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:Geschichte der Mathematik (Teil 2)
 
 
== 2 ==
 
:'''Zweites Kapitel'''
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:'''EUKLID'''
:Mathematik und Philosophie
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:Vitruvius erzählt in seinem Werlie über die Architektur in der Vorrede folgende kennzeichnende Anekdote: „Aristippus philosophus Socraticus, naufragio cum eiectus ad Rhodiensium litus animadvertisset geometrica schemata descripta, exclamavisse ad comites ita dicitur: Bene speremus, hominum enim vestigia video.“ Wir wollen diese Stelle frei ins Deutsche übertragen, um ihren für unsren Gegenstand ungeheuer aufschlußreichen Symbolgehalt entsprechend deutlich herauszustellen. Aristippus also, ein Anhänger oder Schüler des Sokrates, sei bei einem Schiffbruch ans Ufer von Rhodos ausgeworfen worden. Dort habe er in den Sand gezeichnete geometrische Figuren bemerkt und soll darauf, zu seinen Gefährten gewendet, freudig ausgerufen haben: „Wir wollen bester Hoffnung sein, denn ich sehe die Fährte von Menschen!“
:Die Fährte echter, wahrer Menschen, wollen wir hinzufügen. Fast denken wir bei diesem Ausruf an unser: „Wo man singt, dort laß dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.“ Für den Hellenen war es klar: kein Barbare hauste hier. Denn böse Menschen haben keine „schemata geometrica“, keine geometrischen Figuren. Das Antlitz des Kulturmenschen leuchtet im Glanz geometrischen Wissens und seine Fährte ist die geometrische Figur.
:Diese Anekdote soll sich etwa zur Zeit Platons zugetragen haben, also um 400 vor Christi Geburt. Daher obliegt es uns diesmal, mit unserem Zauberteppich nicht den Raum, sondern die Zeit zu durcheilen, um den Inhalt all dessen wiederzugeben, was von Pythagoras steil ansteigend zum leuchtenden Kulm des hellenischen Geisteswunders führte. Wir wollen diese garende, vorwärtsstürmende Zwischenzeit als die Zeit des Einbruches der Philosophie in die Mathematik charakterisieren, obgleich es in ihr durchaus nicht an mathematischer Eigenleistung und Eigenentwicklung fehlte. Sie hatte aber trotz all dieser Erfolge nicht die letzte Höhe erreicht, wenn sich nicht eine weitere Zone hellenischen Genies teils befruchtend, teils zersetzend zu ihr gesellt hatte.
:Auf demselben unteritalischen Boden Großgriechenlands nun, auf dem die Reste der pythagoreischen Schule ihre tiefgründigen, noch geheimnisumhüllten Forschungen fortsetzten, erwächst auch eine philosophische Schule, die Schule der Philosophen von Elea, die, vom großen Philosophen Parmenides gegründet, in Zenon schließlich einen fast ins Karikaturenhafte verzerrten Vertreter fand. Er war kein Mathematiker, sondern, wie Gantor sagt, eher das Gegenteil eines Mathematikers, eröffnete aber durch seine Skepsis, durch seine vor keiner Paradoxie zurückschreckende Zweifelsucht einen Streit, der sich bis in unsre Tage zieht, ohne je zum endgültigen Abschluß kommen zu können. Er rührte als erster in aller Scharfe an die große Gegengesetzlichkeit innerhalb des Menschengeistes, an die Antinomie zwischen Stetigkeit und unendlicher Teilbarkeit, zwischen Ruhe und Bewegung. Bevor wir jedoch über Zenon selbst sprechen, müssen wir zurückgreifen: schon von Anaximandros von Milet wird behauptet, er habe den Begriff des Unendlichen in die Wissenschaft eingeführt, und die Pythagoreer deckten sowohl durch ihre Betrachtungen der Zahlenfolgen als auch durch die Entdeckung des Irrationalen tiefe Einblicke ins Unendliche, in das niemals zu Ende zu Führende auf. Gewiß, das Alogon, das Unaussprechliche, wurde abgelehnt und zurückgeschoben. Man erklärte, es entspreche zwar jeder Zahl eine Größe oder Strecke, nicht aber jeder Größe oder Strecke eine Zahl. Was nützte dieses Zurückschieben des Urproblems? Das Irrationale war nun einmal durchgesickert und es existierte, ob man es als gleichsam vollbürgerliche hellenische Denkkategorie anerkannte oder nicht.
:Nun war aber, noch vor Zenon, ein mächtiger geometriekundiger Philosoph, Anaxagoras, aufgestanden, der dem Stetigkeitsprinzip seine schärfste Formulierung gegeben hatte. Anaxagoras erklärte: „Im Kleinen gibt es kein Kleinstes, sondern es gibt stets noch ein Kleineres ...
:Aber auch im Großen gibt es stets noch etwas, das größer ist.“ Und schon etwa zwanzig Jahre nach der Geburt des Anaxagoras wurde wieder ein Bahnbrecher geboren, Demokritos aus Abdera, aus jener verrufenen Schildbürgerstadt des Altertums, von deren Bewohnern man sich die tollsten und albernsten Geschichten erzählte. Der „Abderite“ Demokrit aber sollte als Stern erster Größe in die Weltgeschichte eingehen. Er war sozusagen der erste Entdecker des Materialismus und hat dem Begriff des Atoms, des letzten unteilbaren kleinsten Teiles, sein erstes und sein bleibendes Bestehen verschafft. Demokrit war auch ein hochrangiger Mathematiker, hatte, wie schon so viele, Ägypten besucht und hat - eine sonderbare Laune der Wissenschaftsgeschichte - gerade auf mathematischem Gebiet eine grundlegende Entdeckung gemacht, die seiner atomistischen Philosophie schnurstracks zuwiderlief. Er bestimmte nämlich als erster das Volumen der Pyramide und des Kegels, indem er diese Gebilde in dünnste Scheiben zerschnitt und ihre Volumen als ein Drittel eines Prismas, bzw. Zylinders von gleicher Grundfläche und gleicher Höhe erklärte. Diese an sich durchaus richtige Erkenntnis ist - und das wollten wir oben sagen - auf atomistischer Grundlage nicht möglich. Es genügen dazu nicht dünne Scheiben, sondern dünnste und wieder noch dünnere Schnitte, sonst erhält man keine glatte Pyramide, sondern eine Stufenpyramide, und keinen glatten Kegel, sondern einen Stufenkegel, den man zu den glatten Gebilden - Prisma und Zylinder - nicht in Beziehung setzen kann. Wie es nun auch immer mit dieser Entdeckung des Demokrit oder mit jener des Anaxagoras ausgesehen haben smag, der als politischer Häftling im Gefängnis zu Athen die erste Kreisquadratur gezeichnet haben soll: sicher ist jedenfalls, daß der Streit der Philosophen um die tiefsten Probleme der Mathematik auf allen Linien entbrannt war. Und hierzu müssen wir jetzt das „Gegenteil eines Mathematikers“, den Skeptiker Zenon aus Elea, herbeirufen, damit er uns in seiner überspitzten, unterhaltlichen Art die Fruchtlosigkeit aller tieferen mathematischen Bemühung klarlege. Zenon war ein Feind der Pythagoreer. Warum, wissen wir nicht. Wir wollen aber annehmen, daß ihn keine persönlichen, sondern rein sachliche Gründe leiteten. Weil er aber ein Feind der Pythagoreer war, mußte er zuerst das Heiligste dieser Schule, den Zahlbegriff, zersetzen. Und er besorgte seinen Angriff äußerst gründlich. Er leugnete nämlich kurzweg die Möglichkeit jeder Vielheit. Eine Vielheit, so schloß er, müsse sich aus Einheiten aufbauen. Eine Einheit, eine solche nämlich, die diesen Namen wirklich verdiene, könne nur dann vorliegen, wenn es sich um Unteilbares handle. Etwas Unteilbares aber dürfe wieder keine Größe besitzen, sonst müßte es teilbar sein. Da somit die Einheit keine Größe habe, sei sie gleichsam ein Nichts. Ein Nichts aber könne man vervielfachen, so weit man wolle, und man erhalte dadurch wieder ein Nichts. Es existiere also keine Vielheit. Man könne aber ebensogut behaupten, die Einheiten seien unendlich groß. Denn wenn das Viele oder die Vielheit existieren solle, dann müßten ihre Teile voneinander entfernt liegen. Daher könnten dazwischen wieder Teile eingeschoben werden, die wieder eine Größe haben müßten, und so fort ins Unendliche. Wie weit man nun auch diesen Prozeß verfolge, gelange man stets wieder zu teilen, zu Einheiten, die eine Größe hätten, somit aus unendlich vielen Teilen beständen, die selber wieder Größe hätten usw. Daher müsse jede Einheit unendlich groß sein, da sie sich aus unendlich vielen, selbst ausgedehnten Teilen zusammensetze. Nicht genug aber an der schauerlichen Tatsache, daß es keine Einheiten und keine Vielheiten, also keine Größen und keine Zahlen gebe, oder daß Einheit und Vielheit jede für sich unendlich groß seien, so gebe es darüber hinaus auch keine Bewegung. Ehe ein abgeschossener Pfeil an seinem Ziele ankommen könne, müsse er vorerst die Halfte des Weges zurücklegen, von dieser Halfte wieder die Halfte und so fort. Entweder nun setze sich jede solche Hälfte aus wirklichen, existierenden Wegstrecken von <math>\frac{1}{4}</math>, <math>\frac{1}{8}</math>, <math>\frac{1}{16}</math>, <math>\frac{1}{32}</math>, usw. des ganzen Weges zusammen, dann sei sie eben die Summe unendlich vieler, wenn auch stets kleiner werdender, doch noch immer wirklicher Wegstrecken. Dann aber brauche der Pfeil schon für die kleinste ins Auge gefaßte Strecke eine unendliche Zeit, bleibe also auf der Bogensehne hängen. Oder aber die Teilstrecken seien nicht weiter teilbar, dann seien sie eben nichts. Und aus einer auch noch so umfassenden Aufsummierung der „Nichtse“ könne nie ein Etwas entstehen. Auch in diesem Falle bleibe der Pfeil auf dem Bogen. Aus ähnlichen Gründen könne auch der schnellfüßige Achilles niemals die Schildkröte einholen, die einmal einen Vorsprung habe, weil, wahrend Achilles den Vorsprung durchlaufe, die Schildkröte einen neuen Vorsprung gewinne, und so fort bis ans Ende der Zeiten, das aber Achilles ebensowenig erlebe wie die Schildkröte.
:Nun war Zenon von Elea ein zu heller Kopf, um auf den Einwurf, daß der Pfeil in Wirklichkeit abfliege, daß die Vielheit tatsachlich existiere und daß Achilles die Schildkröte in wenigen Augenblicken erreicht haben würde, mit dem Jahrtausende später geprägten Philosophenwort: „Desto schlimmer für die Tatsachen“ zu antworten. Er wollte vielmehr die ebenso „tatsächlich“ sofort auftretenden Schwierigkeiten in möglichst greller Art beleuchten, die sich der Behauptung eines Anfanges, einer letzten Einheit, eines selbst unteilbaren Teiles entgegenstellen. Daran änderte es auch nichts, daß inzwischen schon Theodoros von Kyrene die Irrationalität aller unendlich vielen Quadratwurzeln, sofern es sich nicht um Wurzeln aus Quadratzahlen handelte, bewiesen hatte.
:Nun haben wir aber schon bei Anaxagoras angedeutet, dieser große Philosoph habe sich mit der Quadratur des Kreises beschäftigt. War das ein herausgegriffenes Einzelproblem oder war es vielmehr eine gleichsam prinzipielle Angelegenheit? Rein chronologisch müßten wir hier schon von den drei großen „klassischen Problemen“ des Hellenentums sprechen, müßten hier schon die Quadratur des Kreises, die Verdoppelung des Würfels und die Dreiteilung des Winkels behandeln. Wir bitten aber für die Erörterung dieser Probleme um Auischub. Wir werden sie im nächsten Kapitel eingehend durchleuchten. In diesem Kapitel müssen wir uns auf andere Probleme beschränken, da sonst die eigentümliche Stellung Euklids nicht zum vollen Ausdruck käme.
:Wir wollen also bloß anmerken, daß auch in dieser Zeit schon manches entstand, das die Taten eines Archimedes und eines Apollonios von Perga vorbereitete. Für Euklids Leistungen dagegen war es am wichtigsten, daß man erkannte, mathematischer Erfindergeist und plastisches Schauen reichten nicht aus, die Mathematik zu der Höhe emporzureißen, die den erleuchtetsten Köpfen als Ideal vorschwebte. Um vollste, echteste Wissenschaft zu werden, mußte sich Mathematik vorübergehend unter philosophische Kontrolle stellen. Diese Kräfteverschiebung hatte vor allem Zenon durch seine maßlosen, aber sehr treffsicheren Angriffe gegen die merkwürdig brüchigen und leicht verwundbaren Fundamente der Mathematik erreicht.
:Bevor wir weitersprechen, noch eine kleine, sehr notwendige Einschaltung: wir hörten schon, daß die alten Griechen, insbesondere die Pythagoreer, ihre Zahlentheorie als Arithmetik bezeichneten, eine Bezeichnung, die auch auf all das ausgedehnt wurde, was damals algebraischen Charakter trug. Ein konkretes Zahlenrechnen, wie es die mathematische Hauptbeschäftigung bei Ägyptern und Babyloniern (und allen andern nichtgriechischen Völkern) gebildet hatte, wurde auf hellenischem Boden nicht als Wissenschaft anerkannt. Es hieß Logistik, war eine geschätzte Kunst der Rechenmeister (Logistiker), war aber durchaus keine Wissenschaft. Diese Unterschätzung, deren Ursachen wir ergründen müssen, rächte sich für die hellenische Mathematik noch mehr als die absolute Trennung zwischen praktischer, messender Geometrie, der sogenannten Geodäsie, und der eigentlichen strengen Geometrie als Wissenschaft, die einzig wirklichen Rang im geistigen Kosmos besaß. Das Wort Geometrie, das „Vermessung“ oder „Ausmessung“ der Erde bedeutet, ist also falsch und anachronistisch. Thales und die Pythagoreer dürften es in Anlehnung an ägyptische Gebräuche und Methoden ohne weitern Nebengedanken auf die griechische Mathematik angewendet haben, die höchstens Gestalten-, Formen- oder Proportionenlehre hätte heißen dürfen, um durch ihren Namen das auszudrücken, was sie wollte und was sie wieder nicht wollte.
:Es liegt uns fern, uns lächerlich zu machen und die Schöpfer dieser Wissenschaft wegen einer Namensunkorrektheit zu kritisieren. Wir weisen nur darauf hin, um allfällige Irrtümer abzuriegeln. Uns interessiert auch noch viel mehr die Tatsache, daß die griechische Mathematik in ihren beiden Hauptzweigen, der Lehre von Zahlen und Zahlenvertretern (also in Arithmetik und Algebra) und in der Lehre von den Größen und ihren Beziehungen (also in der Geometrie), jegliche Praxis, härter gesagt: eine Verunreinigung durch solche Praxis ablehnte. ur im Denkraum sollte Mathematik getrieben werden und enthalten sein, aus dem Erfahrungsraum war sie verbannt, soweit sie Wissenschaft genannt wurde. Dadurch, und daß die Rechtfertigung eines derartigen Puritanismus, der besonders bei einem lebenszugewandten Volk, wie es die Griechen waren, auffällt, dadurch also wurde ihr höchste Allgemeingültigkeit, Verallgemeinerungskraft und ästhetisch-harmonische Einheitlichkeit gesichert. Dadurch aber wieder schritt sie an manchem Problem, das nur die Praxis stellen hätte können, achtlos vorbei und brachte sich auch im rein Theoretischen um eine gewisse notwendige Elastizität und weltweite. Es ist das Problem des Klassischen, der Formreinheit an und für sich, das uns hier entgegentritt: das Problem von Form und Inhalt, das am Ende der vonuns eben besprochenen Vorbereitungszeit ein Aristoteles in seiner ganzen Breite aufrollte. Und es ist zudem noch ein weiteres, sehr tiefes und rätselhaftes Problem des Zusammenwirkens der einzelnen Kulturfaktoren.
:Während nämlich in Ägypten die Mathematik bloße Hilfstechnik einer sicherlich tiefkulturellen Gesamtheitsformung auf architektonischem und verwaltungsmäßigem Gebiete war, während sie in Babylon und bei dessen Vorläufern auch noch gleichsam als Zusatzmaterie das Leben und die Mystik unterstützte, hat sie sich im Griechentum zur eigenen Welt konstituiert. Die Mathematik hat sich auf hellenischem Boden selbständig gemacht, beginnt das gesamte Denken der führenden Menschen zu formen, sie wird eine„Überwissenschaft“, ähnlich der Philosophie, die ja aus der Natur ihrer Problemstellung heraus stets Überwissenschaft sein soll. Und die Mathematik prallt auch folgerichtig in diesen Jahrhunderten mit der Nebenbuhlerin Philosophie hart zusammen. Unter ungeheurem geistigem Schmerz wird er„euklidische Mensch“ geboren, wie Oswald Spengler diesen Typus von Menschen nennt, der die Form so hoch stellt, daß er der praktisch anwendbarsten Wissenschaft fast die Anwendung auf die Wirklichkeit untersagt, um sie durch Jahrhunderte zu einer Vollendung zu treiben, die sie tatsächlich erst wieder am Ende des neunzehnten Jahrhunderts erreicht hat. Der Weg dieser Entwicklung wird unbeirrbar weitergegangen, nichts ist zu gering, nichts zu schwer, um das Ziel zu erreichen. In diesen für Hellas politisch so stürmischen und bewegten Jahrhunderten, in denen der Ansturm der Perser sich an den gepanzerten Scharen von Schwerter schwingenden Künstlern, Philosophen und Mathematikern bricht, in denen, noch schmerzlicher, der Bruderzwist seine blutigsten Orgien im Peloponnesischen Krieg feiert, in denen schließlich der große abtrünnige Schüler Platons, der Riesengeist und Riesensammler Aristoteles, einen jungen, halbwilden König aus dem verachteten Bergland Makedonien unterrichtet, der dann als Alexander der Große die morschen Kulturstaaten des Ostens und Südens bis ins Fünfstromland Indien und bis an die Grenze Äthiopiens zerschmettert, - in dieser so stürmischen und wahrhaft großen Zeit hat die Philosophie das ihr anvertraute Reinigungswerk der Mathematik vollendet. Gleichzeitig mit den Formwundern eines Phidias, Praxiteles und der großen Dramatik des Aischylos, Sophokles und Euripides.
:Über Platons Akademie soll der Spruch gestanden haben, daß kein der Geometrie Unkundiger eintreten möge. Und im Lyzeum des Aristoteles wurde elementare Mathematik als selbstverständlich vorausgesetzt. Ja, noch mehr: Platon selbst hat die noch heute gültige Forderung aufgestellt, daß Konstruktionen geometrischer Art nur dann kanonisch seien, wenn sie lediglich unter Zuhilfenahme von Lineal und Zirkel ausgeführt würden. Dies bedeutet aber, wie man heute weiß, daß nur Probleme in dieser Art konstruiert werden können, deren arithmetisches Gegenstück nicht höhere als zweitgradige, also höchstens gemischt-quadratische Gleichungen erfordert. Dabei blieb Platon nicht stehen. Er ließ sich von Pythagoreern unterrichten, lernte von Mitschülern, wie Theaitetos, und Zeitgenossen, wie Eudoxos, von denen der Erstgenannte die Theorie des Irrationalen in aller Allgemeinheit ausbaute.
::[<small>Von Eudoxos wird im nächsten Kapitel ausführlich die Rede sein.</small>]
:Und er hatte seine Forderung an den Pforten der Akademie durchaus nicht als Phrase oder Aperçu gemeint. Denn er selbst stellte als erster in der Geschichte der Mathematik die sogenannte „analytische Methode“ in den Vordergrund der Forschung die darin gipfelt, das geometrische Problem als gelöst zu betrachten und davon rückschließend die Eigenschaften der Figuren in ihrer umfassendsten Gesamtheit zu erforschen. Wenn die kosmischen Körper oder die regelmäßigen Vielflache auch platonische Körper heißen, hängt dies Wohl eher mit naturphilosophischen Ausdeutungen und näherer Erforschung dieser Körper als mit ihrer Entdeckung zusammen.
:Nun aber trat, Wie schon erwähnt, nach Platon, dessen Ermahnung an seine Schüler, sich der Mathematik philosophisch und kritisch zu widmen, auf durchaus fruchtbaren Boden gefallen War, der große Stagirite Aristoteles auf den Plan. Und schuf ein Gipfelwerk menschlichen Denkens, dessen Formung er der Mathematik ebensowohl ablauschte, als er es auch wieder zur Richtschnur und Forschungsregel an die Mathematik 'Weitergab. Wir meinen die Begründung der Logik als Wissenschaft, deren erste Geburtswehen uns aus den Platonischen Dialogen in wogendem Leben, in berauschendem Werden noch heute gegenwartsnah erscheinen. Aristoteles, dessen Geist, ungleich dem Geiste Platons, nicht so sehr dem synthetisch Deduktiven als dem Induktiven zuneigte, war Forscher und Sammler zugleich. Und er regte daher nach allen Seiten zu Kompilationen an. Auch auf dem Gebiete der Mathematik. So kam es, daß sein Schüler Eudemos jene wertvolle Geschichte der Mathematik verfaßte, deren durch Proklos erhaltene Bruchstücke als sogenanntes „Mathematikerverzeichnis“ für uns noch heute von unschätzbarem Werte sind.
:Die Stürme der Welteroberung durch Alexander den Großen sind verrauscht. Alexander selbst hat seine Kometenlaufbahn vollendet. Der Osten, den er niedergeworfen, hat ihn ausgehöhlt, entnervt, hat ihm ein frühes Ende bereitet. Und die Diadochen haben untereinander das Erbe der Welt geteilt. Am Zentrum der werdenden Welt, die Wieder in satter Ruhe liegt, in Alexandria, residiert Ptolemäus Soter, der erste griechische König Ägyptens. Noch bleibt Athen Sitz höchster Bildung, noch florieren in edlem Wetteifer die Akademie Platons und die peripatetische Schule des Aristoteles. Auch Großgriechenland ist vorläufig bloß gefährdet, noch nicht aber bedrängt. Das Schwergewicht auch des Geistes jedoch beginnt sich nach Alexandria zu verlegen. Denn dort entstehen unter Ptolemäus II. Philadelphus weite Hallen für den Geist, entsteht das Museion, Forschungsstätte, Bibliothek und Stiftung zugleich. Aller persönlichen Sorgen sind die Gelehrten des Museions enthoben, alle Wissenschaft auch des Ostens und Ägyptens strömt ihnen geheimnislos und willig zu. Und in den Hallen ruhen Tausende und Abertausende von Papyrosrollen, auf denen flinke Abschreiber das gesamte Wissen der bisherigen Weltentwicklung aller Zonen aufgezeichnet haben.
:Durch diese Hallen nun wandelt etwa um 300 vor Christi Geburt ein stiller Mann. Woher er kam, wissen wir nicht. Wir wissen nicht einmal, wann er geboren wurde und wann er starb. Nur einmal hat er als Person in seinem Leben etwas gesagt, das allen Höflingen die Haare zu Berge trieb. Als ihn nämlich sein König Ptolemäus Philadelphus fragte, ob es für den Unterricht oder die Aneignung der Mathematik keinen bequemeren Weg gebe als den der „Elemente“, hat er stolz geantwortet: „Für die Mathematik gibt es keinen Königsweg.“ Ptolemäus Philadelphus dürfte nicht verstimmt gewesen sein. Wahrscheinlich hat er gelacht. Nicht aber aus Gutmütigkeit. Denn die ersten Ptolemäer zeichneten sich in gleicher Art durch skrupelloseste Genußsucht, Verwandtenmorde und ähnliches, doch auch wieder durch ein überschwengliches Mäzenatentum aus. Sie suchten eben ihre Macht sowohl in der Zeitlichkeit als gegenüber der Ewigkeit zu befestigen und gebrauchten auf dem ewigkeitsgewohnten Boden Ägyptens zu diesem Zweck nicht die althergebrachten Pyramiden, sondern die weniger kostspieligen Künstler, Philosophen und Mathematiker. Mit Euklid ist ihnen diese Absicht vortrefflich gelungen. Die schon erwähnten „Elemente“ sind außer der Bibel das meistvervielfältigte Buch des abendländischen Kulturkreises und erlebten nach vorsichtiger Schätzung allein durch Druck über 1500 verschiedene Ausgaben, von denen einige schwindelnd hohe Auflageziffern erreichten.
:Wir sprechen von Büchern. Auch in dieser Beziehung ist seit den Anfängen der hellenischen Mathematik ein großer Wandel eingetreten. Während ein Thales oder ein Pythagoras keinerlei mathematische Schriften hinterließen, wimmelt es jetzt, wenige Jahrhunderte später, von solchen Aufzeichnungen. Ja, es soll sogar eine ganze Reihe von „Elementen“ der Geometrie schon vor Euklid gegeben haben. Wir besitzen aber keine einzige derartige Sammlung. Ist also alles nur ein rein antiquarischhistorischer Zufall? War Euklid nur einer von vielen, dem es ein günstiges Geschick gab, durch innerlich und sachlich gar nicht gerechtfertigte Erhaltung seiner Schriften die Ewigkeit zu erschleichen? Nein, so war dem durchaus nicht! Wieder, wie bei Pythagoras, sprang aus dem Haupt des Zeus eine Pallas Athene in voller Rüstung. Die „Elemente“ Waren so neu, so umfassend, so endgültig, so unangreifbar, daß sie, wie wir heute sagen würden, unmittelbar nach ihrem Erscheinen die größte Sensation erregten. Darum wurden sie überverhältnismäßig vervielfältigt und darum wurden sie so sehr Grundlage des Studiums und Gemeingut aller Gebildeten, daß sie nicht mehr aus dem Geistesleben verschwanden, wenn auch der Erdkreis wankte und neue Völker das Erbe des klassischen Altertums antraten. Euklids Elemente waren eben ein Hauptaktivum dieser Erbschaft.
:Nun haben wir aber bisher bloß äußere Dinge berichtet: eine Biographie Euklids, die aus einer einzigen Anekdote und aus einer vagen Jahreszahl besteht. Und einen Bucherfolg, dessen innere Begründung wir zwar behaupteten, der aber durchaus nicht auf Treu und Glauben als begründet hingenommen werden muß. Daher ist es höchste Zeit, zum Kern der ganzen Angelegenheit vorzustoßen.
:Nicht ohne sehr überlegte Absicht haben wir den Streit der griechischen Philosophen so stark in den Vordergrund gerückt. Die durch all diese unheimlich temperamentvollen und erbitterten Geistesfehden geklärte, gereinigte und doch wieder gewitterschwangere Kulturatmosphäre hellenischen Bereiches verlangte zu Beginn der alexandrinischen Epoche etwas anderes von der „sichersten Wissenschaft“ als gelegentliche verblüffende Problemstellungen und ebenso verblüffende Rätsellösungen. Sie verlangte aber auch eine Beseitigung des „Skandals der Mathematik“, die durch Angriffe von der Art Zenonischer Paradoxien im Ansehen der durch Komödiendichter zum Lachen gereizten Volksmassen nicht gerade gestiegen war. Dies aber um so mehr, als es sich bei der Mathematik um ein N ationalheiligtum handelte, um einen Beweis des Menschseins, der höheren Kultur und Zivilisation. Wodurch nun sollte diese Riesenaufgabe bewältigt werden? Es gab hierzu wohl nur den durch die Logik des Aristoteles vorgezeichneten Weg. Und dieser hieß: Gesamtaufbau einer echten Wissenschaft durch strengste Systematik. Nicht etwa durch die künstliche Bemühung originalitätslüsterner Sammler und Gelehrten, die Mathematik so behandeln würden wie ein Raritätenkabinett mit äußerlich aufgepfropfter Einteilung. Nein, aus den tiefsten ersten Wurzeln, aus den Sockelquadern mußte alles Schritt für Schritt sich vor dem Weisheitsliebenden aufbauen und eine Wahrheit mußte zwingend aus der anderen folgen. Zur Analysis im Sinne Platons blieb später Zeit. Zuerst mußte, rein deduktiv, die Synthesis, das stufenweise Aufeinandertürmen der mathematischen Erkenntnisse geleistet werden.
:Euklid hat diese allen früheren aussichtslos scheinende Riesenaufgabe in einer Art bewältigt, daß sein Bau durch Jahrtausende aller Kritik standhielt, sofern sie nicht bloß schlechter Laune entsprang wie die Einwürfe Schopenhauers und zudem noch, wie alle solche Einwürfe, an tiefem Mißverständnis der eigentlichen mathematischen Zielsetzung krankte. Und Euklid hat diese Aufgabe derart bewältigt, daß ihn erst die geistige Entwicklung der letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts erreichte und sein Werk verallgemeinern konnte, wobei sie ihn durch diese Verallgemeinerung eher rechtfertigte als angriff. Kurz, man könnte als Motto über die Elemente Euklids einen Buchtitel schreiben, den Pater Saccheri, der Vorreiter der nichteuklidischen Geometrien, allerdings in etwas anderem Sinne, seinem Buche gab: „Euclides ab omni naevo vindicatus.“ Zu deutsch: „Euk1id, von allem Makel gereinigt.“
:Dabei sei nur nebenhin erwähnt, daß Euklid Gründer und erstes Schulhaupt der großen Mathematikerschule Alexandrias war; daß er noch andere großartige Werke, wie die Porismen und die Data, außerdem ein Buch über Kegelschnitte und anderes mehr verfaßte; und daß ihm unstreitig der Rang eines ganz großen Mathematikers gebührt, auch was seine höchstpersönlichen Entdeckerleistungen betrifft. Es soll nämlich durchaus nicht den Anschein haben, als ob er bloß Sammler und Systematiker gewesen Wäre, obgleich ihn auch diese Leistung allein unsterblich machen müßte, da sie die Konzeption der gesamten Mathematik betrifft.
:Nun wollen wir aber doch des lebendigeren Einblicks wegen die „Elemente“ flüchtig durchblättern. Sie heißen in griechischer Sprache „Stoicheia“ und sind in dreizehn Bücher eingeteilt. An ihrer Spitze steht das weltberühmte euklidische „Axiomensystem“, die Zusammenfassung der sogenannten Erklärungen, Forderungen und Grundsätze. Man hat diese einzelnen Gruppen auch als Definitionen, Postulate und Axiome bezeichnet und viel darüber diskutiert, wodurch sie sich voneinander unterscheiden. Sicherlich sind die Axiome oder Grundsätze nichts anderes als allgemeine oder allgemeingültige oder allen Menschen gemeinsame Einsichten, die nicht bewiesen zu werden brauchen, auch gar nicht bewiesen werden können. Jeder, auch der verwickeltste Beweis muß endlich bei diesen Axiomen als letzten Beweisgründen landen, muß auf sie als letzte Instanzen stoßen. Daß das Ganze größer als sein Teil sei (Axiom 9) oder daß zwei gerade Linien niemals einen Raum (Fläche) einschließen könnten (Axiom 12), muß ebenso jeder mathematischen oder geometrischen Bemühung irgendwie zugrunde liegen Wie etwa die Forderung 2, daß man eine begrenzte gerade Linie stetig gerade verlängern könne und daß es möglich sei, aus jedem Mittelpunkt, mit welchem Radius immer, einen Kreis zu konstruieren (Postulat 3). Ebenso setzt die ganze Geometrie rein definitorisch voraus, daß ein Punkt keine Teile (Definition 1) und eine Linie nur eine Länge ohne Breite besitze (Definition 2) oder daß ein mit seinem Nebenwinkel spiegelbildlich gleicher Winkel ein rechter Winkel sei (Definition 10).
:Aus diesem Minimum von 35 Definitionen, 3 Postulaten und 12 Axiomen [<small>Nach neuester Lesart gibt es 23 Definitionen, 5 Postulate und 8 Axiome, ohne daß diese erschiebung der Einteilung das Wesen der Sache ändert.</small>] nun baut Euklid, wie schon erwähnt, die ganze Mathematik auf, wobei er im späteren Verlauf der Darstellung noch eine große Anzahl von Definitionen, jedoch keine Postulate und Axiome mehr hinzufügt.
:Das erste Buch nun handelt von Dreiecken, Parallellinien und Parallelogrammen und schließt mit dem klassischen euklidischen Beweis des Pythagoreischen Lehrsatzes. Dazu wollen wir bemerken, daß die noch heute übliche Beweisform, bestehend aus Behauptung, Beweis und Schlußformel („was zu beweisen war“) bei Euklid erstmalig konsequent auftritt. Bei Konstruktionen heißt es am Schluß: „Was zu konstruieren war.“ Das zweite Buch wendet den „Magister Matheseos“ (wie der Lehrsatz des Pythagoras später genannt wurde) in ausgedehntester Weise an und enthalt durch seine zahlreichen Verwandlungsaufgaben eigentlich eine „geometrische Algebra“, wie wir sie bereits bei den Pythagoreern kennenlernten. Die weiteren planimetrischen Bücher ,drei und vier behandeln die Kreislehre, die Sehnen- und die Tangentenvielecke und schließen mit dem fünften Buch, das die Proportionenlehre bringt, und dem sechsten, das die Ähnlichkeit der Figuren erörtert, den ersten Teil des Werkes ab. Hervorzuheben ist die ungeheure Verallgemeinerung, die alle bisherigen Lehrsatze durch Euklid erfahren haben. Wir können uns nicht in Einzelheiten verlieren, wollen es aber doch nicht unterlassen, auf den 31. Satz des sechsten Buches zu verweisen, der ganz allgemein die Behauptung aufstellt, daß die Summe ähnlicher Gebilde über den beiden Katheten stets gleich sei einer analogen ähnlichen Figur über der Hypotenuse. Dieser ganz allgemeine, bei Euklid auf zwei Wegen bewíesene Satz ist wohl eine sehr umfassende Folgerung, die aus dem Pythagorassatz hervorgeht. Es war damit etwa bewiesen, daß die Summe zweier aus Kreisen gebildeten „Möndchen“) über den Katheten flachengleich sei dem Möndchen über der Hypotenuse.
:Ist nun diese Verbreiterung des planimetrischen Wissens bei Euklid erstaunlich, so setzen uns die folgenden Bücher sieben bis zehn vielleicht in noch größere Verwunderung. Was sich da vor uns aufbaut, ist nichts weniger als eine umfassende Zahlentheorie, begonnen vom Unterschied der Primzahlen und zusammengesetzten Zahlen über gemeinsames Maß und gemeinsames Vielfaches, über einen Beweis von der unendlichen Menge der Primzahlen bis zu einer durchgebildeten Theorie des Irrationalen und des Inkommensurablen. Ein neuerer Forscher, Nesselmann, erklart, daß man über das in den Elementen bezüglich höherer Irrationalitaten Erreichte durch volle achtzehnhundert Jahre nicht hinauskommen konnte, was begreiflich ist, wenn man bedenkt, daß Euklid mit Ausdrücken vom Typus
:<math> \sqrt { \frac{1}{2} \sqrt{a \pm b } ( \sqrt{a} \pm \sqrt{b} ) } </math>
:allerlei Umformungen ohne eigentliche algebraische Schreibweise, also vorwiegend geometrisch, vornehmen mußte. Dieses Zeugnis Nesselmanns diene zur schlagenden Widerlegung des weitverbreiteten Irrtums, daß Spitzengeister früherer Epochen etwa naiv waren, nur weil sie einige Jahrtausende vor uns lebten oder weil sie vielleicht ganz andere Dinge wollten als wir Heutigen.
:Nachdem nun Euklid die Zahlentheorie erledigt hat, begibt er sich in den Büchern elf bis dreizehn auf das Gebiet der räumlichen Geometrie und baut sie ebenfalls in synthetischer Art auf. Er hat sie allerdings nicht so erschöpfend behandelt wie die ebene Geometrie, ein Umstand, der bis in den Unterricht der Gegenwart nachwirkt. Gleichwohl sind auch auf stereometrischem Gebiet seine Leistungen erstaunlich genug, und er verwendet bei krummflächigen Gebilden, wie bei der Kugel, bereits Methoden der Rechnung mit dem Unendlichen (Infinitesimalmathematik) in Form des sogenannten Exhaustionsbeweises. Doch darüber wollen wir im nächsten Kapitel sprechen. Daß nach Ansicht einiger Kompilatoren des Altertums der Endzweck und die Krönung des Euklidischen Werkes die Untersuchung der kosmischen Körper (der regelmäßigen Polyeder) gewesen sei, mag nebenbei erwähnt werden. Tatsache ist es, daß bei Euklid schon ein zwingender Beweis dafür auftritt, daß es nur fünf reguläre Vielflache geben könne (als Anmerkung zum 18. Satz des dreizehnten Buches), was in sehr eleganter Art demonstriert wird. Nun sagt derselbe uns schon sattsam bekannte Proklos, der aus der angeblichen Zugehörigkeit Euklids zur Platonischen Philosophie auf das Endziel der Elemente (die platonischen Vielflache) geschlossen hat, an einer andern Stelle viel plausibler, daß „Elemente“ alle Dinge genannt würden, „deren Theorie hindurchdringt zum Verstehen der andern Dinge und von denen aus uns die Lösung der Schwierigkeiten dieser andern Dinge gelingen würde“. Kurz gesagt, wir sollen durch die Elemente befähigt werden, alle andern Dinge der Mathematik zu meistern. Die Elemente sind somit nicht ein „Königsweg“, wohl aber die einzige breite Heeresstraße, die über Berg und Tal zur Mathematik führt. Und es ergibt sich nach Euklid der dreistufige Aufbau der Mathematik als Axiomatik, als Untersuchung der Elementarsatze und als weitere Mathematik, deren Gebiet einleuchtenderweise weder begrenzt noch eingeengt werden kann. Somit wäre also durch Euklid der Unterbau der Mathematik für alle Ewigkeit gelegt worden und wir dürften konsequenterweise sein Werk nur ausweiten, niemals jedoch auf andere Fundamente stellen. So dachte noch ein Immanuel Kant in seiner berühmten Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ vom Jahre 1787. Es war die Herrschaft der „euklidischen“ Welt, der „euklidischen“ Mathematik, die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nicht angezweifelt wurde, wenn auch eines der Axiome (je nach Lesart Axiom 11 oder Postulat 5) selbst den alten Griechen viel Kopfzerbrechen verursachte. Moderne Mathematiker hohen Ranges, die einzigen sicherlich, die sich in die Psyche Euklids voll hineindenken können, behaupten sogar, daß Euklid selbst dieses Axiom nur unter großen Gewissensbissen hingeschrieben haben dürfte. Es lautet: „Wenn eine Gerade zwei andere Gerade trifft und mit ihnen auf derselben Seite innere Winkel bildet, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind, sollen jene beiden Geraden, ins Unendliche verlängert, auf der Seite zusammentreffen, auf der die Winkel liegen, die kleiner als zwei Rechte sind.“
:Wir wissen aus der Schule, daß der größte Teil unserer Geometrie mit diesem Grundsatz steht und fallt. Denn etwa die Tatsache, daß die Winkel eines Dreiecks die Summe von 180 Graden oder zwei Rechten haben, ist ohne das Parallelenaxiom schlechterdings unbeweisbar. Und es hätten schon die alten Griechen, die mit Kugeldreiecken sehr geschickt umgingen, bemerken können, daß .tatsächlich auf der Kugel, auf der es nur einander schneidende „Gerade“ (die Größtkreise) gibt, die Winkelsumme stets von 180 Graden verschieden ist, wobei sie diese 180 Grade ausnahmslos übertrifft.
:[<small>Unter „Gerader“ auf der Kugel muß man die kürzeste Verbindung zweier Punkte, also den Größtkreis verstehen, falls man die Kugelfläche nicht verläßt. Zu solcher Verallgemeinerung sind die alten Griechen jedoch nicht vorgedrungen.</small>]
:Aber zurück in die euklidische Welt! Für unsren Standpunkt in Raum und Zeit - das Alexandria des 4. und 3. vorchristlichen Jahrhunderts - ist Mathematik zum erstenmal durch Euklid vollgültig gegen alle Gefahren philosophischer Zersetzung gesichert worden. Neugeboren steht unsre Wissenschaft vor den erstaunten Augen der Welt schlackenlos da. Der Weg unbegrenzten Aufstieges ist geebnet, der Bau wolkenhoher Türme ermöglicht, da die Fundamente tief verwurzelt sind im unentrinnbaren Urgesetz des Denkens, der Logik, und zugleich im Gesetz der reinen Anschauung, im dreidimensionalen „euklidischen“ Raum.