von Kuchen und Braten.
 
:Leibniz schämte sich nicht, diese letzten höchst alltäglichen Lockungen so stark zu verspüren. Wie die Reste eines erhabenen, furchtbaren und verwirrend bunten Traumes erloschen mächtige Bilder und Gesichte in seinem Innern: Paris, England, Holland. Spinoza und Leeuwenhoek. Die Reise durch endlose Marschen und Ebenen, zwischen Windmühlen und Kanälen. Der Rhein, den er neuerlich überquert hatte. Dunkle Föhren-Wälder. Die rote Erde Westfalens. Unsagbar traurige und doch schöne Heiden. Hügel, Dörfer und Schlösser...
munteres Schneegestöber Wirbelte durch die Luft, über die
Kirchtürme, Bastionen und die zahllosen spitzen Giebel hoch-
ragender Häuser.
In den Straßen tummelte sich in Vorweihnachtsstimmung
die Jugend. Zahlreiche Bürger, Offiziere, Frauen, Kleriker lust-
Wandelten und besahen sich ohne Hast und mit behaglichem
Schmunzeln die ausgelegten Waren. Aus den Schornsteinen
aber stieg dicker Rauch, und es duftete, vermengt mit herrli-
chem Schneegeruch, allenthalben von Kuchen und Braten.
Leibniz schämte sich nicht, diese letzten höchst alltäglichen
Lockungen so stark zu verspüren. Wie die Reste eines erhabenen,
furchtbaren und verwirrend bunten Traumes erloschen mäch-
tige Bilder und Gesichte in seinem Innern: Paris, England,
Holland. Spinoza und Leeuwenhoek. Die Reise durch endlose
Marschen und' Ebenen, zwischen Windmühlen und Kanälen.
Der Rhein, den er neuerlich überquert hatte. Dunkle Föhren-
Wälder. Die rote Erde Westfalens. Unsagbar traurige und doch
schöne Heiden. Hügel, Dörfer und Schlösser. . .
Um ihn tönten jetzt deutsche Laute, als sein Wagen in der
Nähe der Ägidienkirche vor einem uralten Fachwerkbau hielt:
Vor dem Gasthof, den er zunächst beziehen Würde. Und als er
ausstieg und nichts als deutsche Worte ihm entgegenklangen,
verdichtete sich seine innere Schau zu einem Jubelgefühl. Der
Duft von Kuchen, von Braten, sein Wild erwachender Hunger
machten ihn zum Kinde, das zur Mutter zurückgekehrt ist und
von ihr mit Leckerbissen empfangen Wird.
Der alte Wirt verbeugte sich tief vor dem neuen Würden-
träger am Hof des Herzogs, dessen Ruhm seinem körperlichen
Erscheinen vorangeeilt War. Leibniz drückte dem Verdutzten,
der hochtrabende, mit lateinischen, falsch verwendeten Brocken
gewürzte Begrüßungsworte stammelte, kräftig die fettige Hand
und lachte laut Wie ein Berauschter ; was den devoten Wirt noch
Weit bedenklicher stimmte, da er solches Betragen geradezu für
die hämische Laune eines ansonst grausamen und maßlosen
Herrn hielt. Er krümmte also neuerlich den Rücken und ver-
sicherte, daß sein armseliges Haus dero Gnaden vielleicht nicht
vollends den Eindruck einer Buschenschenke oder Räuberhöhle
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:Um ihn tönten jetzt deutsche Laute, als sein Wagen in der Nähe der Ägidienkirche vor einem uralten Fachwerkbau hielt: Vor dem Gasthof, den er zunächst beziehen Würde. Und als er ausstieg und nichts als deutsche Worte ihm entgegenklangen, verdichtete sich seine innere Schau zu einem Jubelgefühl. Der Duft von Kuchen, von Braten, sein Wild erwachender Hunger machten ihn zum Kinde, das zur Mutter zurückgekehrt ist und von ihr mit Leckerbissen empfangen wird.
 
:Der alte Wirt verbeugte sich tief vor dem neuen Würdenträger am Hof des Herzogs, dessen Ruhm seinem körperlichen Erscheinen vorangeeilt War. Leibniz drückte dem Verdutzten, der hochtrabende, mit lateinischen, falsch verwendeten Brocken gewürzte Begrüßungsworte stammelte, kräftig die fettige Hand und lachte laut wie ein Berauschter; was den devoten Wirt noch Weit bedenklicher stimmte, da er solches Betragen geradezu für die hämische Laune eines ansonst grausamen und maßlosen Herrn hielt. Er krümmte also neuerlich den Rücken und versicherte, daß sein armseliges Haus dero Gnaden vielleicht nicht vollends den Eindruck einer Buschenschenke oder Räuberhöhle machen würde, und daß er dero Gnaden bis ans Lebensende obligiert wäre, wenn hochdero Relation ihm seinerzeit nicht die Ausstoßung aus der Zunft eintragen würde. Im übrigen sei alles, soweit ein schwacher Verstand es fassen könne, aufs diligenteste vorbereitet, es würde aber aller Voraussicht nach einem Herrn, der Paris gewohnt sei, nur ein mitleidiges Lächeln entlocken. Denn wenn auch Jugend kein Hindernis für hohe Würden sei, könnte sie gleichwohl ein Hindernis für die Milde sein, die ein armer Gastwirt aus Hannover von einem sozusagen französischen Edelmann höchst nötig habe.
machen würde, und daß er dero Gnaden bis ans Lebensende
obligiert wäre, wenn hochdero Relation ihm seinerzeit nicht die
Ausstoßung aus der Zunft eintragen würde. Im übrigen sei
alles, soweit ein schwacher Verstand es fassen könne, aufs dili-
genteste vorbereitet, es würde aber aller Voraussicht nach einem
Herrn, der Paris gewohnt sei, nur ein mitleidiges Lächeln ent-
locken. Denn wenn auch Jugend kein Hindernis für hohe Wür-
den sei, könnte sie gleichwohl ein Hindernis für die Milde sein,
die ein armer Gastwirt aus Hannover von einem sozusagen
französischen Edelmann höchst nötig habe.
Während dieser im weiteren Verlauf nicht mehr gestammel-
ten, sondern hervorgesprudelten Rede betrachtete der Wirt mit
wasserblauen, unter goldgesticktem Käppchen hervorblinzeln-
den Augen wie fasziniert das Antlitz seines Gastes, das von der
frischen Schneeluft gerötet war und noch weit jünger aussah
als sonst.
„Ich bin ein Deutscher, will ein Deutscher sein und werde
mit dem vorlieb nehmen, was mir mein Vaterland bietet“, sagte
Leibniz, als sie schon in den Flur gingen. „Dabei glaube ich,
daß mir Deutschland ebensoviel bieten kann, wie jedes andre
Land. Mein Diener aber kann Ihnen einige französische Rezepte
verraten, falls sie Ihnen nicht ohnedies schon bekannt sind.“
Der Ton Leibnizens war um einen Schatten weniger froh und
heiter, als er, noch lächelnd, diese Worte aussprach. Denn schon
hier, an der Schwelle seines Vaterlandes, erreichte ihn die große
Warnung. So klein auch das Vorzeichen war: Bis hieher griff
die riesige Kralle, die Boineburg einst vor Jahren über den
Rhein hatte langen sehen. Deren Nägel die furchtbaren Lilien
des Sonnenkönigs waren.
Er hatte sich einem Lande, einem Herrscher verdungen, der
im Bündnis mit Ludwig dem Vierzehnten stand, der Subsidien
von Frankreich nahm und seine Truppen durch einen franzö-
sischen General, einen Vasallen des brutalen Herrn von Louvois
drillen ließ. Und diese Lilien-Kralle hatte selbst den bieder-
derben Wirt gepackt und ihn so sehr aus dem Gleichgewicht
geworfen, daß er vor Frankreich katzbuckelte und sich seines
Deutschtums schämte. Was wußte dieser tolpatschige Gallo-
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:Während dieser im weiteren Verlauf nicht mehr gestammelten, sondern hervorgesprudelten Rede betrachtete der Wirt mit wasserblauen, unter goldgesticktem Käppchen hervorblinzelnden Augen wie fasziniert das Antlitz seines Gastes, das von der frischen Schneeluft gerötet war und noch weit jünger aussah als sonst.
 
:„Ich bin ein Deutscher, will ein Deutscher sein und werde mit dem vorlieb nehmen, was mir mein Vaterland bietet“, sagte Leibniz, als sie schon in den Flur gingen. „Dabei glaube ich, daß mir Deutschland ebensoviel bieten kann, wie jedes andre Land. Mein Diener aber kann Ihnen einige französische Rezepte verraten, falls sie Ihnen nicht ohnedies schon bekannt sind.“
Grec (wie man neuerdings die Franzosenknechte in Deutschland
spottend nannte), wen er da mit Leibniz ins Haus bekommen
hatte? Einen „sozusagen französischen Edelmann“? Der ihm
noch mehr imponierte, als wenn bloß ein neuer deutscher Höf-
ling hereingerasselt wäre? Was wußte der Wirt? Würde er nicht
ein Kreuz schlagen wie vor dem Gottseibeiuns und wie vor
einem Hochverräter, wenn er die Wahrheit wüßte? Nämlich,
daß dieser durch Schicksal ewig zwei- und zehndeutige Leibniz
geradezu als Deserteur Londons und Spinozas, vollbepackt mit
geheimer Konterbande, gegen die alle Spezereien, Spitzen und
geheimen Militärdokumente harmloses Kinderspiel waren,
seine Heimat an gefährdetster Stelle wieder betrat, um seiner
Nation das zu bringen, was ihr fehlte? Und dadurch viel-
leicht auch der „beraubten“ Nation zu nützen? Weil diese dann
nicht mehr so selbstherrlich und siegessicher, bessere Ziele an-
strebte als die Plünderung und Einsackung des Nachbarn?
Vielleicht war er ein mehr als gelehriger Schüler und Erbe
des großen, verewigten Boineburg. Ewig noch, ewig begeistert,
glühend in Patriotismus -- und gleichwohl stets in der Rolle
eines Verräters . . .
Leibniz freute sich der behaglichen Wärme in seinen beiden
großen halbdunklen Zimmern, als er eingetreten war und sie
durchschritt. Auf dem Tisch dampfte eine würzige Suppe, fri-
sches Brot lag in leckeren Schnitten auf einem silbernen Teller
und eine Flasche Rheinwein stand, noch angelaufen vom
Schnee und verstaubt, daneben.
Er warf sich, gegen seine sonstige, eher bedächtige Art, ge-
löst in den Polstersessel und bat den Wirt, seinen Diener vorerst
mit einer Mahlzeit zu versorgen. Dann möge er mit diesem
zusammen das Gepäck herauf schaffen und alles, was noch
fehlte, einrichten. Denn er, Leibniz, müsse in einigen Stunden
vor seiner Hoheit, dem Herzog Johann Friedrich erscheinen.
Und dies in höfischer Tracht.
Wieder gab es dem Wirt einen Stoß. Leibnizens Äußerung
hatte ihm die volle Wirklichkeit der Höhenluft gezeigt, die die-
sen jungen Fremdling umwitterte. Dazu sollte er noch ein
Protestant sein und ein Gelehrter. Ein Rechtsgelehrter, ein
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:Der Ton Leibnizens war um einen Schatten weniger froh und heiter, als er, noch lächelnd, diese Worte aussprach. Denn schon hier, an der Schwelle seines Vaterlandes, erreichte ihn die große Warnung. So klein auch das Vorzeichen war: Bis hierher griff die riesige Kralle, die Boineburg einst vor Jahren über den Rhein hatte langen sehen. Deren Nägel die furchtbaren Lilien des Sonnenkönigs waren.
 
:Er hatte sich einem Lande, einem Herrscher verdungen, der im Bündnis mit Ludwig dem Vierzehnten stand, der Subsidien von Frankreich nahm und seine Truppen durch einen französischen General, einen Vasallen des brutalen Herrn von Louvois drillen ließ. Und diese Lilien-Kralle hatte selbst den biederderben Wirt gepackt und ihn so sehr aus dem Gleichgewicht geworfen, daß er vor Frankreich katzbuckelte und sich seines Deutschtums schämte. Was wußte dieser tolpatschige Gallo-Grec (wie man neuerdings die Franzosenknechte in Deutschland spottend nannte), wen er da mit Leibniz ins Haus bekommen hatte? Einen „sozusagen französischen Edelmann“? Der ihm noch mehr imponierte, als wenn bloß ein neuer deutscher Höfling hereingerasselt wäre? Was wußte der Wirt? Würde er nicht ein Kreuz schlagen wie vor dem Gottseibeiuns und wie vor einem Hochverräter, wenn er die Wahrheit wüßte? Nämlich, daß dieser durch Schicksal ewig zwei- und zehndeutige Leibniz geradezu als Deserteur Londons und Spinozas, vollbepackt mit geheimer Konterbande, gegen die alle Spezereien, Spitzen und geheimen Militärdokumente harmloses Kinderspiel waren, seine Heimat an gefährdetster Stelle wieder betrat, um seiner Nation das zu bringen, was ihr fehlte? Und dadurch vielleicht auch der „beraubten“ Nation zu nützen? Weil diese dann nicht mehr so selbstherrlich und siegessicher, bessere Ziele anstrebte als die Plünderung und Einsackung des Nachbarn?
Physikus, ein Philosoph, Geometer, vielleicht gar ein Alchimist.
Redete in zehn Zungen, wenn die Fama nicht log. Und sah aus
wie ein Student, wenn er nicht gar so sicher, hoheitsvoll und
herrisch blickte. Aber er fluchte ja nicht, war freundlich und
lächelte. Ah, auch noch ein Staatsmann und Diplomat! Gewiß,
bei ihm, dem tüchtigen Wirten, waren schon hohe Herren ab-
gestiegen. Die aber reisten wieder fort. Nach Tagen, Wochen,
Monaten. Der aber, dieser Leibniz, dieser allerunheimlichste
Lächler, der mit seinen Augen schon einigemale weiß Gott in
welch ferne Zauberwelten geblickt hatte, würde hier bleiben.
Fuhr heute schon zum Herzog. Man war keinen Herzschlag
sicher. Jetzt, eben einige Tage vor Weihnachten. Vielleicht
brachte er gar den Krieg oder Umwälzung. Und dieser Herr
Leibniz, der mit seinem Kindergesicht schon ein Intimus des
Herzogs war, was würde der erst werden in zwanzig, dreißig
Jahren? Man mußte ihm zureden, sich bald ein Haus zu kaufen.
Dabei ließ sich noch einiges verdienen. Und man hatte ihn los
und hatte ihn noch verpflichtet. Wenn das Haus ihm aber nicht
gefiel? Ihm, der eben aus Paris kam, wo die Häuser bis zum
Himmel strebten? Und wahrscheinlich ganz aus Marmor,
Bronze und Kacheln erbaut waren? Und dann wollte er einen
noch fangen und ausholen und behauptete, er sei ein begeister-
ter Deutscher. Damit man höflich zustimmt und er dann am
Nachmittag dem Herzog erzählt, schon sein erster Schritt in
Hannover habe ihn Conspirationes gezeigt, die im Bürgertum
schwelten. So sei der Wirt, bei dem er, Herr Leibniz, wohne
ein „begeisterter Deutscher“ und Feind des Bündnisses mit
Ludwig. Sei also schnurstracks ein Aufwiegler gegen die Staats-
kunst Seiner Hoheit. Ergo mit ihm ins Loch. Oder sagte er es
heute noch nicht, weil er nicht dazukommt? Aber vielleicht
morgen oder übermorgen? Oder aus Zorn, wenn einmal der
Braten zu klein ist oder die Pastete, Gott sei davor, anbrennt ?!
Oder wenn ein Floh in seinen Kissen hüpft? Wer kann das aus-
halten, jetzt, einige Tage vor Weihnachten, wo sich Frauen und
Kinder schon auf den Christbaum freuen! Was aber soll man
machen? Es wird auf jeden Fall am billigsten sein, ihm weniger
zu rechnen als allen andern und ihm gerade das Allerbeste
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:Vielleicht war er ein mehr als gelehriger Schüler und Erbe des großen, verewigten Boineburg. Ewig noch, ewig begeistert, glühend in Patriotismus - und gleichwohl stets in der Rolle eines Verräters...
 
:Leibniz freute sich der behaglichen Wärme in seinen beiden großen halbdunklen Zimmern, als er eingetreten war und sie durchschritt. Auf dem Tisch dampfte eine würzige Suppe, frisches Brot lag in leckeren Schnitten auf einem silbernen Teller und eine Flasche Rheinwein stand, noch angelaufen vom Schnee und verstaubt, daneben.
vorzusetzen. Er ruiniert mich sonst, dieser unheimliche junge
Hofmann. Er ist mein Unglück, ich weiß es! Ich werde eine
Messe zahlen. Vielleicht schützt mich Gott, weil dieser Herr ein
Protestant ist. Und dann werde ich dem Diener sovielWein geben,
daß er mir die Wahrheit über seinen Herrn sagt. Und die Mägde
dürfen nicht in seinen Sachen kramen. Ein hochnotpeinlicher
Spionageprozeß ist schnell vom Zaun gebrochen. Dabei, und
das ist das größte Unglück, gefällt er mir. Wenn ich ihn nur
schon los wäre! Oder verscherze ich mir dadurch noch dazu
einen Gönner? Ah, da ist ja der Diener! Und den soll ich füttern.
Es ist eigentlich nett von diesem hohen Herrn, daß er zuerst an
die Mahlzeit des Dieners und dann erst an die Ordnung seines
Zimmers gedacht hat. Ungeduldig und hastig scheint er nicht
zu sein. Aber er ist ein Diplomat. Da kann man nichts, rein
gar nichts aus seinen Worten schließen. Wenn nur alles gut
endet. .
Und der aufgewühlte, fette Wirt wendete sich seufzend zu
seinem Schutzbefohlenen und war erstaunt, daß dieser die Ein-
teilung höchst selbstverständlích fand und sich weit mehr für
die Mahlzeit als für das Auspacken der Habseligkeiten seines
großen Herrn interessierte.
Inzwischen trug eine saubere Magd die vollen Schüsseln und
Terrinen zu Leibniz hinauf und freute sich aufrichtig, daß er
den Speisen so unverhohlen gierig zusprach. Solcher Appetit
war im Hinblick auf die lange beschwerliche Reise höchst be-
greiflich, obwohl man oft behauptet hatte, die Vornehmheit
bestehe im Maßhalten.
Als nun Leibniz die letzten Reste des Desserts verzehrte und
eben in einen roten Apfel biß, wurde ihm der Umschwung in
seinem Leben mit einer gewissen leisen Melancholie deutlich
und bewußt: Er begann plötzlich die Enge Hannovers, die
Kleinheit der Herzogtümer Celle und Calenberg zu fühlen, ob-
gleich ihn vor einer Stunde gerade diese Begrenztheit so eigen-
tümlich vertraut angemutet hatte. Von Frankreich und England
gar nicht zu sprechen. Selbst an Holland gemessen, war das
Format dieser Überbleibsel welfischer Herrlichkeit beinahe
pfahlbürgerlich. Man stieß nach oben bald an die Spitze, nicht
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:Er warf sich, gegen seine sonstige, eher bedächtige Art, gelöst in den Polstersessel und bat den Wirt, seinen Diener vorerst mit einer Mahlzeit zu versorgen. Dann möge er mit diesem zusammen das Gepäck herauf schaffen und alles, was noch fehlte, einrichten. Denn er, Leibniz, müsse in einigen Stunden vor seiner Hoheit, dem Herzog Johann Friedrich erscheinen. Und dies in höfischer Tracht.
 
:Wieder gab es dem Wirt einen Stoß. Leibnizens Äußerung hatte ihm die volle Wirklichkeit der Höhenluft gezeigt, die diesen jungen Fremdling umwitterte. Dazu sollte er noch ein Protestant sein und ein Gelehrter. Ein Rechtsgelehrter, ein Physikus, ein Philosoph, Geometer, vielleicht gar ein Alchimist. Redete in zehn Zungen, wenn die Fama nicht log. Und sah aus wie ein Student, wenn er nicht gar so sicher, hoheitsvoll und herrisch blickte. Aber er fluchte ja nicht, war freundlich und lächelte. Ah, auch noch ein Staatsmann und Diplomat! Gewiß, bei ihm, dem tüchtigen Wirten, waren schon hohe Herren abgestiegen. Die aber reisten wieder fort. Nach Tagen, Wochen, Monaten. Der aber, dieser Leibniz, dieser allerunheimlichste Lächler, der mit seinen Augen schon einigemale weiß Gott in welch ferne Zauberwelten geblickt hatte, würde hier bleiben. Fuhr heute schon zum Herzog. Man war keinen Herzschlag sicher. Jetzt, eben einige Tage vor Weihnachten. Vielleicht brachte er gar den Krieg oder Umwälzung. Und dieser Herr Leibniz, der mit seinem Kindergesicht schon ein Intimus des Herzogs war, was würde der erst werden in zwanzig, dreißig Jahren? Man mußte ihm zureden, sich bald ein Haus zu kaufen. Dabei ließ sich noch einiges verdienen. Und man hatte ihn los und hatte ihn noch verpflichtet. Wenn das Haus ihm aber nicht gefiel? Ihm, der eben aus Paris kam, wo die Häuser bis zum Himmel strebten? Und wahrscheinlich ganz aus Marmor, Bronze und Kacheln erbaut waren? Und dann wollte er einen noch fangen und ausholen und behauptete, er sei ein begeisterter Deutscher. Damit man höflich zustimmt und er dann am Nachmittag dem Herzog erzählt, schon sein erster Schritt in Hannover habe ihn Conspirationes gezeigt, die im Bürgertum schwelten. So sei der Wirt, bei dem er, Herr Leibniz, wohne ein „begeisterter Deutscher“ und Feind des Bündnisses mit Ludwig. Sei also schnurstracks ein Aufwiegler gegen die Staatskunst Seiner Hoheit. Ergo mit ihm ins Loch. Oder sagte er es heute noch nicht, weil er nicht dazukommt? Aber vielleicht morgen oder übermorgen? Oder aus Zorn, wenn einmal der Braten zu klein ist oder die Pastete, Gott sei davor, anbrennt?! Oder wenn ein Floh in seinen Kissen hüpft? Wer kann das aushalten, jetzt, einige Tage vor Weihnachten, wo sich Frauen und Kinder schon auf den Christbaum freuen! Was aber soll man machen? Es wird auf jeden Fall am billigsten sein, ihm weniger zu rechnen als allen andern und ihm gerade das Allerbeste vorzusetzen. Er ruiniert mich sonst, dieser unheimliche junge Hofmann. Er ist mein Unglück, ich weiß es! Ich werde eine Messe zahlen. Vielleicht schützt mich Gott, weil dieser Herr ein Protestant ist. Und dann werde ich dem Diener soviel Wein geben, daß er mir die Wahrheit über seinen Herrn sagt. Und die Mägde dürfen nicht in seinen Sachen kramen. Ein hochnotpeinlicher Spionageprozeß ist schnell vom Zaun gebrochen. Dabei, und das ist das größte Unglück, gefällt er mir. Wenn ich ihn nur schon los wäre! Oder verscherze ich mir dadurch noch dazu einen Gönner? Ah, da ist ja der Diener! Und den soll ich füttern. Es ist eigentlich nett von diesem hohen Herrn, daß er zuerst an die Mahlzeit des Dieners und dann erst an die Ordnung seines Zimmers gedacht hat. Ungeduldig und hastig scheint er nicht zu sein. Aber er ist ein Diplomat. Da kann man nichts, rein gar nichts aus seinen Worten schließen. Wenn nur alles gut endet...
so wie in Paris, wo man stets ganz unten blieb, wie hoch man
auch stieg. Aber auch von der Bewegtheit kurmainzischer Ak-
tivität, von einer Einmischung in europäische, in Weltzusam-
menhänge war hier, soweit er es bisher aus der Ferne erforscht
hatte, nichts zu merken. Ehrgeizige Miniaturkopie von Ver-
sailles auf deutschem Boden. So lächelte man über diesen Hof
in Paris; wo man die Anhänger beinahe mehr verachtete als die
erklärten Feinde. Und der Franzosengeist erstreckte sich in
Hannover bis in die erleuchtesten Köpfe.
Hermann Conring, der Allwisser, der Begründer der deut-
schen Rechtsgeschichte, der Mathematiker, Philosoph, Medi-
ziner, Chymist und Statistikus. Der große Conring aus Helm-
städt, von jener erlauchten Universität, die den Hannoverschen
Herzögen unterstand, dieser Conring ging fast allen voran in
seiner Unterwürfıgkeit gegen Frankreich und Ludwig; denen
er noch tiefer ergeben zu sein schien als seinem Aristoteles. Und
zu eben diesem Conring hatte Leibniz noch keinerlei Brücke
schlagen können. Mehr als das. Conring lehnte ihn beinahe ab,
nahm ihn irgendwie und an irgend einer Stelle nicht ernst im
geistigen Universum.
Merkwürdig, daß der Landesherr eben dieses größten leben-
den Polyhistors in deutschem Land sich durch ein solches Urteil
nicht hatte beeinflussen lassen und so hartnäckig nach Leibniz
gefahndet hatte. Aber trotzdem bedeutete jede Fremdheit eine
ernste Belastung, die in so engem Kreise seiner Tätigkeit auf-
erlegt war. Denn daß Conring hier, in seiner Heimat, beim Hof,
bei den Fakultäten, beim Volk nichts mitzureden hatte, daß er
bedeutungsloser war als ein zugereister Dreißigjähriger, konnte
selbst aller Optimismus schwerlich voraussetzen.
Was überhaupt würde hier am Welfenhof seine Tätigkeit
sein? Er wußte darüber so gut wie nichts. Welchen Leibniz
wollte und suchte Johann Friedrich? Den Gelehrten? Den
Diplomaten? Wo er Conring und den berühmten Grote besaß?
Oder den Mathematiker, von dem er kaum Wesentliches wußte?
Oder war alles nur Fürstenlaune, war nur eine Art von flüchtiger
Sympathie, über deren Gründe sich der Herzog nicht den
Kopf zerbrach, die er einfach befriedigte, indem er einen „Rat“
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:Und der aufgewühlte, fette Wirt wendete sich seufzend zu seinem Schutzbefohlenen und war erstaunt, daß dieser die Einteilung höchst selbstverständlich fand und sich weit mehr für die Mahlzeit als für das Auspacken der Habseligkeiten seines großen Herrn interessierte.
mehr anstellteP Und es dem Schicksal überließ, wie man diesen
Rat gelegentlich verwenden konnte?
Gewiß, mit dieser Möglichkeit mußte man rechnen, wenn
auch sogar das Benehmen des Gastwirtes dagegen sprach. Aber
der Gastwirt war eben ein Untertan und dienerte wahrscheinlich
vor allem, was nur entfernt mit dem Hof zusammenhing.
Auf jeden Fall war es zu erwarten, daß der kleine Hof ihn vor
eine Vielfalt von Aufgaben stellte, etwa wie in einem kleinen
Hause sich Diener und Mägde nach mehrerlei umsehen mußten
als in einem Palast, wo die Rollen der Einzelnen strenger zuge-
teilt sind.
Und eben das war es gewesen, was Leibniz «hiehergelockt
hatte, was ihn vermocht hatte, dem Nachlaß Blaise Pascals und
seinen Pariser Freunden den Rücken zu kehren.
Also praktische Aufgaben mannigfacher Art. Der Herzog
aber würde nicht grübeln, was er mit dem fremden Vogel be-
ginnen sollte. Leibniz selbst mußte sich den Wirkungskreis
erschließen. Mußte heute noch Vorschläge erstatten. Welclıe?
Womöglich ähnliche, wie sie ein Colbert, ein Louvois, ein Pom-
ponne ihrem Herrn erstatteten. Diese Nachahmung der Fran-
zosen war nicht bloß erlaubt, sie war sogar im Interesse des
Deutschtums geboten. Und sie würde hier, im Mittelpunkt der
Franzosenanbeterei, leichter durchzusetzen sein als irgendwo
anders. Und konnte mit einem Ruck ins Gegenteil umgebogen
werden, wenn es gelang, Johann Friedrich einmal von seinem
Bündnis mit Ludwig abzubringen.
Leibniz rief nach seinem Diener. Er solle so schnell wie mög-
lich die Buchladen der Umgebung durchstöbern und möge
eine Landkarte Hannovers und eine Beschreibung des Landes
auftreiben. Vielleicht gebe es Kalender oder ähnliche Schmöker.
Vielleicht auch kenne der Gastwirt derartige Wegweiser oder
besitze sie gar.
Der Diener entfernte sich nicht ohne Kopfschütteln. Er hatte
zwar dem Gastwirt über seinen Herrn nur Gutes berichten kön-
nen, war aber jetzt verwirrt. Denn wie sollte er in der fremden
Stadt fremde Bücher suchen und gleichzeitig die Hofkleidung
vorbereiten?
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:Inzwischen trug eine saubere Magd die vollen Schüsseln und Terrinen zu Leibniz hinauf und freute sich aufrichtig, daß er den Speisen so unverhohlen gierig zusprach. Solcher Appetit war im Hinblick auf die lange beschwerliche Reise höchst begreiflich, obwohl man oft behauptet hatte, die Vornehmheit bestehe im Maßhalten.
Auch Leibniz fiel dieses Dilemma ein, als der Diener schon
durch die Straßen eilte. Aber noch etwas fiel ihm ein. Daß er
nämlich vor dem Wirt zu eindeutig über seine heutige Audienz
beim Herzog gesprochen hatte. Diese Audienz konnte ebenso-
gut seine ei genste Einbildung sein. Oder einWunsch ohne sichere
Grundlage. Gewiß, er hatte nach Holland ein Kabinettschrei-
ben erhalten, in dem ihm befohlen wurde, „am ersten Tag seines
Eintreffens in Hannover sich ohne überflüssige Verzögerung,
gleichgültig zu welcher Tagesstunde, untertänigst bei Seiner
Hoheit zu melden und sich hochdemselben gehorsamst vorzu-
stellen.“ Es war aber damit noch keineswegs gesagt, daß eben
heute der Herzog ihn empfangen wollte oder konnte. Denn
Johann Friedrich war möglicherweise in den Winterlagern bei
seinen Truppen oder im Harz oder in Göttingen. Und hatte
auch gar nicht gewußt, daß er, Leibniz, heute eintreffen würde.
Denn die Jahreszeit in Verbindung mit den hoch fortdauernden
Kriegshandlungen längs des Rheins hatte jede Regelmäßigkeit
der Postverbindungen zerstört, so daß sich Leibnizens letzter
Brief auf sehr beiläufige Angaben beschränkt hatte, die durch
Tatsachen längst überholt waren.
jedenfalls war es wichtiger, daß er schon heute auf alles vor-
bereitet war, was er in der ersten Audienz vortragen wollte, als
daß diese Audienz heute stattfand.
Zu diesem Schluß war er eben gelangt, als ihn ein Pochen an
seine Tür vor eine gänzlich neue und unerwartete Sachlage
stellte.
In höchster Erregung polterte nämlich der Wirt herein und
teilte mit, daß ein Offizier der herzoglichen Leibgarde in einem
Hofwagen soeben vorgefahren sei und Herrn Rat Doktor Leib-
niz dringendst suche. Jetzt erst erinnerte sich Leibniz einer auf-
fallenden Episode bei der Kontrolle der Reisenden im Stadttor,
durch das er nach Hannover eingefahren war. Während man
nämlich seine Mitreisenden kaum beachtet hatte, war er selbst
eingehend aus gefragt worden, man hatte seine Angaben notiert,
mit bereitliegenden Dokumenten verglichen und einige leise
Befehle an Ordonnanzen erteilt. Er hatte dies alles darauf
zurückgeführt, daß er aus Holland, also aus einem dem
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:Als nun Leibniz die letzten Reste des Desserts verzehrte und eben in einen roten Apfel biß, wurde ihm der Umschwung in seinem Leben mit einer gewissen leisen Melancholie deutlich und bewußt: Er begann plötzlich die Enge Hannovers, die Kleinheit der Herzogtümer Celle und Calenberg zu fühlen, obgleich ihn vor einer Stunde gerade diese Begrenztheit so eigentümlich vertraut angemutet hatte. Von Frankreich und England gar nicht zu sprechen. Selbst an Holland gemessen, war das Format dieser Überbleibsel welfischer Herrlichkeit beinahe pfahlbürgerlich. Man stieß nach oben bald an die Spitze, nicht so wie in Paris, wo man stets ganz unten blieb, wie hoch man auch stieg. Aber auch von der Bewegtheit kurmainzischer Aktivität, von einer Einmischung in europäische, in Weltzusammenhänge war hier, soweit er es bisher aus der Ferne erforscht hatte, nichts zu merken. Ehrgeizige Miniaturkopie von Versailles auf deutschem Boden. So lächelte man über diesen Hof in Paris; wo man die Anhänger beinahe mehr verachtete als die erklärten Feinde. Und der Franzosengeist erstreckte sich in Hannover bis in die erleuchtesten Köpfe.
französischen Verbündeten feindlichen Lande kam. jetzt aber
ahnte er anderes, eine Ahnung, die einen gewissen Stolz in ihm
aus löste.
Er hatte kaum Zeit, sich weiteren Betrachtungen hinzugeben.
Denn nach wenigen Augenblicken trat ein äußerst vornehmer
junger Offizier bei ihm ein, der sich vor ihn stramm stellte und
sich in reinstem Französisch als Baron von Dinkhofen, Leut-
nant der Garde, meldete. Er sei, meldete er weiter, zum persön-
lichen Dienst des gestrengen und hochgelehrten Herrn Rats
Doktor Leibniz kommandiert, da Seine Hoheit soeben von der
Ankunft des Herrn Rates Rapport erhalten habe. Es sei jetzt
halb drei Uhr. Urn sechs erwarte Seine Hoheit Herrn Leibniz
in Audienz, falls er sich bei voller Kraft und Gesundheit befinde.
Den Hofwagen, der den Herrn Rat dann später nach Herren-
hausen bringen werde, habe Seine Hoheit schon jetzt hieher-
befohlen, da sich Herr Leibniz Vielleicht durch eine Rundfahrt
durch die Stadt zerstreuen wolle. Auf jeden Fall bitte Seine
Hoheit Herrn Leibniz - dies habe er wörtlich zu melden -,
es sich in Hannover schon heute so einzurichten, wie in einer
Stadt, die sich auf seine Ankunft freue; und im Namen des
Herzogs all das zu befehlen, was zu seiner Bequemlichkeit diene.
Das Zeremoniell - das möge Herr Leibniz zur Kenntnis neh-
men - sei in Herrenhausen das gleiche wie in Versailles. Wenn
man Kleines mit Großem vergleichen dürfe. Jedenfalls brauche
da Herr Leibniz, der sich im großen Paris innerhalb dieses
Zeremoniells unbefangen bewegt habe, keine Belehrung. Es
werde ihm auch nur mitgeteilt, damit er sich desto heimi-
scher und ungezwungener fühle.
„Und mir, gestrenger Herr Rat, und all den anderen Edel-
leuten vom Hofe“, schloß der Baron mit einer Verbeugung,
„wird es Ehre und Vergnügen zugleich sein, einen so hochbe-
deutenden Mann in seinen edlen Bestrebungen für unser ge-
liebtes Vaterland zu unterstützen. Wir sind uns bewußt, daß es
ein hochherziger Entschluß war, der eine solche Kraft uns allen
zur Verfügung stellte. Und daß wir daher zu danken und nicht
zu fordern haben. Dies kleine Zeichen aber als Begrüßung.“
Und er überreichte Leibniz nach neuerlicher Verbeugung eine
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:Hermann Conring, der Allwisser, der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte, der Mathematiker, Philosoph, Mediziner, Chymist und Statistikus. Der große Conring aus Helmstädt, von jener erlauchten Universität, die den Hannoverschen Herzögen unterstand, dieser Conring ging fast allen voran in seiner Unterwürfıgkeit gegen Frankreich und Ludwig; denen er noch tiefer ergeben zu sein schien als seinem Aristoteles. Und zu eben diesem Conring hatte Leibniz noch keinerlei Brücke schlagen können. Mehr als das. Conring lehnte ihn beinahe ab, nahm ihn irgendwie und an irgend einer Stelle nicht ernst im geistigen Universum.
 
:Merkwürdig, daß der Landesherr eben dieses größten lebenden Polyhistors in deutschem Land sich durch ein solches Urteil nicht hatte beeinflussen lassen und so hartnäckig nach Leibniz gefahndet hatte. Aber trotzdem bedeutete jede Fremdheit eine ernste Belastung, die in so engem Kreise seiner Tätigkeit auferlegt war. Denn daß Conring hier, in seiner Heimat, beim Hof, bei den Fakultäten, beim Volk nichts mitzureden hatte, daß er bedeutungsloser war als ein zugereister Dreißigjähriger, konnte selbst aller Optimismus schwerlich voraussetzen.
zierlich ziselierte Golddose, in deren Deckel das Wappen Han-
novers eingestochen war.
Leibniz bedankte sich formell, aber äußerst herzlich. Die
kleine Szene hatte sein Selbstbewußtsein ungemein gehoben,
soweit es sich auf seine Stellung in dieser seiner neuen Heimat
bezog. Ja, er War geradezu überrascht. So Weit also ging die
Vorliebe des Herzogs zu ihm, daß sogar die Edelleute es nötig
fanden, dem zukünftigen Günstling ein Geschenk zu überrei-
chen? Jetzt War mit einem Schlag alles anders. Denn Hannover
wurde groß für ihn, groß und größer, je höher er stand. jetzt
galt es nicht mehr, sich persönlich durchzusetzen. Jetzt galt es,
den unbeschränkten Wirkungskreis, der ihm geboten Wurde,
auszufüllen. ]etzt galt es die Sache und nicht mehr seine Person.
Er stand mit dreißig Jahren im Mittelpunkt der Geschicke
eines deutschen Staates. Und er Würde diese Geschicke leiten,
würde sie mit seinem Geist erfüllen, Würde vorerst sanft Wie
eine Taube und klug Wie eine Schlange, aus diesem Kraftzen-
trum heraus, das größere, das größte Deutschland in seinem
Geiste dem Platze zuführen, auf den es zu stehen hatte.
Und er schloß seinen Dank an die Herren des Hofes mit
einem rätselhaften Lächeln, das ihm die Tatsache abnötigte,
daß auch er in französischen Sätzen vornehmsten Pariser Schlif-
fes sprach, Während eine zweite, tiefere Schicht seiner Seele
deutscheste Gedanken dachte.
 
:Was überhaupt würde hier am Welfenhof seine Tätigkeit sein? Er wußte darüber so gut wie nichts. Welchen Leibniz wollte und suchte Johann Friedrich? Den Gelehrten? Den Diplomaten? Wo er Conring und den berühmten Grote besaß? Oder den Mathematiker, von dem er kaum Wesentliches wußte? Oder war alles nur Fürstenlaune, war nur eine Art von flüchtiger Sympathie, über deren Gründe sich der Herzog nicht den Kopf zerbrach, die er einfach befriedigte, indem er einen „Rat“ mehr anstellte? Und es dem Schicksal überließ, wie man diesen Rat gelegentlich verwenden konnte?
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:Gewiß, mit dieser Möglichkeit mußte man rechnen, wenn auch sogar das Benehmen des Gastwirtes dagegen sprach. Aber der Gastwirt war eben ein Untertan und dienerte wahrscheinlich vor allem, was nur entfernt mit dem Hof zusammenhing.
 
:Auf jeden Fall war es zu erwarten, daß der kleine Hof ihn vor eine Vielfalt von Aufgaben stellte, etwa wie in einem kleinen Hause sich Diener und Mägde nach mehrerlei umsehen mußten als in einem Palast, wo die Rollen der Einzelnen strenger zugeteilt sind.
Kapitelende
 
:Und eben das war es gewesen, was Leibniz hierhergelockt hatte, was ihn vermocht hatte, dem Nachlaß Blaise Pascals und seinen Pariser Freunden den Rücken zu kehren.
 
:Also praktische Aufgaben mannigfacher Art. Der Herzog aber würde nicht grübeln, was er mit dem fremden Vogel beginnen sollte. Leibniz selbst mußte sich den Wirkungskreis erschließen. Mußte heute noch Vorschläge erstatten. Welche? Womöglich ähnliche, wie sie ein Colbert, ein Louvois, ein Pomponne ihrem Herrn erstatteten. Diese Nachahmung der Franzosen war nicht bloß erlaubt, sie war sogar im Interesse des Deutschtums geboten. Und sie würde hier, im Mittelpunkt der Franzosenanbeterei, leichter durchzusetzen sein als irgendwo anders. Und konnte mit einem Ruck ins Gegenteil umgebogen werden, wenn es gelang, Johann Friedrich einmal von seinem Bündnis mit Ludwig abzubringen.
 
:Leibniz rief nach seinem Diener. Er solle so schnell wie möglich die Buchladen der Umgebung durchstöbern und möge eine Landkarte Hannovers und eine Beschreibung des Landes auftreiben. Vielleicht gebe es Kalender oder ähnliche Schmöker. Vielleicht auch kenne der Gastwirt derartige Wegweiser oder besitze sie gar.
Zweiunddreißigstes Kapitel
 
:Der Diener entfernte sich nicht ohne Kopfschütteln. Er hatte zwar dem Gastwirt über seinen Herrn nur Gutes berichten können, war aber jetzt verwirrt. Denn wie sollte er in der fremden Stadt fremde Bücher suchen und gleichzeitig die Hofkleidung vorbereiten?
Am Welfenhof
 
:Auch Leibniz fiel dieses Dilemma ein, als der Diener schon durch die Straßen eilte. Aber noch etwas fiel ihm ein. Daß er nämlich vor dem Wirt zu eindeutig über seine heutige Audienz beim Herzog gesprochen hatte. Diese Audienz konnte ebensogut seine eigenste Einbildung sein. Oder ein Wunsch ohne sichere Grundlage. Gewiß, er hatte nach Holland ein Kabinettschreiben erhalten, in dem ihm befohlen wurde, „am ersten Tag seines Eintreffens in Hannover sich ohne überflüssige Verzögerung, gleichgültig zu welcher Tagesstunde, untertänigst bei Seiner Hoheit zu melden und sich hochdemselben gehorsamst vorzustellen.“ Es war aber damit noch keineswegs gesagt, daß eben heute der Herzog ihn empfangen wollte oder konnte. Denn Johann Friedrich war möglicherweise in den Winterlagern bei seinen Truppen oder im Harz oder in Göttingen. Und hatte auch gar nicht gewußt, daß er, Leibniz, heute eintreffen würde. Denn die Jahreszeit in Verbindung mit den hoch fortdauernden Kriegshandlungen längs des Rheins hatte jede Regelmäßigkeit der Postverbindungen zerstört, so daß sich Leibnizens letzter Brief auf sehr beiläufige Angaben beschränkt hatte, die durch Tatsachen längst überholt waren.
 
:Jedenfalls war es wichtiger, daß er schon heute auf alles vorbereitet war, was er in der ersten Audienz vortragen wollte, als daß diese Audienz heute stattfand.
Eine freundliche Fügung an diesem freundlichen Ankunfts-
tage hatte alles so reibungslos geordnet, daß der Hofwagen mit
Leibniz schon um dreiviertel sechs Uhr die Einfahrt des Schlos-
ses Herrenhausen passierte.
Nichts War unerledigt geblieben: Der fındige Diener hatte
eine Karte und eine „kuriöse Beschreibung“ des Herzogtums
 
:Zu diesem Schluß war er eben gelangt, als ihn ein Pochen an seine Tür vor eine gänzlich neue und unerwartete Sachlage stellte.
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:In höchster Erregung polterte nämlich der Wirt herein und teilte mit, daß ein Offizier der herzoglichen Leibgarde in einem Hofwagen soeben vorgefahren sei und Herrn Rat Doktor Leibniz dringendst suche. Jetzt erst erinnerte sich Leibniz einer auffallenden Episode bei der Kontrolle der Reisenden im Stadttor, durch das er nach Hannover eingefahren war. Während man nämlich seine Mitreisenden kaum beachtet hatte, war er selbst eingehend aus gefragt worden, man hatte seine Angaben notiert, mit bereitliegenden Dokumenten verglichen und einige leise Befehle an Ordonnanzen erteilt. Er hatte dies alles darauf zurückgeführt, daß er aus Holland, also aus einem dem französischen Verbündeten feindlichen Lande kam. Jetzt aber ahnte er anderes, eine Ahnung, die einen gewissen Stolz in ihm aus löste.
 
:Er hatte kaum Zeit, sich weiteren Betrachtungen hinzugeben. Denn nach wenigen Augenblicken trat ein äußerst vornehmer junger Offizier bei ihm ein, der sich vor ihn stramm stellte und sich in reinstem Französisch als Baron von Dinkhofen, Leutnant der Garde, meldete. Er sei, meldete er weiter, zum persönlichen Dienst des gestrengen und hochgelehrten Herrn Rats Doktor Leibniz kommandiert, da Seine Hoheit soeben von der Ankunft des Herrn Rates Rapport erhalten habe. Es sei jetzt halb drei Uhr. Urn sechs erwarte Seine Hoheit Herrn Leibniz in Audienz, falls er sich bei voller Kraft und Gesundheit befinde. Den Hofwagen, der den Herrn Rat dann später nach Herrenhausen bringen werde, habe Seine Hoheit schon jetzt hieherbefohlen, da sich Herr Leibniz Vielleicht durch eine Rundfahrt durch die Stadt zerstreuen wolle. Auf jeden Fall bitte Seine Hoheit Herrn Leibniz - dies habe er wörtlich zu melden -, es sich in Hannover schon heute so einzurichten, wie in einer Stadt, die sich auf seine Ankunft freue; und im Namen des Herzogs all das zu befehlen, was zu seiner Bequemlichkeit diene. Das Zeremoniell - das möge Herr Leibniz zur Kenntnis nehmen - sei in Herrenhausen das gleiche wie in Versailles. Wenn man Kleines mit Großem vergleichen dürfe. Jedenfalls brauche da Herr Leibniz, der sich im großen Paris innerhalb dieses Zeremoniells unbefangen bewegt habe, keine Belehrung. Es werde ihm auch nur mitgeteilt, damit er sich desto heimischer und ungezwungener fühle.
Kapitelende
 
:„Und mir, gestrenger Herr Rat, und all den anderen Edelleuten vom Hofe“, schloß der Baron mit einer Verbeugung, „wird es Ehre und Vergnügen zugleich sein, einen so hochbedeutenden Mann in seinen edlen Bestrebungen für unser geliebtes Vaterland zu unterstützen. Wir sind uns bewußt, daß es ein hochherziger Entschluß war, der eine solche Kraft uns allen zur Verfügung stellte. Und daß wir daher zu danken und nicht zu fordern haben. Dies kleine Zeichen aber als Begrüßung.“ Und er überreichte Leibniz nach neuerlicher Verbeugung eine zierlich ziselierte Golddose, in deren Deckel das Wappen Hannovers eingestochen war.
 
:Leibniz bedankte sich formell, aber äußerst herzlich. Die kleine Szene hatte sein Selbstbewußtsein ungemein gehoben, soweit es sich auf seine Stellung in dieser seiner neuen Heimat bezog. Ja, er war geradezu überrascht. So weit also ging die Vorliebe des Herzogs zu ihm, daß sogar die Edelleute es nötig fanden, dem zukünftigen Günstling ein Geschenk zu überreichen? Jetzt war mit einem Schlag alles anders. Denn Hannover wurde groß für ihn, groß und größer, je höher er stand. Jetzt galt es nicht mehr, sich persönlich durchzusetzen. Jetzt galt es, den unbeschränkten Wirkungskreis, der ihm geboten wurde, auszufüllen. Jetzt galt es die Sache und nicht mehr seine Person. Er stand mit dreißig Jahren im Mittelpunkt der Geschicke eines deutschen Staates. Und er würde diese Geschicke leiten, würde sie mit seinem Geist erfüllen, würde vorerst sanft wie eine Taube und klug wie eine Schlange, aus diesem Kraftzentrum heraus, das größere, das größte Deutschland in seinem Geiste dem Platze zuführen, auf den es zu stehen hatte.
 
:Und er schloß seinen Dank an die Herren des Hofes mit einem rätselhaften Lächeln, das ihm die Tatsache abnötigte, daß auch er in französischen Sätzen vornehmsten Pariser Schliffes sprach, während eine zweite, tiefere Schicht seiner Seele deutscheste Gedanken dachte.