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Protestanten, so erklärte Pelisson, hätten recht eigentlich die
Schuld am lndi fferentismus , und zwar sei dieser Indi íferentismus
durch das Aufgeben des Unfehlbarkeitsdogmas in die christliche
Lehre getragen worden. Die Unfehlbarkeit des Papstes aber sei
und bleibe das einzige Band der Religionen. Als die große Herzo-
gin dieses Buch gelesen hatte, gab sie es sogleich Leibniz wei-
ter. Und es wurde zum Diskussionsthema zwischen ihr, Leibniz
und Molanus. Daher war es auch nicht verwunderlich, daß ein
Briefwechsel zwischen Leibniz und Pelisson einsetzte, da Leib-
niz den Vorwurf des Indifferentismus abwehren wollte. Diesen
Briefwechsel, der in ganz Europa Aufsehen erregte, vermittelte
die schon erwähnte Frau von Brinon, die es sich nicht versagen
konnte, sich höchst unzart einzumischen und Leibniz mit ta-
delnden theologischen Belehrungen zu überschütten.
Er erwiderte höflich, berührte aber der Frau von Brinon
gegenüber niemals die Sache, was sie um so heftiger zum Zorn
reizte. Sie sann also auf Verstärkung durch den größten ihr zu-
gänglichen Bundesgenossen, nämlich durch Bossuet, der sich
bisher von den Unionsverhandlungen ferngehalten hatte.
Und nun setzte, wieder durch Vermittlung jener Brinon, der
entscheidende Briefwechsel zwischen Leibniz und Bossuet ein,
den Bossuet im Jahre 1694 abbrach. Wodurch die Hoffnung aut
die Union zwischen Katholiken und Protestanten endgültig be-
graben war. Denn Bossuet war in Dingen der Religion so viel
wie Frankreich, und Frankreich war der größte katholische
Staat.
Auch dieser Zusammenprall zweier Riesengeister war für
ganz Europa ein unerhört großartiges Schauspiel. Dabei geriet
Leibniz in eine tragische Lage. Auf Befehl seines Hofes und
wegen des plötzlichen Widerstandes, den Molanus leistete,
mußte er die Waffen des Protestantismus in einer Schärfe ge-
brauchen, die ihm eigentlich innerlich fern lag. Da nützten nun
all seine glänzenden theologischen und historisch kritischen
Einwendungen gegen das Konzil von Trient nichts. Ebenso-
wenig seine blendende Verteidigung des Prinzips der Refor-
mation. Bossuet fragte einfach: „Warum wollt ihr dann zu uns
kommen, wenn ihr so denkt? ,Ihr Katholiken setzt voraus“,
 
 
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werdet ihr Protestanten sagen, ,daß ihr allein die allgemeine
Kirche seid.“ Ja, wir setzen es voraus, anderswo haben wir es be-
wiesen. Aber es ist sogar genug, es bloß vorauszusetzen, weil
wir es mit Personen zu tun haben, die mit uns zu einer Réunion
kommen wollen, ohne uns zu nötigen, von unsren eigenen Prin-
zipien abzugehen.“
Das war der erste Gegenschlag Bossuets. Wollte nun aber
Leibniz die Angelegenheit auf subjektiv-theologisches oder gar
auf diplomatisches Gebiet ablenken, so hielt ihm Bossuet die
Würde und Objektivität der katholischen Kirche, deren dienen-
des Glied er sei, entgegen. Und schrieb Leibniz, man habe sich
den Ufern der Bidassoa genähert, um eines Tages auf der Insel
der Konferenzen zu landen (was eine versöhnliche Anspielung
auf den pyrenäischen Frieden bedeutete); oder wenn er sagte,
es müsse einen Unterschied geben zwischen Advokaten, die
plädieren, und Vermittlern, die negotiieren; und die einen, die
Advokaten, blieben in einer verstellten Entfernung und in
künstlicher Zurückhaltung, die anderen, die Vermittler aber,
ließen an ihren Schritten erkennen, daß ihre Absicht aufrichtig
und geneigt sei, den Frieden zu erleichtern: dann antwortete
Bossuet: „Was die Zuvorkommenheit betrifft, die Sie von
unsrer Seite über die Dogmen der Lehre zu erwarten scheinen,
so habe ich Ihnen oft geantwortet, daß die Verfassung der römi-
schen Kirche keine andere Zuvorkommenheit duldet als auf dem
Wege der Erklärung und Auslegung. Die Angelegenheiten der
Religion lassen sich nicht wie die weltlichen Angelegenheiten
behandeln, die man oft beilegt, indem jede der beiden Seiten
etwas nachgibt; weil nämlich weltliche Angelegenheiten Dinge
sind, deren Herren die Menschen zu sein pflegen. Die Angele-
genheiten des Glaubens aber hängen von der Offenbarung ab,
die man einander gegenseitig zwar erklären kann, um ein-
ander besser zu verstehen; über die man aber keine Ge-
schäfte abschließen darf. Es würde der Sache gar nichts
nützen, wenn ich andre Wege einschlüge; und es hieße wahr-
lich, höchst unzeitgemäß den Gemäßigten spielen. Die wahre
Mäßigkeit, die man bei solchen Dingen beobachten muß, be-
steht darin, den Stand, worin sie sich befinden, nach der Wahr-
 
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heit zu sagen: indem jede andre Willfährigkeit, die man suchen
könnte, nur dazu diente, Zeit zu verlieren und in der Folge noch
größere Schwierigkeiten entstehen zu lassen.“
Als aber endlich Leibniz die Einwände gegen das Konzil von
Trient häufte und sich dabei als ein Theologe allerersten Ran-
ges bewährte, der von einer ganzen Welt staunender Zuseher
bewundert wurde, fragte Bossuet nur kühl, wozu so viel Ge-
lehrsamkeit gut sei. Denn selbst, wenn man das Konzil von
Trient fallen lasse, blieben noch immer alle Meinungsverschie-
denheiten über Transsubstantiation, Oberhoheit des Papstes,
Fürbitte der Heiligen und zahlreiches andre, das auf den dem
Tridentinum vorhergehenden Konzilen geregelt worden sei,
bestehen. Man müßte also die Konzile bis auf sieben-, ja acht-
hundert Jahre vor die Reformation zurück aufheben. „Finden
Sie ein Mittel gegen diese Unordnung, gegen diese Verwirrung,
oder verzichten Sie auf die Auswege, die Sie vorschlagenl“
schrieb Bossuet hart und unerbittlich. Und damit war eigentlich
der Vereinigungsgedanke tot.
Er war es aber auch noch aus einem anderen Grunde, der
Leibniz in höchste Erregung warf. So groß und einwandfrei
die Haltung Bossuets war, der zudem nicht den leisesten Ver-
such machte, Leibniz als Person zum Katholizismus hinüber-
zuziehen, so sehr war alles, was er über die religiöse Frage hin-
aus unternahm, von französischem Patriotismus und von Haß
gegen Deutschland diktiert. Vielleicht sogar strahlte dieses für
einen Franzosen beinahe selbstverständliche, sicher nicht nied-
rige Gefühl irgendwie in die religiösen Debatten, da der fran-
zösische Katholizismus im Gegensatz zum universellen durch
viele geschichtliche Ereignisse eine Art von separatistischer
Note hatte. Und hier begann trotz aller heißen Vereinigungs-
wünsche in Leibniz das religiöse mit dem Nationalgefühl zu
ringen. Die Gefahr eines Glaubenskrieges innerhalb Deutsch-
lands wurde von jahr zu jahr geringer. Dafür aber stand eine
neue Gefahr auf: daß nämlich nach der Union die deutschen
Protestanten von den französischen Katholiken stets nur als
Angehörige einer Religion zweiten Ranges behandelt werden
würden. Was nützten überhaupt noch Erwägungen? Bossuet
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hatte den Briefwechsel abgebrochen. Und von dieser Zeit an
verfolgte Leibniz einen näherliegenden Unionsgedanken bis
an sein Lebensende: die Vereinigung aller Protestanten! Der
englischen Hochkirche, der Reformierten, der Calvinisten,
der Augsburger Konfession. Und auch politisch war dieses
Konzept vorwiegend ein germanísches. Denn es würde Eng-
land, Holland, die Schweiz, Kurbrandenburg, Hannover und
nicht zuletzt die Blüte französischer Tüchtigkeit umfassen, die
eine plötzlich einsetzende Intoleranz Ludwigs außer Landes
getrieben hatte.
Gleichwohl gehörte auch das Scheitern der Unionsverhand-
lungen mit Rom für Leibniz mit zur tragischen Rhapsodie, die
in jenem Jahrfünft von 169o bis 1695 vor seinen entsetzten
Augen abrollte. Nicht einmal der Glanz der Erringung der Kur-
würde für Ernst August konnte an der tragischen Grundstim-
mung etwas ändern. Denn auch hier gab es nichts als Wider-
stände. Und Ernst August und Kursachsen hatten nur durch
die Androhung eines endgültigen Bruches mit dem Kaiser es er-
zwungen, daß die Welfen den Kurhut erhielten. Obgleich be-
reits wegen des Erzamtes ein Streit mit Württemberg los-
brach, den Leibniz trotz aller Wucht und Geschichtskenntnis
mit kläglichem Erfolg führte. Vielleicht war es in ener Zeit der
einzige wirkliche Gewinn für Leibniz, daß er im Zuge der Ver-
handlungen wegen der Kurwürde wieder mit Philipp Wilhelm
von Boineburg in ein näheres Verhältnis kam, der als erster
Kammerherr und Reichshofrat am Hof zu Wien wirkte.
Nun aber, im ]ahre 1694, behaupteten ängstliche Bürger
Hannovers neuerlich, in einer Frühlingsnacht eine merkwür-
dige Bewegung wahrgenommen zu haben. Wie damals, als die
Verschwörung des Oberjägermeisters Moltke aufgedeckt wur-
de. Diesmal aber grifi' die Erregung weit über die Grenzen
Hannovers hinaus und erschütterte beinahe alle Höfe Europas.
Und wieder war Leibniz in mehr als einer Beziehung Schuld-
tragender und Mitwisser aller Ereignisse.
Der große Held und ritterliche Edelmann, der glänzende
Graf von Königsmark, schritt in dieser Nacht durch die Galerie
des kurfürstlichen Schlosses zu Hannover. Er kam aus den
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Gemächern der Erbprinzessin Dorothea. Vier vermummte Be-
waffnete stellten sich ihm entgegen und riefen ihn leise an. Als
er keine Miene machte, stehenzubleiben, warfen sie sich im
fahlen Licht des Mondes zwischen Schlagschatten von Säulen
und flirrend silbernen Lichtfiecken über ihn, um ihn zu fesseln.
Königsmark aber, der riesenstarke Kämpfer, sprang zurück und
zog den Degen. Gut, vier Vermummte! Was gehen mich Ver-
mummte an? Das ist nichts, was mit Recht und Gesetz zu
schaffen hat. Es ist meuchlerischer Überfall. Ob im Schloß, ob
außerhalb des Schlosses, ist gleichgültig. Er stach wütend zu.
Leise Schreie begleiteten die Treffer seiner Degenspitze. Aber
auch die Vermummten schienen wilde Kämpfer zu sein, die ihr
Leben teuer verkauften. Und plötzlich glitt Königsmark aus,
drei Degen durchbohrten ihn fast gleichzeitig, und man
schleppte die Leiche in ein nie betretenes Kellergewölbe, wo
man sie in den dunkelsten Winkel stieß. Droben aber, in der
Galerie des Schlosses, lagen ruhig die Schlagschatten der
Säulen über den silbernen Flecken des Mondlichtes.
Eine furchtbare nächtliche Konferenz vereinigte wenige
Stunden später Ernst August, Sophie, Grote und Leibniz. Und
man wußte sich keinen Rat. Denn man hatte Königsmark zwar
heimlich gefangensetzen wollen, um dem Skandal der Flucht
Dorotheas vorzubeugen; nie aber hatte man diesen Ausgang
erwartet. Kein Rechtstitel war zu finden, der den Mord be-
schönigte. Man wußte, daß Dorothea bloß aus Kränkung über
die Untreue des Erbprinzen Georg, dem sie vor kaum einem
jahr einen Sohn geschenkt hatte, ihre Flucht vorbereitet hatte.
Und daß Königsmark nur als ein jedes Abenteuer suchender
Edelmann in einer romantischen Laune sein Leben für eine
schöne unglückliche Dame, die er nicht einmal liebte, einge-
setzt hatte. Man wußte in dieser Konferenz aber noch mehr,
obgleich man nicht darüber sprach. Die ehrgeizige und intri-
gante Gräfin von Platen, die Mätresse Ernst Augusts, hatte
alles aufgespürt. Und deren Schwester, die Gattin des Garde-
generals von Weyhe, war wieder die Geliebte des Erbprinzen
Georg; also eigentlich die Ursache der Tragödie. Aber noch
mehr. Die Gräfin Aurora, die Schwester Königsmarks, viel-
 
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Gemächern der Erbprinzessin Dorothea. Vier vermummte Be-
waffnete stellten sich ihm entgegen und riefen ihn leise an. Als
er keine Miene machte, stehenzubleiben, warfen sie sich im
fahlen Licht des Mondes zwischen Schlagschatten von Säulen
und flirrend silbernen Lichtfiecken über ihn, um ihn zu fesseln.
Königsmark aber, der riesenstarke Kämpfer, sprang zurück und
zog den Degen. Gut, vier Vermummte! Was gehen mich Ver-
mummte an? Das ist nichts, was mit Recht und Gesetz zu
schaffen hat. Es ist meuchlerischer Überfall. Ob im Schloß, ob
außerhalb des Schlosses, ist gleichgültig. Er stach wütend zu.
Leise Schreie begleiteten die Treffer seiner Degenspitze. Aber
auch die Vermummten schienen wilde Kämpfer zu sein, die ihr
Leben teuer verkauften. Und plötzlich glitt Königsmark aus,
drei Degen durchbohrten ihn fast gleichzeitig, und man
schleppte die Leiche in ein nie betretenes Kellergewölbe, wo
man sie in den dunkelsten Winkel stieß. Droben aber, in der
Galerie des Schlosses, lagen ruhig die Schlagschatten der
Säulen über den silbernen Flecken des Mondlichtes.
Eine furchtbare nächtliche Konferenz vereinigte wenige
Stunden später Ernst August, Sophie, Grote und Leibniz. Und
man wußte sich keinen Rat. Denn man hatte Königsmark zwar
heimlich gefangensetzen wollen, um dem Skandal der Flucht
Dorotheas vorzubeugen; nie aber hatte man diesen Ausgang
erwartet. Kein Rechtstitel war zu finden, der den Mord be-
schönigte. Man wußte, daß Dorothea bloß aus Kränkung über
die Untreue des Erbprinzen Georg, dem sie vor kaum einem
jahr einen Sohn geschenkt hatte, ihre Flucht vorbereitet hatte.
Und daß Königsmark nur als ein jedes Abenteuer suchender
Edelmann in einer romantischen Laune sein Leben für eine
schöne unglückliche Dame, die er nicht einmal liebte, einge-
setzt hatte. Man wußte in dieser Konferenz aber noch mehr,
obgleich man nicht darüber sprach. Die ehrgeizige und intri-
gante Gräfin von Platen, die Mätresse Ernst Augusts, hatte
alles aufgespürt. Und deren Schwester, die Gattin des Garde-
generals von Weyhe, war wieder die Geliebte des Erbprinzen
Georg; also eigentlich die Ursache der Tragödie. Aber noch
mehr. Die Gräfin Aurora, die Schwester Königsmarks, viel-
 
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leicht die schönste Frau Europas, war die Geliebte des Kur-
fürsten von Sachsen. Und regierte aus dieser Machtstellung
fast unbeschränkt. Bis zum Krieg mit Kursachsen konnte der
Tod Königsmarks führen.
Dazu der Haß der Kurfürstin Sophie, die jeden Verdacht
gegen Dorothea unbewiesen aussprach, ja solchen Verdacht so-
gar als Sicherheit hinstellte. „Ich Will durch die Unbeherrscht-
heit und Eitelkeit der Tochter dieser niedriggeborenen d°Ol-
breuse nicht noch vielleicht den vierten Sohn verlieren“, sagte
sie steinern ein über das andremal. „Wenn schon außer diesem
Wüstling Königsmark noch ein Opfer notwendig ist, dann soll
es Dorothea sein. Keine Gnade für die Halbblütige, für die
Tochter einer nachträglich legitimierten Mätresse, die sich
nicht zur Haltung und Würde einer Kurprinzessin durchringen
konnte. Die wie ein Bürgermädchen bei Nacht und Nebel mit
dem Geliebten ausreißen will. Fidonc! Ich habe nichts übrig
für solche Moral von Frauen, deren Ziel es sein sollte, nichts,
aber auch nichts andres zu tun, als die Erbfolge zu sichern und
die Schwelle des hohen Gatten reinzuhalten. Des Gatten, auf
den man nicht als gewöhnliches Weib Ansprüche hat. Sondern
von dem man wissen muß, daß er eher ein Begriff als ein zu
Familienzwecken degradierter Hausvater ist.“
Leibniz blickte die Kurfürstin an. Was, so fragte sein Blick,
ist es dann mit den Briefen, die Eure kurfürstliche Hoheit vor
nicht allzulanger Zeit in meine Hände gelangen ließen? In
denen von Demütigung der Frau, von schlafiosen Nächten,
vom beinahe nicht Ertragenkönnen die Rede ist, weil Ernst
August die Platen bevorzugt. Furchtbar, große Fürstin! Furcht-
bar. Es ist überhaupt fast unerträglich, daß Vater und Sohn mit
zwei Schwestern schlafen. Noch schrecklicher aber ist es, daß
Dorothea nie zu ihrem Recht kommen darf. Und am allerent-
setzlichsten, daß vielleicht die Liebe der großen Fürstin zum
Vater Dorotheas, zu Georg Wilhelm von Celle, noch nicht er-
loschen ist. Und daß darum die wunderbare, edle d'Olbreuse
eine „legimitierte Mätresse“ und die ebenso wunderbare
Dorothea, dieses blühend heitere, geistvolle, charmante, gütige
und weltoffene Geschöpf, diese Frau, die nichts tat als ihre
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Pflicht, und die für nichts kämpft als für ihr Recht, verurteilt
werden soll. Bin ich noch Leibniz, wenn ich bei solcher Liqui-
dierung des Menschenhandels, den ich selbst einleitete, mit-
schuldig Werde? Bin ich dann nicht eher ein dynastischer
Sklave, ein „Hof“-Komplice? Auch Grote denkt ähnlich. Ich
sehe es. Wir alle sind ratlos. Und unten im Keller liegt starr
und mit verglasten Augen der prachtvolle Königsmark, den wir
durch unsre überspitzt mathematischen Pläne und Schach-
züge ermordeten. Derselbe Königsmark, dem ich noch gestern
beim Souper die harte Hand drückte, und der mir lachend einige
gutmütige Scherze zuraunte. Es ist zum Verzweifeln. Ist das
jetzt die letzte Tragödie? Oder kommt noch die fünfte, sechste,
siebente? Was ist noch unerledigt in unsrem Geflecht, ge-
nannt „Vereinigung aller Well-ischen Lande in einer Hand,
zur Stärkung des Heiligen Deutschen Reiches durch eine ge-
schlossene niedersächsische Vormacht P“ Was ist noch offen?
Wir können nicht mehr zurück. Obwohl Wieder, fast schuldlos,
ein heißes Einzelglück vernichtet ist. Furchtbar und unverzeih-
lich! Aber zwischen dem Rhein und Siebenbürgen gibt es
Millionen solcher Einzelglücksansprüche, für die Wir angeblich
unsre Menschenopfer bringen. Heute schon. Und in fünfzig,
hundert Jahren werden es neue und stets neue Millionen sein.
Sind das Ausreden, Selbstrechtfertigungen? Pilatushände-
Waschungen? Wahrscheinlich. Aber unser Geist hat Grenzen.
Wir haben uns verrechnet. Sind Rechenfehler bereits Ver-
berechen? Wenn nur dieser Haß der Herzogin nicht Wäre! Und
Georg Wilhelm, der tragischeste aller Welfen, wird das einzige
Kind verstoßen. Ich Weiß es. Denn auch er ist starr in dynasti-
schen Dingen. Und auch er liebt noch die große Sophie . . .
Königsmark blieb verschwunden. Europa lag unter einem
Alpdruck. Bis sich alles „aufklärte“. Das heißt, bis durch neue
verlogene und recht hilflose Schachzüge die Ordnung der Tra-
gödie einigermaßen erfolgte.
Georg Wilhelm verstieß sein einziges Kind. Dorothea saß
gefangen im Schloß Ahlden, umgeben von zwei Ringwällen,
begleitet von Reitern, Wenn sie ausfuhr. Und getrennt von ihren
Kindern. Sie zeigte die Größe, die nur Wahre Unschuld leihen
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kann. Man bat, beschwor, drohte, sandte Molanus, sandte Leib-
niz. Sie weigerte sich, zum ehebrecherischen Gemahl zurück-
zukehren. Und blieb die „Gefangene von Ahlden.“
Die schrillen Schlußakkorde der tragischen Rhapsodie waren
Verklungen. Und Leibniz, der fast Fünfzigjährige, von dem
man nach all dem Geschehen glauben müßte, er sei von den
Ereignissen erdrückt oder aus dem Geleise geworfen worden,
schrieb am Ende des grausigen Quinquenniums, am 5. Septem-
ber 1695, an den Hamburger Gelehrten und Freund Placcius:
„Wie außerordentlich zerstreut ich bin, läßt sich nicht sagen.
Ich suche Verschiedenes in den Archiven, nehme alte Papiere
vor die Augen und suche ungedruckte Manuskripte zusammen,
mit deren Hilfe ich für die Geschichte Braunschweigs Licht zu
gewinnen hoffe. Briefe empfange ich und erwidere sie in großer
Anzahl. So viel Neues habe ich in der Mathematik, so viele
Gedanken in der Philosophie, so viele literarische Betrachtun-
gen, die ich nicht umkommen lassen möchte, daß ich oft nicht
weiß, was ich zuerst tun soll. Und die Walırheit des Ovid'schen
Ausrufs fühle: Inopem me copia fecit! Hilflos hat mich der
Reichtum gemacht! Zwanzig Jahre und darüber sind es her, daß
die Franzosen und Engländer meine Rechenmaschine gesehen
haben . . . Seit dieser Zeit haben Oldenburg, Huygens und Ar-
naud und auch Sie selbst, Placcius, mich aufgefordert, eine
Beschreibung dieses kunstvollen Werkes herauszugeben; was
ich jedoch stets aufgeschoben habe, da ich ja nur ein kleines
Modell der Maschine hatte, das eben nur zur Demonstration
für den Mechanicus, nicht aber für den wirklichen Gebrauch
hinreichte. jetzt aber ist mit Hilfe von Arbeitern, die ich mir
habe kommen lassen, die Maschine fertig geworden, bei der
man die Multiplikationen bis zu zwölf Ziffern führen kann. Es
ist ein Jahr, seit ich so weit gekommen bin, ich habe aber die
Arbeiter noch hier, um andre solcher Maschinen anfertigen
zu lassen. Denn sie werden an mehreren Orten verlangt. Ich
möchte gerne eine Beschreibung dieser Maschinen geben, aber
die Zeit fehlt mir dazu. Ich muß nämlich vor allem meine Dy-
namik vollenden, in der ich endlich die wahren Gesetze der
materiellen Natur gefunden zu haben glaube, mittels deren ich
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Probleme über die Bewegung der Körper lösen kann, Prob-
leme, für die alle bisher bekannten Regeln nicht ausreichten.
Meine Freunde, die von der durch mich begründeten höheren
Geometrie Kenntnis haben, treiben mich, meine ,Wissen-
schaft des Unendlichen“ herauszugeben, die alle Fundamente
meiner Analysis enthält. Dazu kommt eine, Characteristica
situs“, eine neue Art der Geometrie, die nicht die Größe, son-
dern bloß die Lage berücksichtigt. Ich arbeite an dieser ,Cha-
racteristica situs“ und noch über viel allgemeinere Dinge der
,Ars inveniendi“, der Kunst, zu erfinden und zu entdecken.
Aber alle diese Arbeiten, die historischen ausgenommen, ge-
schehen wie verstohlen. Denn Sie wissen, daß man an den Höfen
ganz andre Dinge sucht und erwartet! Daher habe ich von Zeit
zu Zeit Fragen aus dem Völkerrecht und aus dem Recht der
Reichsfürsten zu behandeln. So viel habe ich jedoch durch die
Gnade des Kurfürsten erlangt, daß ich nach eigenem Ermessen
mich der Mitwirkung an Privatprozessen enthalten kann.“
 
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Kapitelende
 
 
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