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== MOMENTAN LEER ==
:Geschichte der Mathematik (Teil 6)
 
 
== 6 ==
 
:'''Sechstes Kapitel'''
:---
:'''ALGHWARIZMI'''
:Mathematik als Denkmaschine
:---
:Unser Zauberteppich hat uns jetzt in Gefilde zu tragen, aus denen er stammt. Wir befinden uns plötzlich mitten in der Welt der Tausend-und-eine-Nacht-Märchen, in der Stadt der großen Kalifen Almansur, Harun al Raschid und Almamun. Die Stadt heißt Bagdad und die traumschnell aufblühende Kultur, die sie umschließt, ist jetzt, an der Wende des achten und neunten nachchristlichen Jahrhunderts, kaum mehr als ein Säkulum alt. Denn erst nach den Stürmen der Völkerwanderung hat die Bindekraft des Islams aus bisher schweifenden, unbeachteten Nomaden, die irgendwo in der Wüste in Sternennächten einander Märchen erzählt hatten, ein mächtiges und geachtetes Kulturvolk geschmiedet.
:Im Abendland ist alles verändert: Merowinger, Karolinger, Pippin, Karl der Große. Die Pforten der letzten halbleeren und vom Geist längst verlassenen Philosophenschulen sind schon im sechsten Jahrhundert nach Christi Geburt endgültig geschlossen worden, und die alexandrinischen Bibliotheken sind ausgeplündert und niedergebrannt. Entartetes Hellenentum lebt noch, so starr wie Goldmosaik, in einem Reich, das voll ist von Tücke, Grausamkeit, Wollust und Halbbildung: in Byzanz.
:Noch vor diesem Untergang der klassischen Kultur erhoben sich zwei Mathematiker zu höherem geometrischen Flug. Aber auch sie waren nicht epochal, sondern vorwiegend sammelnd und rückschauend, obgleich beiden ein geniales Format nicht abgesprochen werden soll. Es waren Pappos und Proklos Diadochos. Eine Geschichte der Mathematik muß sich mit beiden befassen, da sie durchaus nicht eigener Gestaltung entbehrten. Die Geschichte würde auch den Arithmetiker Theon von Alexandrien und seine unglückliche Tochter Hypatia erwähnen, die als einzige Frau seit den Anfängen unsrer Wissenschaft in der Geschichte der Mathematik einen Platz verdient. Kaiser Julian der Abtrünnige hatte den Philosophenschulen Schutz gegen das von allen Seiten vordringende Christentum gewährt und die gebildeteren Stände waren noch durchaus nicht bekehrt. Auch Jahrzehnte nach dem Tode J ulians nicht. Hypatia war Heidin, stand aber wegen ihres hohen wissenschaftlichen Ranges gleichwohl in großem Ansehen beim Bischof Synesios von Ptolemais. Auch der kaiserliche Präfekt Orestes von Alexandria war ihr wohlgesinnt. Nun begab es sich, daß eben dieser Prafekt hierarchische Ansprüche des Bischofs Cyrillos zurückwies. Man verdächtigte Hypatia der Einflußnahme auf den Präfekten. Und eine Pöbelmenge riß sie in Stücke. Es war derselbe Großstadtmob Alexandriens, der etwa 20 Jahre früher, unter dem Deckmantel religiöser Gesinnung, nach dem Befehl des Theodosius, alle Tempel der Heiden zu zerstören, in blindem Plünderungstrieb den Serapistempel, die letzte Zufluchtsstätte der alexandrinischen Bibliothek, eingeäschert und bis zu den Grundmauern niedergerissen hatte.
:Wie ein Symbol wirkt der Tod der Hypatia und diese Selbstzertrümmerung der Reste einer Zeit ungeheuerster Geistesgröße. An eben dieser Stelle des geistigen Kosmos aber setzt das unvergangliche Verdienst der Araber ein. Unser Zauberteppich trägt uns zurück, wir sind wieder am Hof der Kalifen, an dem nicht bloß Scheherezaden in Gunst standen. Die arabische Kultur war eine durchaus männliche Kultur und daher der Mathematik besonders zugewandt. Mit wahrem Feuereifer, mit dem Fanatismus des eben erst arrivierten Volkes, wird das Erbe von Hellas in Form von Manuskripten gesammelt. Aber nicht nur hellenische Papyri haben hohen Wert in Bagdad. Auch die neupersischen Pehlewitexte und die Sanskrittexte beginnen die Bibliotheken zu füllen, und ein Heer von Übersetzern müht sich damit ab, Euklid, Archimedes, Menelaos, Pappos und insbesondere die „Syntaxis“ des Ptolemäus ins Arabische zu übertragen, die von da an durch Jahrhunderte nur mehr „das Almagest“ genannt wird. Der Lehrgang in den Schulen - denn Mathematik wird Allgemeingut - beginnt mit Euklid und endet mit dem Almagest. Dabei aber spiegelt sich die Wissenschaft als solche in der Seele eines anders gearteten Volkes, in einer mathematisch und logisch sehr begabten Psyche, deren Hauptmerkmal jedoch die von Oswald Spengler so genannte „magische“ Richtung war.
:Hatte man sich im Griechentum, Harmonie suchend, im äußeren Anschauungsraum getummelt, so erstrebt die magische Seele gleichsam die Strukturierung des Denkraumes. Etwas unglaublich Kühles, dabei jedoch Glitzerndes legt sich über diese Welt. Alle Bilder und Begriffe, alle Architektonik und Formulierung wird scharf, wie eine mit kleinster Blende aufgenommene und hart kopierte Photographie. Und es ist kein Gegensatz zu dieser Geisteshaltung, wenn das Gemüt nebenher in üppigen Märchen Zuflucht sucht. Denn auch durch Aladins Wunderlampe gelangen wir schließlich in Gärten, in denen geschliffene Edelsteine an den Bäumen hängen. Plastik und Malerei aber fehlen in dieser Kultur. Das irrational Lebendige ist verbannt. Zumindest aus dem Anschauungsraum vertrieben und in seinen Resten ins Innerste, in die Bereiche der Phantasie und des Zaubers zurückgedrängt.
:Wir haben das Wort „Zauber“ ausgesprochen. Die Bedeutung des Magischen liegt nämlich nicht bloß in der rationalen Geschlossenheit des Weltbildes, besser des Weltdenkens, sondern hat dazu noch einen polaren dunklen Begleiter. Wo sich nämlich die Anschauung aufzulösen beginnt, dort steht hinter der Form das Chaos. Wo sich dagegen die ratio, die bewußte Tätigkeit, in den Schatten verliert, dort lauert der Wahnsinn, das Schauderhafte, der Zauber. Derselbe Zauber, der wieder nichts anderes ist als die halbvergebliche Mühe, das Reich des Verstandes, über seine Grenzen hinaus, ins Unerforschte vorzutreiben.
:Die Mathematik aber bot seit jeher diesem kabbalistisch-magischen Bemühen allerlei Vorschub. Jeder, der sich tiefer in sie versenkt, wird durch ihre eigentümliche Erkenntnishilfe überrascht und erschreckt zu gleicher Zeit. Denn nur Mathematik ist die „vera cabbala“, wie sie Leibniz ein Jahrtausend später genannt hat. Ihre Ergebnisse springen oft unvermutet aus dem Innersten des Menschen hervor, so daß schon der große Platon diesen Vorgang nicht anders deuten konnte denn als „Anamnesis“, Rückerinnerung. Sodaß der Unterricht in Mathematik nichts anderes bedeutet als Wiedererweckung eines gleichsam angeborenen Gedankengutes. Aber nicht bloß dieses Emporschießen von Zusammenhängen bei längerer passiver Betrachtung, das jeder Geometer kennt, dieser Zustand, bei dem ganze Figurengruppen sich gleichsam zu bewegen, zu schichten, zu ordnen beginnen, um schließlich Ungeahntes zu offenbaren, ist ein Zauber. Ebenso kabbalistisch ist die Führung, die das Werkzeug der Arithmetik und Algebra plötzlich an sich reißt, wodurch es sich als richtigen Zauberlehrling erweist. Und diese Führung durch das Werkzeug selbst leitet uns oft über Abgründe, in die niemals ein Gedanke dringt und deren Boden auch ein Gedanke niemals erblicken kann. Die höchste aller kabbalistischen Künste aber ist der durch richtige Notation entstandene Algorithmus, ist die Denkmaschine der Arithmetik und Algebra mit all ihrem Symbolzauber.
:Woher das Wort Algorithmus stammt, wußte man bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein nicht, obgleich er seit Leibniz in allgemeiner Verwendung stand. Man dachte an eine Verstümmelung des Ausdruckes Logarithmus, sicherlich aber an einen Zusammenhang mit „Arithmos“ (Zahl). Erst die Orientalisten klärten das Rätsel, beseitigten auch den Irrglauben, daß Algoritmi ein indischer, sagenhafter, zauberkundiger König gewesen sei. Er war vielmehr ein höchst lebendiger Mensch, ein großer Mathematiker der Kalifenzeit, lebte um 800 nach Christi Geburt und hieß Muhammed ibn Musa Alchwarizmi. Dieser Beiname Alchwarizmi bedeutet aber bloß, daß er aus der ostpersischen Provinz Khorassan (später Khanat Chiwa) stammte. Muhammed Alchwarizmi verfaßte nun zwischen 800 und 825 zwei mathematische Werke, deren eines ein Rechenbuch ist und in der lateinischen Übersetzung mit den Worten „Algoritmi dicit“ („also sagt Alchwarizmi“) beginnt. Das zweite Werk aber ist eine geniale Algebra mit dem Titel „Aldschebr Walmukabala“, was etwa „Einrichtung-Gegenüberstellung“ heißt und bedeutet, daß eine Gleichung „eingerichtet“ ist, wenn sie nur mehr positive Glieder enthält. „Gegenüberstellung“ aber ist das weglassen oder Subtrahieren gleicher Größen auf beiden Seiten der Gleichung. Nun hat sich, nach Günther, das Wort Algebrista in Spanien unter maurischem Einfluß bis auf Cervantes erhalten, da der „Spiegelritter“, den Don Quixote vom Pferde geworfen hat, einem Algebrista (einem Einrichter) zum Einrenken der Glieder übergeben wird.
:Und es ist der wunderlichste Zufall der Wissenschaftsgeschichte, daß unser Alchwarizmi zu verschiedenen Zeitpunkten gleich zweimal kategorial verewigt wurde. Der Titel seines Werkes lieferte die Gattungsbezeichnung für die Buchstabenrechnung und für alle sich daran schließenden Formenlehren; wobei Alchwarizmi selbst, wie wir sehen werden, von einer Algebra dritter Stufe, also von der Buchstabenrechnung, keine Ahnung hatte. Er steht vielmehr durchwegs auf der ersten, Wortalgebraischen Stufe. Sein verballhornter Beiname aber wurde zur Gattungsbezeichnung für einen der tiefsten und umfassendsten Begriffe, die die Mathematik kennt, zum „Algorithmus“, was ungefähr dasselbe wäre, als ob spätere Jahrtausende irgendeine mathematische Kategorie nach Gauß „Braunschweiger“ nennen würden.
:Um diese Bezeichnung und den ganzen Inhalt des Begriffes Algorithmus (früher sagte man auch Algorismus) voll würdigen zu können, müssen wir zuerst einmal sehen, wo das Wort zum erstenmal auftritt, und müssen dann sofort als echte Besucher Bagdads den Zauberteppich besteigen, der uns diesmal nicht aus dem Märchenbereich von Tausend-und-einer-N acht hinausführen wird. Wir verrieten schon, wo das Wort zum erstenmal vorkommt. Nämlich als Anfang eines Rechenbuches. Was nun enthält dieses Rechenbuch? Etwas für uns vollkommen Entzaubertes, Selbstverständliches: die sogenannten Species, die Rechnungsoperationen, die jedes Kind in der Volksschule lernt. Dazu noch zwei inzwischen aus der Übung gekommene Operationen des Verdoppelns und des Halbierens, deren Ursprung sich vielleicht rein sprachlich aus den Formen des Duals (der Zweizahl) herleitet, den es als Ergänzung der Einzahl (Singularis) und Mehrzahl (Pluralis) sowohl im Sanskrit als etwa im Altgriechischen gab. Gut, uns sind diese Rechnungsarten selbstverständlich, aber dies nur aus einem Grund, der gerade ihren Zauber ausmacht. Sie beruhen nämlich, und dies der Kernpunkt, auf dem durchsichtigsten und vollkommensten System, das in der Geschichte des Geistes bisher geschaffen wurde: auf dem Stellenwertsystem oder Positionssystem der Ziffernschreibung. Die Tatsache, daß man mit zehn Begriffssymbolen, die von jeder Sprache unabhängig sind, alle Zahlen vom denkbar kleinsten Systembruch bis zu der sich im Nebel des Unendlichgroßen verlierenden astronomischen und überastronomischen Zahl mühelos und irrtumsfrei, eindeutig und allgemeinverständlich anschreiben kann, hat im geistigen Kosmos nicht ihresgleichen. Von allen Wissenschaften besitzt nur noch höchstens die Chemie ein annähernd so ehernes und scharfes Werkzeug in ihrer Symbolik der Elemente, dessen Gültigkeit und Vollständigkeit jedoch jederzeit von einer Erkenntnisrevolution zertrümmert werden kann, was bei der Ziffernschrift unmöglich ist. Damit ist aber die Zauberkraft des Stellenwertsystems, das natürlich nicht einmal gerade ein dekadisches sein müßte, noch durchaus nicht erschöpft. Es gebiert gleichsam fortzeugend Gutes. Und es ermöglicht etwa zum erstenmal eine im wahrsten Sinne kinderleichte Handhabung auch sehr verwickelter Rechnungsoperationen und eine Fülle von im System selbst begründeten Proben und Kontrollen. Damit wird es zur ersten wirklichen Denkmaschine, deren Bedienung, wie gesagt, jeder Elementarschüler kennt, deren tiefere Struktur und deren Zahnräderwerk aber durchaus nicht so einfach ist, wie es sich der Laie vorzustellen versucht ist. Ein solcher „Durchschauer“ müßte zuerst einmal bei Gauß in die Lehre gehen und etwas von „Rest-Modul-Systemen“ oder Primzahlforschungen in Sich aufnehmen. Doch das nur nebenbei.
:Unserem Alchwarizmi also fiel die historische Aufgabe zu, das indische dekadische Stellenwertsystem in einem Rechenbuch zusammenzufassen, worauf er oder ein Übersetzer seinen Herkunftsnamen „Algoritmi“ an die Spitze stellte.
:Wir wollen aber jetzt dieses erste an uns herantretende Beispiel eines Algorithmus, und zwar den vollkommensten aller Algorithmen, ein wenig näher prüfen, um uns ein richtiges Bild über das Geleistete und über den Anteil der einzelnen Kulturen an dieser Epoche zu bilden.
:Seit den bahnbrechenden und verdienstvollen Forschungen des englischen Kolonialbeamten Colebrooke, der 1816 zum erstenmal die indische Mathematik ins richtige Licht stellte und auf dessen Arbeiten dann die weitere Forschung nicht nur des Abendlandes, sondern auch der autochthonen Forscher Indiens selbst weiterbaute, weiß man, daß die alten Inder in mehr als einer Art zur Entwicklung der Mathematik beigetragen haben. Ihre mit ausschweifender, zügelloser Phantastik gemischte mathematische Begabung befähigte sie zu großen Entdeckungen, deren größte eben das Stellenwertsystem ist. Gewiß, sie hatten auch bedeutende Algebraiker wie Aryabhatta (476 nach Christi Geburt), Brahmagupta (7. Jahrhundert nach Christi Geburt) und Bhaskara (12. Jahrhundert nach Christi Geburt). Sie entdeckten selbständig die ganzzahlige Lösung unbestimmter Gleichungen und drangen bis zur Algebra dritter Stufe, also bis zur reinen Symbolschreibung, vor. Ihr Werk aber blieb mit Ausnahme der Zahlenschreibung abseits von der allgemeinen Entwicklung und hat daher in unsrem Sinne nicht den Charakter des Epochehaften, sondern eher des Episodischen. Daran änderte es auch nichts, daß Bhaskara den Grenzwert von <math> \textstyle \frac{a}{0}</math> richtig einschätzt und sagt: „Je mehr der Divisor verkleinert wird, um desto mehr wird der Quotient vergrößert. Wird der Divisor aufs äußerste verkleinert, so vergrößert sich der Quotient aufs äußerste. Aber solange noch angegeben werden kann, er sei so und so groß, ist er noch nicht aufs äußerste vergrößert; denn man kann alsdann eine noch größere Zahl angeben. Der Quotient ist also von unbestimmbarer Größe und wird mit Recht unendlich genannt.“
::[<small>Wenn der Divisor allerkleinst, also 0 ist.</small>]
:Wenn solche reife Erkenntnisse des Infinitesimalen aus dem Zauberland des Meditierens, aus indischen Schulen, damals schon ins Abendland gelangt und in die geeigneten Hände gekommen wären, hätte sich wahrscheinlich die Weltgeschichte anders entwickelt. Aber es begab sich eben anders. Und das Abendland erfuhr auch bis zum 19. Jahrhundert nichts davon, daß Brahmagupta mehrere Unbekannte durch Farbenbezeichnungen unterschied, wie denn die indische Algebra überhaupt in ihrer Einkleidung sehr poetisch war. So sagt Bhaskara in seinem „Lilavati“ überschriebenen Kapitel über die Rechenkunst: „Schönes Mädchen mit den glitzernden Augen, sage mir, so du die richtige Kunst der Umkehrung verstehst, welches ist die Zahl, die mit 3 vervielfacht, sodann um <math>\textstyle \frac{3}{4}</math> des Produktes vermehrt, durch 7 geteilt, um ein Drittel des Quotienten vermindert, mit sich selbst vervielfacht, um 52 vermindert, durch Ausziehung der Quadratwurzel, Addition von 8 und Division durch 10 die Zahl 2 hervorbringt.“ Falls diese Lilavati ein wirkliches schönes Mädchen und nicht bloß, wie einige Historiker annehmen, die allegorische Darstellung der herrlichen Rechenkunst selbst war, dann dürften sich, auch wenn sie die „Methode der Umkehrung“ verstand, ihre glitzernden Augen ein wenig getrübt haben, bevor sie wußte, daß der Gang der Rechnung
:<math> (2 \cdot 10 - 8)^2 + 52 = 196 </math>
:<math>\sqrt{196} = 14</math> und
:<math>(14 \cdot 1\frac{1}{2} \cdot 7 \cdot \frac{4}{7}) : 3 = 28</math> lautete,
:da alle in Worten angegebenen Rechnungsoperationen gerade umgekehrt angesetzt werden mußten. Denn <math>28 \cdot 3 = 84</math>. Dazu <math> \textstyle \frac{3}{4} </math> von 84, also 63, ergibt 147.
:Diese 147 durch 7 sind 21, davon <math> \textstyle \frac{1}{3} </math> ab macht 14, das, mit sich selbst vervielfacht, 196 ergibt.
:Subtraktion von 52 vermindert l96 auf 144, dessen Quadratwurzel 12 ist. Wenn man hierzu 8 addiert, also 20 erhält, und dies durch 10 dividiert, resultiert tatsächlich 2, wie es verlangt war. Noch poetischer erscheint uns die Aufgabe: „Von einem Schwarm Bienen läßt <math> \textstyle \frac{1}{5} </math> sich auf einer Kadambablüte, <math> \textstyle \frac{1}{3} </math> auf der Silindhablume nieder. Der dreifache Unterschied der beiden Zahlen flog nach den Blüten einer Kutuja, eine Biene blieb übrig, die in der Luft hin und her schwebte, gleichzeitig angezogen durch den lieblichen Duft einer Jasmine und eines Pandamus. Sage mir, reizendes Weib, die Anzahl der Bienen“. Es handelt sich dabei nicht um einen großen Bienenschwarm. Wenn wir ihn <math> x </math> nennen, so ist
:<math> \textstyle x = \frac{x}{5} + \frac{x}{3} + (\frac{x}{3} - \frac{x}{5})3 + 1 </math>
:oder
:<math> 3x + 5x + 6x + 15 = l5x </math>
:oder
:<math> x = 15 </math>
:Doch diese Beispiele nur nebenbei. Wir müssen jetzt zum Algorithmus des indischen Positionssystems zurückkehren. Daß es eine indische Entdeckung ist, unterliegt heute keinem Zweifel mehr, wenn auch die Zeit der Entstehung des Systems nicht genau bekannt ist. Vor der Zeit des Alchwarizmi aber war es sicherlich schon hoch ausgebildet. Nun beschränkt sich aber, wie schon gesagt, die Bedeutung des Stellenwertsystems durchaus nicht darauf, eine bequeme Zahlenschreibung zu ermöglichen. Das spezifisch „Algorithmische“ daran ist seine Fähigkeit, die Rechnungsoperationen, gleichsam zwangsläufig, in einer bis dahin unerreichten Einfachheit zuzulassen; was sich wieder insbesondere bei der Multiplikation und bei der Division geltend macht. Wir können uns hier nicht ins theoretische Detail verlieren.
:Wir merken bloß an, daß das Stellenwertsystem eigentlich nichts anderes ist als eine fallende Potenzreihe der Form
:<math> a_0g^n + a_1g^{n-1} + ... + a_{n-2}g^2 + a_{n-1}g^1 + a_ng^0</math>
:wobei <math> a_0 </math> bis <math> a_n </math> an die Koeffizienten und <math> g^0 </math> bis <math> g^n </math> die Potenzen der Grundzahl <math> g </math> sind. Also beim Zehnersystem <math> g^0 = 10^0 = 1 </math> bis <math> g^n = 10^n </math>. Nun werden bloß die Koeffizienten nach dem Grundsatz der Größenfolge geschrieben und die „Stelle“ zeigt an, mit welcher Potenz der Grundzahl der Koeffizient zu multiplizieren ist. In der Zahl 3457 ist die 3 tausendmal so groß als in der Zahl 72.553. Daher kann man für alle Fälle mit 10 Zeichen auskommen, wozu allerdings auch die sogenannte Null gehört, deren Erfindung am spàltesten erfolgte und die im Indischen „das Leere“ (sunga) heißt. Erst diese Null schließt das System, indem sie das Fehlen von Grundzahlenpotenzen, bzw. das Vorhandensein von N ullkoeffizienten anzeigt. Gerade die Null aber ist eine echt indische Entdeckung, ebenso wie die Benennung der Stufenzahlen (10, 100, 1000 usw.) bis <math> 10^29 </math> mit eigenen Wörtern. Die Null nun wurde, wahrscheinlich in Ägypten, von den Arabern als „as sifr“ bezeichnet, was eine Übersetzung für das indische „das Leere“ ist. Aus diesem Wort aber entsprang wieder die Bezeichnungen chiffre und Ziffer, und Zero für die Null.
:Wir sprachen von der algorithmischen Eignung der neuen Positionsarithmetik. Gewiß, auch die Griechen multiplizierten und dividierten. Ebenso die Römer. Sie mußten aber, etwa bei der Multiplikation, die Teilprodukte nach dem distributiven Gesetz wirklich bilden und diese Teilprodukte dann addieren, als ob es sich um Polynome (Mehrgliederausdrücke) gehandelt hätte. Die Zahlen 320 und 47 wurden multipliziert als
:<math> (300 \times 40) + (20 \times 40) </math> <math>+ (300 \times 7) + (20 \times 7) </math> <math>= 12000 + 800 + 2100 + 140 </math> <math>= 15.040. </math>
:Wir haben absichtlich ein simples Beispiel gewählt, das durch die Null am Schluß von 320 noch vereinfacht wird, da dies zwei Teilprodukte erspart. Man stelle sich aber etwa diese Art Multiplikation von 932.581 und 764.822 vor, oder gar noch eine Verbindung mit Brüchen, die ja bloß in der Form gemeiner Brüche existierten. Es wird dadurch verständlich, daß später gesagt wurde, eine etwas größere Multiplikation (von der Division ganz zu schweigen), die heute jeder Volksschüler bewältigt, sei damals eine Aufgabe für erstrangige Mathematiker und Rechenvirtuosen gewesen.
:Die Inder dagegen erkannten bald nach der vollständigen Ausbildung des Stellenwertsystems die eben in diesem System liegenden algorithmischen Vorzüge und Möglichkeiten.
 
 
 
:<br style="clear:both;" />
 
 
 
:Als Beispiel dafür, wie sie die Rechenoperationen anfaßten, geben wir eine ihrer Multiplikationsmethoden, die den Namen „die Blitzartige“ führte. Man schrieb die zu multiplizierenden Zahlen an den Rand eines Quadrates oder Rechtecks, je nachdem, ob die zu multiplizierenden Zahlen gleiche oder ungleiche Stellenanzahl hatten. Wir wählen das Rechteck als den allgemeineren Fall und zwar die Multiplikation von 2976 mit 435. Man bildet nun ohne Rücksicht auf Stellenwert die Teilprodukte <math>4 \times 2</math>, <math>4 \times 9</math>, <math>4 \times 7</math> und <math>4 \times 6</math> und schreibt sie in die erste Kolonne waagrecht an, allerdings stets so, daß die Einer jeweils in das durch die gestrichelten Diagonalen entstandene untere, die Zehner in das jeweils obere Dreieck zu stehen kommen. Höhere Stellenwerte als Zehner können nicht entstehen, da das denkbar höchste derartige Teilprodukt <math> 9 \times 9 </math>, somit 81 wäre. Es handelt sich, wie man sieht, dabei um das „kleine Einmaleins“. Nun wird die zweite waagrechte Kolonne mit den Produkten <math>3 \times 2</math>, <math>3 \times 9</math>, <math>3 \times 7</math> <math> und 3 \times 6</math> gefüllt und so fort bis zur vollständigen Füllung des Rechtecks, die bei uns durch <math>5 \times 2</math>, <math>5 \times 9</math>, <math>5 \times 7</math> und <math>5 \times 6</math> entsteht. Damit ist alles geleistet. Denn es bleibt nur mehr die Addition sämtlicher, jeweils zwischen zwei durchlaufenden punktierten Linien stehenden Zahlen übrig, die von rechts nach links vorzunehmen ist.
:Also zuerst <math>0</math>, dann <math>5 + 3 + 8</math>, dann <math>5 + 3 + 1 + 1 + 4</math>, dann
:<math>0 + 4 + 7 + 2 + 8 + 2</math> und sofort bis <math>8 + 3</math> und <math>0</math>, wobei natürlich überschießende Zehner vorzutragen sind, wie wir das ja auch beim Addieren machen. Das Ergebnis schreibt man an den unteren Rand des Rechtecks.
:Uns erscheint diese „Blitzartige“ lange nicht so zauberhaft wie den Alten, die bisher mit distributiven Teilprodukten rechnen mußten. Es sind hier allerdings auch distributive Teilprodukte vorhanden, aber sie verschwinden durch die Stellenwertschreibung völlständig aus dem Bewußtsein des Rechners. Er hat niclfts anderes zu tun, als seine Aufmerksamkeit sklavisch auf die Quadrate und Diagonalen zu richten und dabei Operationen des „kleinen Einmaleins“ auszuführen. Alfles übrige besorgt selbständig und selbsttätig der „Algorithmus“, die Denkmaschine, deren Zahnräderwerk sich unter dem Positionssystem verbirgt: auch gelegentlich der Schlußaddition, wo der Rechner nur sagt „5 + 3 + 8 = 16, bleibt 1“ und die 6 hinschreibt. Ob diese Eins ein Zehner, Hunderter, Tausender usf. ist, wird nicht gefragt, nicht einmal gedacht. Sie wird der nächsthöheren Kolonne als Summand hinzugefügt, und damit Schluß. Ständen dort bloß Nullen, dann wird das, was geblieben ist, einfach hingeschrieben. Aber noch mehr. Nicht einmal der Begriff der nächst „höheren“ Kolonne wird mehr ausgesprochen oder gedacht. Diese Kolonne steht um eine Stelle weiter links und es ist von rechts nach links vorzurücken. Das ist die ganze Regel. Mit allem anderen mögen sich die Zahlentheoretiker beschäftigen, wenn es ihnen Spaß macht. So steht es auch heute noch mit den vier Spezies oder einfachen Grundrechnungsarten. Jeder fast hat sie als Kind erlernt und handhabt sie perfekt, manchmal sogar virtuos. Aber wohl kaum jeder Tausendste versteht wirklich, was er da macht. Die von Leibniz erfundenen Rechenmaschinen sind ja auch nichts anderes als die mechanische Ersetzung des schriftlichen Algorithmus. Und vorgreifend sei bemerkt, daß dieser spezielle Algorithmus der Stellenwertrechnung vier Stufen hat. Erstens die Rechnung nach der Methode im Kopfe, die allerdings nur auserwählten Menschen mit großer Vorstellungskraft gelingt. Zweitens die schriftliche Rechnung. Drittens die Rechenmaschine mit Handbetrieb, wobei gewisse Teiloperationen mit Kurbel oder weiterrücken eines sogenannten Lineals ausgeführt werden. Und viertens endlich die automatische Rechenmaschine, wobei etwa bei der „Mercedes-Euklid“-Maschine bloß noch die Art der Operation und die Zahlen (Multiplikand und Multiplikator usw.) eingestellt werden und die Maschine dann, elektrisch angetrieben, den Algorithmus abschnurrt. Diese Automatik in irgendeiner Form ist der Sinn und letzte Zweck eines Algorithmus überhaupt. Und es ist die höhere oder geringere Tauglichkeit jedes Algorithmus danach zu beurteilen, wie weit er einer Automatik nahekommt. Dabei ist nicht bloß an die Denkökonomie gedacht. Sie spielt auch eine Rolle, jedoch nicht stets die erste. Wichtiger ist es noch, daß der Algorithmus bei zunehmender Komplizierung der Probleme als selbständiges Ordnungs- und Übersichtsprinzip auftritt und daß er, wie schon erwähnt, Abgründe überbrücken kann, in die das Denkvermögen des Menschen einfach nicht mehr hinunterreicht. Wir werden dies später beim Imaginären und bei der Infinitesimalrechnung in der Leibnizschen Schreibweise am Werke sehen.
:Unser Zauberteppich beginnt aber alle Grenzen zu überfliegen, wahrscheinlich, weil er in seinem Heimatland sich seiner Zauberfunktion erst so recht bewußt geworden ist. Deshalb wollen wir ihn für einige Zeit verlassen, uns in die Werkstätte Alchwarizmis begeben und zusehen, ob er, jenseits des Rechenunterrichtes im Stellenwertsystem, auch noch andere Disziplinen der Mathematik gepflegt hat. Wir sprachen schon davon, daß sich die Araber mit Algebra befaßten und daß das Wort Algebra geradezu vom Titel eines Werkes des Alchwarizmi stammt. Daher wollen wir jetzt in diesem Werk blättern und zusehen, in welcher Art Alchwarizmi Gleichungen behandelte. Aus dem vorzüglichen Werk Tropfkes entnehmen wir eine dieser Aufgaben, und zwar die Lösung der gemischtquadratischen Gleichung
:x<sup>2</sup> + 21 = 10x.
:Alchwarizmi sagte (wobei er x<sup>2</sup> und x mit den später als „census“ und „radix“ übersetzten Worten bezeichnet):
:x<sup>2</sup> + 21 = 10x bedeutet, daß, wenn du 21 zu dem Quadrat einer Zahl addierst, die Summe gleich dem Zehnfachen dieser Zahl ist. Die Regel hierfür verlangt, daß du die x halbierst, das ist 5. Diese multipliziere mit sich selbst, das ist 25. Hiervon subtrahiere jene 21, die du mit dem Quadrat zusammen nanntest; da bleibt 4.
:Hieraus ziehe die Wurzel, das ist 2, und subtrahiere diese 2 von der Hälfte der as, also von 5. Es wird nun 3 bleiben. Dies ist die Wurzel des Quadrates, die du haben wolltest; das Quadrat ist 9. Wenn du willst, addiere auch die 2 zur Hälfte der Wurzeln, das ist 7. Das ist x und das Quadrat x<sup>2</sup> ist 49.
:Wenn eine Aufgabe dich auf diese Normalform bringt, so prüfe die Richtigkeit der durch Addition erhaltenen Lösung. .Stimmt sie nicht, so ist jeder Zweifel bei der Subtraktion ausgeschlossen. Und nur bei dieser einzigen der drei Normalformen, in denen es sich um Halbierung der x: handelt, darf die Lösung mit Addieren und Subtrahieren vor sich gehen. Beachte ferner, daß, wenn du x: bei diesem Fall halbierst und quadrierst, und es nun eintritt, daß dieses Resultat weniger als das konstante Glied, das mit x<sup>2</sup> zu vereinigen war, beträgt, dann eine Lösung unmöglich ist. Wenn es dem konstanten Glied gleich ist, dann ist x gleich der Halfte der x ohne Vermehrung oder Verminderung.“
:Wir haben diese Textstelle wörtlich angeführt, nicht bloß, um eine Probe aus der „Aldschebr Walmukabala“ zu geben, sondern um aus ihr die ganze Art und Haltung der arabischen Algebra abzuleiten. Zuerst sehen wir, daß, rein formal, die Tätigkeit der Araber gegen Diophantos ein ausgesprochener Rückschritt ist. Die Ansätze der Symbolschreibung in der synkopierten Algebra Diophants sind wieder einer reinen, ausschließlichen Wortalgebra gewichen. Allerdings ist inhaltlich trotzdem ein Fortschritt in der Richtung eines Algorithmus aufzuweisen.
:Denn die Lösungsmethode des Alchwarizmi, die unsrer Formel
:<math> \frac{a}{2} \pm \sqrt{\left(\frac{a}2\right)^2 - c}</math>
:entspricht, ist Original und Eigentum des Arabers.
:[<small> <math> \textstyle \frac{a}{2} </math> ist hier positiv, da <math> 10x </math> in der vorgelegten Gleichung rechts vom Gleichheitszeichen steht, im Gleichungspolynom also eigentlich negativ wäre.</small>]
:Er hat ihr auch, nach griechischem Vorbild, geometrische Beweise hinzugefügt. Doch das hat seine rein algebraischen Vorstöße nur wieder zurückgeschlagen. Denn dadurch war er nicht imstande, die zweite negative Lösung anzuerkennen, die in unserm Falle dann eintreten müßte, wenn
:<math> \sqrt{\left(\frac{a}2\right)^2 - c}</math> größer wäre als <math> \frac{a}{2} </math>.
:Es gibt also auch bei Alchwarizmi zwei Lösungen der gemischtquadratischen Gleichung nur dann, wenn beide Lösungen positiv ausfallen, wie im obigen konkreten Beispiel.
:Dabei zieht er außerdem die Lösung
:<math> \frac{a}{2} - \sqrt{\left(\frac{a}2\right)^2 - c}</math>
:der Lösung
:<math> \frac{a}{2} + \sqrt{\left(\frac{a}2\right)^2 - c}</math>
:vor, da sie ihm irgendwie naturgemäßer erscheint.
:Er hat auf keinen Fall die bei den Indern entdeckten negativen Lösungen als Lösungen betrachtet. Für unmöglich erklart er die imaginäre Lösung, falls c größer wäre als
:<math> \left(\frac{a}2\right)^2</math>.
:Dieses Wort „impossibilis“ (unmöglich) begleitet die imaginären Zahlen mehr als ein weiteres Jahrtausend bis zu Descartes, der es durch das weniger absprechende Wort „imaginär“ ersetzt.
:Auf weitere Einzelheiten der arabischen Mathematik einzugehen, liegt für uns kein Anlaß vor, obgleich sie sicherlich sehr interessant sind. Worin also, so fragen wir uns, besteht die Epoche, die durch die Araber heraufgeführt wurde? Ist sie eine Epoche der Forschung, des Unterrichtes oder gar nur eine Übersetzer- und Sammlertätigkeit, die dadurch angeregt wurde, daß die Kalifen zufällig nestorianische Christen als Leibärzte verwendeten und diese Arzte hellenische Bildung besaßen und mitbrachten? Oder ist durch all die Jahrhunderte bis zu den maurischen Hochschulen von Sevilla, Toledo und Granada durch Ost- und Westaraber doch etwas Bleibendes geschaffen worden, das über die Verwaltung des indischen und griechischen Erbes hinausreicht?
:Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Um so schwerer, als in der Wissenschaftsgeschichte oft auch die Verwendung und Anpassung überkommenen Wissens in seiner späteren Auswirkung epochale Bedeutung gewinnen kann. Vielleicht ist mancher Ruhm unverdient und die bloße Verewigung von Namen und Ausdrücken ist irreführend. Aber die Tatsache allein, daß wir bis vor kurzem unser Ziffernsystem das „arabische“ nannten, daß Algebra und Algorithmus, Alhidade, Zenit, Nadir, Almukantarat, Ziffer, Zero aus unserm Sprachschatz nicht wegzudenken sind, daß unser Himmel voll von arabisch benannten Sternen steht, wie Alkor, Mizar, Beteigeuze, Rigel, Algol, Aldebaran, Fomalhaut, Toliman, Kochab, Ras-Alhague, Zuben el schemali, um nur einige zu nennen, dürfte doch mehr bedeuten als eine unrechtmäßig usurpierte Autorschaft oder eine bloße Vermittlertätigkeit.
:Es ist nicht zu leugnen, daß die Araber gleichsam im Materialen, rein Inhaltlichen unsrer Wissenschaft vergleichsweise wenig Neues hinzugefügt haben. Sie bereicherten etwa die Geometrie gegenüber den Griechen wesentlicher nur in der Trigonometrie und Astronomie. Dagegen haben sie in formaler Beziehung die Denkmaschine, die in der Arithmetik und Algebra liegt, ziemlich klar erkannt und wenn auch nicht erfunden, so doch zum großen Teil aus den Schranken geometrischer Bevormundung und Übergewichtigkeit erlöst. Entsprechend ihrer kühleren, rationaleren Veranlagung, der gleichsam das Kristallinische näher lag als das Lebendig-Organische, haben sie der Verstandesseite des Erkenntnisapparates gegenüber der Anschauung zu ihrem Recht verholfen. Sie waren begabte, tüchtige und interessierte Mathematiker. Gemäß islamitischer Ausbreitungs- und Bekehrungstendenz entwickelten sie ein umfassendes Schulwesen, das durch ihre Handelstätigkeit noch an Bedeutung gewann. Sie brachen aber zudem noch ihrer Kultur überallhin durch Feuer und Schwert Bahn und versäumten es nicht, den blutigen Eroberungszügen die Mathematik nachfolgen zu lassen. Aber auch sie waren trotz aller praktischen und expansiven Veranlagung keine Ingenieure, das heißt, sie berannten nicht mit dem Werkzeug der Mathematik die Natur, um sie dann, nachdem sie ihr die Geheimnisse entrissen hatten, durch Maschinen in ihren Dienst zu zwingen. Ihrer magischen Veranlagung gemäß, mündete vielmehr ihre Mathematik in Rätsel, kabbalistischen Zauber und astrologisch orientierte Astronomie. Wieder einmal, wie bei den Pythagoreern, wurde die Zahl, ihre Beziehung zur Welt und die Beziehungen der Zahlen untereinander zum Geheimnis und zur Enthüllung. Die Kabbala gewann den magischen Klang, den wir ihr heue noch beilegen. Und in den erleuchtetsten Köpfen der Araber dürfte schon ziemlich klar aufgedämmert sein, daß noch magischer als die Zahl selbst die Denkmaschine des Algorithmus war. Um Mathematik zu lehren und Mathematik zu verbreiten, sind Regeln erforderlich. Regeln aber führen zur Verallgemeinerung. Und Verallgemeinerung setzt eine genaue Kenntnis von Zusammenhängen voraus. Diese Stufenfolge aber führt zwangsläufig dazu, daß die Mathematik an irgendeiner Stelle zum Zauberlehrling wird. Das Werkzeug selbst beginnt plötzlich für uns zu denken und reißt uns in Gebiete vor, die wir bisher nicht einmal ahnten. Und Mathematik wird so recht ein „Sesam, öffne dich“.
:Wieder hat uns der Zauberteppich, diesmal bloß unsere Gedanken, in die Zeit vorangetragen. Denn es mußte sich noch viel Äußeres und Inneres, viel Zufälliges und N otwendiges, viel rein Persönliches und Strukturelles ereignen, bis mit der Geburt einer neuen Mathematik sich auch die äußere Umwelt veränderte. Denn gerade um die Zeit, als ein andrer heißer Glaube seine streitbaren Heere in die Welt hinaussandte, zur Zeit, als die Kreuzfahrer, im wilden Überschwang eines werdenden Kulturbewußtseins, siegend oder verschmachtend in arabischen Wüsten kämpften, begannen sich gotische Türme zum Himmel zu recken, verschwammen halbdunkle gotische Gewölbe in der sicheren Vorahnung und Vorschau eines Rinascimento, das, ungleich der eigentlichen Renaissance, die Wiedergeburt des Geistes als ganzen betraf. Wie alle großen Kulturen der kaukasischen Völker war diese Kulturwerdung eine peninsulare. Nach den Halbinseln Kleinasien, Griechenland und Rom trat die „Halbinsel Europa“ ihre Sendung an.
:Alles lag bereit, alle Keime waren noch voll Leben, wenn auch die Pflanzer dieser Keime gestorben und verdorben waren oder eben ihren letzten Kampf ausfochten. Alles lag bereit. Der gotisch-faustische Geist konnte sein Werk beginnen. Denn ein Völkermorgen dämmerte und die frische, unverbrauchte Kraft vieler Nationen dürstete spannkräftig nach einer Betätigung, deren ideelle Vorwegnahme die Kreuzzüge und gotischen Dome waren. Von der Hand des Magiers Klingsor hatte der Gralsritter die Wunde empfangen, die nie sich schließen wollte. Der magische Geist begann den faustischen mit der Wunde ewiger Aufwärtssehnsucht zu erfüllen.