Diferencia entre revisiones de «Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 273c»

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künftigen Herrn melden, was diese letzten Wochen neuerlicher
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Verzögerungen bedeuteten?
Leibnizens Wangen waren von seltsamer Unrast gerötet, als
er, eben mit sorgfältigster Toilette fertig geworden, an seinem
Tisch in einem Gasthof im Haag saß und in fliegender Eile
die Schlußsätze eines Briefes an den Herzog hinwarf: Er wisse
es und gestehe es ein, daß keine erklärbare Ursache diese hoffent-
lich allerletzte Verzögerung rechtfertigen könne. Er habe in
Paris seine mathematischen Studien bis zu einem Grenzpunkt
vorgetrieben, dessen sichtbarer Erfolg voraussichtlich schon ein
(wenn auch bescheidenes) Ruhmesblatt des Hauses Hannover
bilden werde, da ihm je die Munifizenz des Herzogs und hoch-
seine unglaubwürdige Nachsicht und Geduld zu diesem letzten
Vorstoß in die Geheimnisse der Mathematik die reale Unterlage
geboten hätten. Dann habe er sogar, um den Herzog nicht zu
erzürnen, eine neue große Aufgabe, die Sichtung und Heraus-
gabe der nachgelasssenen, erleuchteten mathematischen Auf-
zeichnungen des Blaise Pascal im Stiche gelassen. Er habe auch
in London nur das allernotwendigste erledigt. Jetzt aber, in
Holland, sei er durch all die jahre des Suchens und Wanderns
so sehr inVerwirrung geraten, daß er sich buchstäblich fürchte,
in diesem Zustand dem neuen Herrn, der von ihm einiges Über-
durchschnittliche erwarte, vor die Augen zu treten. Er glaube
aber doch, in einigen wenigen Tagen so weit zu sein, die innere
Sammlung wieder zu finden und als der Leibniz in Hannover
zu erscheinen, den der Herzog in seiner großen Nachsicht.
würdig gefunden hatte, zu sich zu rufen. . .
\War das nun alles Lüge, waren das Ausflüchte, waren es
verschleierte und verzerrte Wahrheiten? Oder stand hinter all
dem doch nur der große Spinoza, zu dem er jetzt in einer
Stunde endlich würde vordringen können? Warum hatte er'
nicht mit gleicher Hartnäckigkeit den gewaltigen Isaac Newton.
gesucht, hatte nicht einmal eine Antwort auf seinen grundlegen-
den Brief ab gewartet, den er von London aus an Newton gerich-
tet hatte? Warum das alles?
Und Leibniz suchte in rasender Gedanken- und Bilderfiucht;
nach den wahren Gründen und Abgründen, während er den..
 
 
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Brief an den Herzog siegelte und seinem Diener kurze Weisun-
gen gab.
Die Wurzeln von all dem, was jetzt geschah, lagen weit zurück.
Ließen sich bis in seine Jugend, bis in die Kindheit, bis zu einem
entscheidenden Spaziergang, den er als fünfzehnjähriger ins
Rosental bei Leipzig unternommen hatte, zurückverfolgen.
Es war nicht jener erste fluchtartige Ausbruch ins Leben gewe-
sen, der ihn durch das Rosental zur knarrenden Windmühle
geführt hatte. Ein viel späterer, viel ruhigerer, nichtsdesto-
weniger jedoch ebenso entscheidender Spaziergang war es ge-
wesen. Ein Weg, auf dem er den furchtbaren Zwiespalt aller
Philosophie erkannt hatte.
Die wunderbare Denkmaschine der Mathematik, ihr lichtes
Reich der Formen und Größen hatte jetzt für viele Jahre den
dämonischen Antrieb der Erforschung letzter Fragen überdeckt
und überlagert. Hatte ihn durch das Spiel der unfehlbaren Not-
wendigkeit des mathematischen Ablaufes auf sicheren Boden
gestellt und eine Scheinruhe erzeugt, aus der er schon auf der
Überfahrt von England nach Holland erwacht war. Die Dämo-
nen folgten ihm. Man konnte sie einschläfern, konnte sie zu
Jahre währendem Schweigen bringen, aber sie waren da,
lebten ihr überwirkliches Leben und waren im Schlafe gewach-
sen. Und sie stürzten sich mit aller Wut auf ihre Verdränger,
die ihnen inzwischen erstanden waren, und rauften mit ihnen
um den beherrschenden Platz in der Seele. ~
Und sie schleppten all ihre Katapulte und Geschütze herbei,
da es philosophische Dämonen waren, die stets beanspruchten,
oberhalb alles Denkens und Lebens zu stehen.
Wie sieht es mit deiner Ethik aus, Leibniz? hatten sie sofort
beim Erwachen gefragt. Ethik gehört nämlich, obwohl du das
gerade leugnen möchtest, auch zu unserem Gebiet und zu
unserer Kompetenz. W'arum, Leibniz, hat es dich so sonderbar
aufgescheucht, als dich Herr Leeuwenhoek fragte, ob du ein
Cartesianer seist? Du bist einmal kein Freund klarer Stellung-
nahme, mein Leibniz. Wir kennen deine Antwort, Leibniz, ob-
gleich wir geschlafen haben. Richtiger, obwohl du uns den Mohn-
saft der Mathematik eingeträufelt hast, um uns zu vielleicht
 
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ewigem Schweigen zu bringen. Du sagst Harmonie und weißt
heute noch nicht, was du damit meinst; außer jene merkwür-
dige, beinahe genießerische Grundstimmung, daß du alles für
wahr hältst, was irgendwer behauptet, und alles für falsch,
was irgendwer verneint. Du bist gebildet genug, Leibniz, um
zu wissen, daß man solche Sinnesart in der Antike „Eklektizis-
mus“ nannte und daß die antike Philosophie an diesen Honig-
abschöpfern des Geistes zugrunde gegangen ist. Wiflst du uns
also auf die Art loswerden? Du bist dir selbst klar, Leibniz, daß
du solches nicht willst. Dir ist, dunkel und doch merkwürdig
leuchtend, nach deinem Besuch bei unsrem Diener Leeuwenhoek
etwas Eigenes aufgegangen. Die wimmelnden Tierlein im Mi-
kroskop haben dir manches gesagt. Sie haben sogar die Ab-
gründe deiner vielgeliebten Mathematik mit unsren Abgründen
zu verknüpfen begonnen. Kennst du das nicht auch, Leibniz,
wenn etwas, dunkel und doch leuchtend, ganz unten in der
Seele auftaucht? Nützen dir da Brillen, Teleskope, andre Linsen ?
Nein, sie nützten nichts. Du weißt es von der Geburt des Algo-
rithmus der hohen Mathematik. Man ist verfallen und muß das
Fünkchen im Dunkel suchen, muß dem Irrlicht nachjagen, bis
es zur stillen reinen Fackel geworden ist, die wieder ein Stück
des All-Dunkels für dich und für die Ewigkeit erleuchtet. Und
bist du nicht durch deine Mathematik und durch Leeuwenhoek
zweimal an dasselbe Weltenrätsel gestoßen? An die Teile, die
immer und immer kleiner werden, die aber getrennt sind und
Teile, In-dividuen, bleiben; und gleichwohl zusammen die un-
getrennte Linie des Weltzusammenhangs, der Kontinuität, der
Stetigkeit des Überganges ergeben? Wie willst du das alles
überbrücken, Leibniz, wie willst du Entgegengesetztes ver-
einigen, du Allesverbinder, du Enthusiast der Harmonie?
Und noch etwas haben wir, die Dämonen der Philosophie,
mit dir zu besprechen. Wie gesagt, untersteht uns alles, da wir
eben Dämonen der Philosophie sind. Du wirst jetzt blaß, Leib-
niz, weil wir dich am wundesten Punkt deiner Seele berühren.
Uns untersteht - ja, winde dich nur, Leibniz -- uns untersteht
vielleicht auch die Religion. Sicherlich aber untersteht uns eine
höhere B etrachtun g der Geschichte. Du bist ja auch Historiker,
 
 
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großer Leibniz, \X/eltwunder der Gelehrsamkeit. Und wir wol-
len jetzt alle dokumentarischen und kritischen Methoden der
Geschichte, unter gleichzeitiger Berücksichtigung der von dir
stets sehr geliebten Ethik, einmal auf dich selbst anwenden.
Oder ist das falsch? Bist du nicht jene historische Person Gott-
fried Wilhelm Leibniz, geboren 1646 zu Leipzig und so weiter,
der es gar nicht unangemessen fand, das „Consilium Aegyp-
tiacum“ zur Beeinflussung des Weltablaufs bis vor die Stufen
des Thrones eines Sonnenkönigs zu tragen? Darf man dich
also geschichtskritisch beleuchten? Ja oder nein? Dein Schwei-
gen und dein bleiches Gesicht sind uns Antwort. Man darf es.
Darf es nach allen Regeln aller Künste. Und du ahnst schon,
was wir dich fragen werden. Denn du bist namenlos klug. Bist
namenlos gepanzert gegen alle Angriffe, die einmal noch
erfolgen könnten. Du bist ein„Vauban“ des Lebens. Ein genia-
ler Festungserbauer. Wir aber kennen die schwachen Stellen
deiner Bollwerke und Walle und Kasematten, und wir haben
die schwersten Geschütze von allen Armeen des Geistes. Wir,
die Dämonen der Kerntruppe, der Philosophie. Wir haben die
Geschütze der unerbittlichen Wahrheit, der Logik, der nie
endenden Fragestellung, des Zweifels. Und wir lächeln über
die VU alle der Ausreden.
Und wir haben das Recht auf Eindeutigkeit.
Warum also, Leibniz, hast du dich schön angezogen, um
zu einem armen Glassehleifer zu gehen? Zu Benedictus Spi-
noza, wie der Mann heißt. Etwa, um ihm Achtung zu be-
zeigen oder weil du „gern scheinst“, wie Huygens von dir
gesagt hat? Tun wir dir unrecht, oder ist dein Antrieb nur ver-
schwommen?
Vielleicht war der erste Schuß schlecht gezielt. Deine Walle
sind unberührt. Unbewußte Dinge unterliegen heute noch nicht
der Ethik. Aber schlüpfe nur nicht aus, Leibniz, du großer
Ausschlüpfer! ]etzt kommt die zweite, weit peinlichere Frage,
bei der wir all unsere Rechte vereinigen werden.
Gehst du zu Spinoza als Tändler und Kuriositätensammler?
Oder als Weisheitsuchender? Oder vielleicht gar als -- Spion?
Irgendwo hat jetzt der Schuß getroffen. Staubwolken türmen
 
 
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sich über deinen Festungswerken von Ausreden. Aber wo hat er
getroffen ?
Wir werden historisch plaudern, Freund Leibniz, bis sich der
Staub und die Trümmer deiner Schanzkörbe verzogen haben.
Wer also hat in Kur-Mainz, bevor er uns Dämonen der Phi-
losophie einschläferte, mit aller Leidenschaft des Geistes gegen
die Freigeisterei gestritten? War das „utilitas“ oder „necessi-
tas“? WTir meinen, ob es zuliebe dem katholischen Herrn oder
aus innerem Zwang gesprochen war? Oder war es gar das von
dir so sehr geliebte Dritte? Etwa eine Konzession an die Harmo-
nie der Welt, die durch Freigeisterei erschüttert werden könnte?
Wir bekommen von dir keine klare Antwort. Gut. Gehen wir ein
Stück weiter. Wer, lieber Leibniz, hat bald darauf, obwohl er
durch Mathematik so sehr abgelenkt war, besser, obgleich er
sich mit Mathematik in unsrem höheren Sinne bis zur Bewußt-
losigkeit betrank, die philosophische Lehre des Cartesius stu-
diert? W'er hat die grausigen Gesichte der Philosophie des
Thomas Hobbes in sich aufgenommen und den wilden „Levia-
than“ über die Welt stampfen gesehen? Wer hat, weil er ja alle
Behauptungen billigt, an den „Kampf aller gegen alle“ geglaubt
und sich dann vor Schrecken sogleich wieder in die lullische
Zauberei des Algorithmus zurückgezogen? Wer hat sich dann
auf den „Tractatus theologopoliticus“, auf jenes verpönte Ma-
nifest der Denkfreiheit, der Bibelkritik, der halben Gottesleug-
nung gestürzt, auf jene anonyme Forderung des Rechtes auf
Freiheit der Philosophie von allen Dogmenschranken? Auf
jenes Buch, das nie Worte, nur Taten strafbar haben will? Und
wer hat weiter sofort gewußt, daß der Autor dieses Traktates
kein andrer als Spinoza ist?
Und nun hat der feine Diplomat Leibniz zu handeln begonnen.
Aus welchem Motiv? Wozu soviel Schlauheit? Wir werden
noch davon sprechen. jedenfalls hat Herr Leibniz vom achtzig-
jährigen Hobbes trotz schöner geistvoller Briefe keine Antwort
bekommen. Die Pariser Cartesianer hat er aus geholt. Auch gut.
Er hat dann gegen die Philosophie des Cartesius gestritten, aus
der Mathematik desselben Cartesius sein Licht geholt. Insoweit
hat er Leeuwenhoek nicht angelogen. Wie er überhaupt niemals
 
 
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lügt, sondern sich bloß schlängelt und verschweigt. Aber was
ist es nun mit Spinoza?
In diesem Fall übersteigt die Diplomatie jedes Maß. Der
Freund Tschirnhaus, ein begeisterter Kämpfer, ein wilder Frei-
heitsbold und Wageafles, ist natürlich in Holland so etwas wie
ein Spinozist geworden. Einfache, gerade, leicht entzündliche
Seele. Und ist ein Ritter und Ehrenmann dazu. Ein Enthusiast.
Und dieser Tschirnhaus hat ihm viel vom Leben des Spinoza
erzählt. Und derselbe Tschirnhaus trägt überall eines der be-
rüchtigten, gefährlichen, verbotenen Manuskripte und das
Wissen um das Hauptwerk Spinozas mit sich herum. Und darf
das Manuskript nicht zeigen, über das Hauptwerk nicht spre-
chen. Er hat das Ehrenwort gegeben und hält es. Auch einem
armen Glasschleifer, der ein angeblicher Gottesleugner ist.
Denn im Kopfe Ehrenfried Walters von Tschirnhaus ist kind-
licher Glaube und Freigeisterei vereinbar. Ihm, dem Tschirn-
haus, verzeihen wir diese Skurrilität, lieber Leibniz. Bei dir ist
das doch etwas anderes. Gleichwohl aber hast du, Leibniz,
Tschirnhaus veranlaßt, Spinoza zu bitten, sein Geheimnis dir
gegenüber zu lüften und Tschirnhaus zu näheren Mitteilungen
zu ermächtigen. Spinoza hat dem Rat von Kur-Mainz, dem
Gesandten des Erzbischofs, der ein Protestant ist und mit den
Jansenisten verkehrt, der als Deutscher während des Reichs-
krieges gegen Frankreich sich in Paris aufhält, und was der-
gleichen Unauflösbarkeiten undVerwicklungen noch mehr sind,
nicht getraut und das Ansinnen klar abgelehnt.
Aber, das geben wir dir zu, Leibniz, du hast einen festen
Wiflen. Du hast nicht nachgelassen, obgleich du uns philoso-
phische Dämonen mit dem Mohnsaft der Mathematik betäubt
hattest. Du hast weiter gebohrt und nach diplomatischen Metho-
den gehandelt. Zuerst bei jenem berühmten Oldenburg in Lon-
don, bei jenem Sekretär der königlichen Akademie, der sowohl
Vermittler zu Newton als zu Leeuwenhoek als zu Spinoza-
werden sollte. Von den unzähligen anderen „Beziehungen“
zu schweigen, die dir dieser wackere Mann verschafft hat.
Und nun bist du hier, nachdem du Leeuwenhoek erobertest,
in Amsterdam gewesen. Bei jenem herrlichen Patrioten Hudden,
 
 
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der es höher schätzt, einer der zwölf Bürgermeister Amsterdams
zu sein und die Finanzen der Vaterstadt zu ordnen, als seinem
übergroßen Genius der Mathematik zu leben, der sicher nicht
Weit hinter deiner Kunst zurücksteht. Und dann bist du zum
braven Arzt Schuller gegangen, da du herausbrachtest, daß
dieser Mann sozusagen der Türsteher Spinozas ist. Natürlich
auf Empfehlung des Herrn Bürgermeisters Hudden, vor dem
du deine glitzernden mathematischen Bälle Wie ein Gaukler
spielerisch durch die Luft schwirren ließest, und der als biederer
und ruhiger Holländer von deinem Temperament, deiner Ge-
schliffenheit und deinem geradezu gallischen Esprit entzückt
War. Du hast sogar, Gaukler der du bist, das Tuch der Hexe von
Endor ein Wenig gelüftet und dem edlen Hudden ein Pünktchen
deines Algorithmus gezeigt. Beileibe nicht Methoden, nichtAuf-
hellungen. Nein, fertige Resultate, Lösungen bisher unlösbarer
Aufgaben. Und hast noch dazu fein gelächelt, als du merkstet,
daß der Mann vor Sehnsucht nach der eigenen Kunst erbleichte,
der er für seinVaterland abgeschworen hatte. Solche„höfische“
Scherze treibst du mit Leuten, die dich Wahrscheinlich die
Stiege des Rathauses hinabgeworfen hätten, Wenn ihnen das
„Consilium Aegyptiacum“, jener tiefste und raffinierteste Ver-
nichtungsplan gegen ihre Heimat, je bekannt geworden Wäre.
i Dann bist du, Leibniz, von Stolz und Sieges gefühl geschwellt,
die Hafenkais Amsterdams entlang gewandert und hast nach
deinem alten Rezept die Welt durchforscht, nach jenem Plan,
der dir seitens des mißtrauischeren und kühleren Herrn Colbert
fast dieVerhaftung eingetragen hätte. Du verstehst dich auf dem
versteckten Export aus Ländern, in denen du zu Gast weilst.
Wenn Wir, die Dämonen der Philosophie, dich damals auf
diesem Hafenspaziergang jedoch richtig beobachtet haben, so
haben wir einen sonderbaren Stimmungsumschwung wahrge-
nommen. Wir lassen dich eben nicht los und fühlen uns in dir
heimisch, Weil du, trotz all deiner Sprünge, rettungslos zur
Selbsterkenntnis verdammt bist.
Dich hat also auf den Hafenkais einiges zur Einkehr ange-
regt. Du sahst schwerbeladene Schifie aus Indien, aus Sumatra,
aus China einlaufen. Sahst die seltsamen Waren, die seltsamen
 
 
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Antlitze fremdester Menschen. Sahst Inder, Malaien, Chinesen.
Sahst den Wald von Masten, den Wagemut der Kapitäne und
Matrosen, den Fleiß und die Sorge, die Seligkeit und die Ent-
täuschung der Kaufherren von Amsterdam. Und da hast du
etwas gedacht. Etwas sehr, sehr Aufrichtiges. Du bist dir näm-
lich plötzlich der Idee der Verantwortlichkeit bewußt geworden.
Das war ja der lebendige Anblick jenes Handels hier um dich
herum, den du durch dein „Consilium Aegyptiacum“ hattest
zerstören wollen. Lebensnerv, Lebenskraft eines ganzen, stamm-
verwandten Volkes. Nicht daß du vielleicht dein „Consilium“
in seinen Motiven gar zu sehr zu bereuen hättest. Wir wissen,
daß du ehrlich als Patriot für Deutschland gedacht und gewirkt
hast. So weit geht unser Vorwurf nicht. Vielleicht gibt es einen
„Kampf aller gegen alle“. Vielleicht auch so etwas wie ein gott-
gewolltes Recht der Stärkeren. Aber, und jetzt kommt das
fürchterliche Aber, mein Leibniz. Hast du damals, als du die
sauberen Phrasen deines „Consilium Aegyptiacum“ drechsel-
test, wirklich gewußt, was deine Worte bedeuteten? Wie leicht
es ist, hinzuschreiben, der Handel eines Brudervolkes solle
lahmgelegt werden, und was die riesige Tatsache hinter solchen
Gedankendingen ist? Siehst du das jetzt? Und siehst du aus
dem Lauf der Geschichte nicht weiter, daß Ludwig, der räu-
berische Sonnenkönig, um vieles milder war als du, trotz Brand-
schatzung und Plünderung? Gewiß, man hat es vorher nicht
wissen können, daß diesem kleinen Volke ein Admiral de Ruyter
erstehen würde. Daß hinter den hölzernen Wällen seiner Schiffe
das Volk I-Iollands, fast nur mehr auf Amsterdam zusammen-
gedrängt, die Rettung suchen und finden werde. Während die
durchstochenen Dämme das blühende Land unter Wasser setz-
ten und dieses Amsterdam zur Insel machten.
Und du hast auch, weiter wandelnd, die letzten Spuren de
Ruyters im Hafen erblickt, Leibniz. Lagen dort nicht, halb ab-
getakelt und noch wund und zerspellt von Schüssen franzö-
sischer Breitseiten, die bauchigen, kanonenstarrenden Schiffe
des großen Admirals, deren helle Bodenbewachsung, deren
Muschelkruste und Tang in der Wasserlinie von wärmeren
Meeren erzählte? Du weißt ja alles, Leibniz. Weißt, daß es die
 
 
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Schiffe waren, die eben aus dem Mittelmeer heimkehrten mit
trauernd gesenkten Flaggen. Die Flotte, die vor kaum sechs
Monaten bei Catania im Angesicht des Ätna die Überzahl der
Franzosen angegriffen hatte und wieder, wie immer, gesiegt
hätte, wenn nicht durch eine tölpische Kanonenkugel dem
greisen de Ruyter ein Bein abgerissen worden wäre. So daß er,
fern der Heimat, am nächsten Tage in Syrakus seine Augen für
imm er schloß.
Und solchem Geschehen gegenüber, solchem Anderssein des
Lebens, des wahren Handelns gegenüber hast du noch kein Miß-
trauen gegen Worte? Wirst du in Hannover ein de Ruyter, ein
Hudden deines Vaterlandes werden? Oder wirst du weiter alles
billigen, was jemand bejaht und für falsch halten, was jemand
verneint? Merkwürdig, daß gerade wir, die Dämonen der Philo-
sophie, uns plötzlich an die Seite der Tatmenschen schlagen und
gegen das Wort streiten. Aber auch da verstehst du uns sehr gut,
Allerklügster. Wir wollen dir ja nichts andres sagen, als daß
Worte furchtbarer sein können als Taten. Und daß Worte,
gesprochen in den obersten Zonen des Geistes, das allerhöchste
Maß an Verantwortung bedeuten, weil alles Geschehen an ihnen
hängt und aus ihnen folgt.
Jetzt bist du plötzlich merkwürdig ruhig, Leibniz. Sollte es
gutes Gewissen bedeuten? Oder lügst du dir gar wieder etwas
vor, weil du siehst, daß deine Wälle nur eine bedeutunglose
Bresche zeigen? Wir werden ja gleich weiter in deine Stellungen
hineinfeuern. Halte Kampfpausen niemals vorschnell für Frie-
densschlüsse, du elastischer dreißigjähriger Weltmann.
Was also hast du weiter im Falle Spinoza unternommen? Ah,
Leibniz, der nächste Schuß wird geladen, du bist schon wieder
unruhig.
Du hast dich, wir sprachen schon darüber, vom Patrioten
Hudden an den Arzt Schuller empfehlen lassen, den wir als den
„Türsteher“ Spinozas bezeichneten. Es ist derselbe Schuller,
durch dessen Hand alle Korrespondenz verdächtiger Leute an
Spinoza läuft. Also auch deine Anliegen aus Paris sind seinerzeit
diesen Weg gegangen. Und Schuller weiß, daß du ein „Ver-
dächtiger“ bist.
 
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Was tut man da, außer deinem beliebten Mittel, zu „schei-
nen“? Außer gutem Kleid und verbindlichem Lächeln? Nun,
es ist sehr einfach. Man gewinnt in ewig wachem, niemals selbst-
vergessenem Gespräch das Vertrauen, das einem bisher versagt
wurde. Man lügt nicht. Beileibe nicht. Denn das ist zu gefähr-
lich. Aber man verschweigt, verschweigt und verschweigt noch-
einmal. Nämlich alles Trennende. Und betont stark und scharf
das Übereinstímmende. Bis man nach einigen Wfochen (denn
auch der Enthusiasmus ist verdächtig und muß dosiert werden I)
endlich so weit ist, den ersten Zipfel der Geheimnisse zu fassen.
Plötzlich hatte Spinoza etwas gestattet. Nur jetzt kein zu un-
verhohlener Jubel! Du handelst schnell, aber du behieltst die
kühle Maske. Duwirst es jedoch zugeben, Leibniz, daß du zitter-
test, als du die drei neuesten Briefe Spinozas an Oldenburg zum
Studium erhieltest. Als du von Schuller schnurstracks in deinen
Gasthof liefst und die ganze Nacht über den Briefen saßest, sie
abschriebst und die Abschriften glossiertest. Man hat es dir nicht
verboten, sie abzuschreiben. Folglich war es erlaubt. Und
Schuller würde nicht fragen, ob du sie abschriebst, wenn du sie
ihm schon am nächsten Morgen zurückbrächtest.
Und jetzt, Leibniz, haben wir unsre Geschütze gegen deine
innersten Walle gerichtet. Alle Geschütze zugleich. Du fühlst
es, weißt, daß dort drinnen im Fort deine beste Mannschaft,
dein Proviant, deine Munition liegt.
Was willst du eigentlich von Spinoza? Du hast im wesentlich-
sten Punkt eine sehr eigentümliche Bemerkung an den Rand
der Briefabschrift gesetzt. Und hast dich mit dieser Glosse
gegen Oldenburg für Spinoza entschieden.
Mein Gott, was bedeuten solche Notizen? könntest du er-
widern. Du schweigst aber entsetzt. Denn es ist nichts zu er-
widern. Du hast nämlich ganz gegen alle deine sonstige Gewohn-
heit Stellung genommen. Klare, eindeutige, nicht wegzutüf-
telnde Stellung. Und dazu noch gerade im Angelpunkt aller
Zwiespalte. Ist es vielleicht so, daß es dir geht wie den braven
wohlerzogenen Kindern, die nie etwas angestellt haben, und
deren erste Ausgelassenheit dann eine übergroße wird? Ist es
so? Oder sind dazu diese furchtbaren Worte doch zu klar, zu
 
 
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wuchtig, zu stilisiert? Oder hast du nicht stets gefühlt und
geglaubt, es behauptet und dafür gestritten, daß der freie Wille
die Grundfeste jeder wahren Sittlichkeit ist? Was bedeuten also
jene zwei Sätze der Glosse? Sieh sie nur noch einmal genau an.
Was heißt das? „Ob es in jemandes Macht gestanden wäre zu
wollen, tut nichts zur Sache. Zur Strafwürdigkeit genügt der
offenkundige verbrecherische Wille.“
Wie nennt man solche Weltanschauung, Weiser Leibniz, die
aus diesen zwei Sätzen hervorleuchtet, mehr noch, hervorsprüht ?
Heißt sie nicht Determinismus, unabänderliche Vorherbestim-
mung, Prädestination? Bist du Calvinist geworden, Leibniz?
Oder gar schon philosophischer Freigeist? Willst du noch den
Traktat von der Freiheit des Philosophierens dazu bejahen?
Gehst du zu Spinoza, um dich endgültig zur Freigeisterei
führen zu lassen? Und Unfreiheit des Willens mit Freiheit des
Denkens und Redens zu verbinden? Weißt du, was für Spreng-
stoffe gerade in dieser Kombination liegen?
O ja, Leibniz, du weißt es genau, da dich die Linienschiffe de
Ruyters über den Begriíf Verantwortung aufgeklärt haben.
Und du weißt auch, daß dein tiefstesWesen, jene noch so ver-
schwommene Harmonie, wahrscheinlich das Gegenteil verlangt.
Nämlich Freiheit des Willens als Grundlage der Sittlichkeit und
Gebundenheít des Wortes im Interesse höchster Zwecke. Im
Interesse der Nation, der Menschheit, des Kosmos, Gottes!
jetzt türmen sich feuerzuckende Rauchsäulen über deinen
Festungswällen, Leibniz, jetzt hört man das Krachen gespreng-
ter Pulverfässer.
Warum also gehst du zu Spinoza? Warum, Leibniz, der
du eben die Ansätze eigenster Philosophie aus den Wunden
Leeuwenhoeks zu erlauschen begannst? Warum?
Nur, weil du keine Furcht zeigen willst, weil du alle Ver-
wirrung, alle Gefahr, die Quintessenz des Gegnerischen in dich
aufnehmen willst, um es zu überwinden zur höheren Ehre Got-
tes? Oder weil du unter dem anderen unheimlichen Gott zitterst,
den Spinoza hat, und der die Weltseele ist? Oder weil du gar
Gott als Rechenexempel betrachtest und der Formreiz eines
fremden Algorithmus dich lockt?
 
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Du bistverwirrt, Leibniz, du bist schwach, du bist angreifbar.
Deine Festung liegt in Trümmern. Und darum gehst du heute
deinen schwersten, deinen gefährlichsten, deinen entscheiden-
sten Gang. Und du, der Sieggewohnte, hast dich mit der unfehl-
baren Sicherheit deines Instinkts in eine Lage hineinmanöv-
riert, in der dir, verzeihe das Paradoxon, auch die Niederlage
winkt.
Vielleicht (hörst du jetzt die Dämonen kichern ?), vielleicht,
Leibniz, ist der Wille wirklich nicht frei. Vielleicht gehst du nur
den Weg deines unentrinnbaren Fatums. Oder hat dich Gott
ein einziges Mal unfrei gemacht, daß du später imstande seist,
desto nachdrücklicher die Freiheit des Willens zu erkennen und
zu panzern?
Und wie wirst du gegen den Menschen Spinoza streiten?
Vorausgesetzt, daß du überhaupt noch streiten willst. Was steht
dir da bevor? Darfst du, Leibniz, dessen Gerechtigkeitsstreben
wir nicht bezweifeln wollen, weil wir dich ja sonst freiwillig
verließen, darfst gerade du also leugnen oder auch nur vernach-
lässigen, wie dieser Mann sein Leben bisher gelebt hat? Wie
wenig oder, besser, wie überhaupt keine Angriffspunkte die
Selbsttreue und selbstvernichtende Wahrhaftigkeit dieses Man-
nes auch dem Gegner bietet? W/as also wirst du tun, der du
nicht einmal weißt, ob du ein Gegner bist?
Oder ist dein Gang Starrsinn oder bist du doch nichts als ein
Spion ?
Geh jetzt, Leibniz, wir haben dir alles gesagt. Haben nichts
verschwiegen, nichts verdeckt. Und sieh zu, wie du nach dieser
Unterredung ein Philosoph, ein Christ und ein Deutscher blei-
ben kannst.
Wir werden auch dort bei dir sein und dir nichts ersparen.
Denn das letzte Ziel des Geistes heißt Verantwortlichkeit, auch
dann, wenn der Wille gebunden ist. Du hast das selbst an den
Rand des Spinozabriefes geschrieben. Nicht mit diesen Worten,
aber dem Sinne gemäß. Was auch gäbe es Verbrecherisches, als
die tiefsten Brunnen der Weltweisheit zu vergiften, aus denen
noch ferne Geschlechter trinken sollen und trinken müssen?
Und diesmal bist du nicht wie sonst der vorbestimmte Sieger,
 
 
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Leibniz. Diesmal stehen deine Chancen höchstens eins zu eins,
wie deine mathematischen Wahrscheinlichkeitsüberlegungen es
nennen. Aber vielleicht bist du heute dem gemeinsamen Schick-
sal aller mühseligen und beladenen Menschen mehr verbunden,
tiefer verbrüdert, enger eingegliedert als im Vorwärtssturm
deiner Siege. Und vielleicht hat Gott eben das gewollt, dessen
Werkzeug du sein möchtest, wenn du dir über ihn selbst klar
wärest.
Dein Diener zupft an den Falten deines hellgrauen modischen
Rockes, Leibniz. Man wird dich zumindest für einen Weltmann
halten. Daß du mehr bist, wirst du „more geometrico“, nach
Art der Geometrie oder noch viel subtiler zu beweisen haben.
 
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