Diferencia entre revisiones de «Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 069c»

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:Mathematik von A bis Z (Teil 6)
 
 
== 18 ==
 
 
:'''Achtzehntes Kapitel'''
:---
:'''Funktionen (Algebraische Ableitung)'''
:---
:Wir hätten eine diophantische Gleichung einfacher Art, etwa
:<math> 3x-y=(-5) </math>.
:Lösen wir diese Gleichung zur Erzielung ganzzaliliger Werte nach der Eulerschen Methode, dann erhalten wir
:<math> \textstyle x = \frac{y-5}{3} </math> und <math> \textstyle \frac{y-5}{3} = n </math>, also <math> x=n</math>.
:Und weiters für ''y'' die Lösung <math> 3n+5 </math>. Nun setzen wir in das ''n'' die Zahlen von 1 bis zu einer beliebigen Größe ein:
<pre>
n= 1, x= 1, y= 8; Probe: 3 - 8 = - 5
n= 2, x= 2, y= 11; Probe: 6 - 11 = - 5
n= 3, x= 3, y= 14; Probe: 9 - 14 = - 5
n= 4, x= 4, y= 17; Probe: 12 - 17 = - 5
n= 5, x= 5, y= 20; Probe: 15 - 20 = - 5
</pre>
:usw. ins Unbegrenzte.
:Wir haben also durch die Eulersche Methode eine unendliche Zahl ganzzahliger positiver Lösungen gefunden. Wir könnten ebensogut eine unendliche Zahl negativer ganzzahliger Lösungen erzielen. Denn:
<pre>
n= -1, x= -1, y= 2; Probe: -3-(+2) = -5
n= -2, x= -2, y= -1; Probe: -6-(-1) = -5
n= -3, x= -3, y= -4; Probe: -9-(-4) = -5
</pre>
:usw.
:Wie man sieht, sind von n=(—2) alle Wertepaare für beide Unbekannten negativ, da ja das x=n und daher das ''x'' negativ sein muß, wenn ''n'' negativ angenommen wird. Aber auch ''y'' muß stets negativ bleiben, wenn ''n'' ganzzahlig kleiner wird als (-1). Denn die entgegenwirkende Pluskonstante in y=3n+5 ist 5 und wird bereits von 3•(-2) nach der negativen Seite in y=(-6)+5 hinübergeschoben. Um so mehr natürlich bei n=(-3), also y=(-9)+5 usf.
:Wir haben also bereits eine doppelte Unendlichkeit von möglichen Lösungen, nämlich eine Unendlichkeit von ganzzahligen positiven und von ganzzaldigen negativen Wertepaaren. Zu dieser doppelten Unendlichkeit kommt als Spezialfall, als Kuriosum das Wertepaar für <math> n=-1 </math>, bei dem <math> x=-1 </math> und <math> y=+2 </math>, außerdem das Paar für <math> n=0 </math>, bei dem <math> </math>x=0 und <math> </math>y=5 wird. Es gibt also <math> (2 \times \infty) + 2 </math> ganzzahlige Lösungen.
:Nun wollen wir unsere diophantische Gleichung ein wenig umformen, ohne sie weiter zu verändern. Wir schreiben nämlich statt <math> 3x-y=-5 </math> die Form
:<math> y=3x+5 </math>
:an, was wir ja ohne weiteres Bedenken tun dürfen. Und jetzt setzen wir fest, daß uns nicht nur ganzzahlige, sondern auch Werte in gebrochenen Zahlen interessieren. Weiters bestimmen wir, daß wir stets zuerst in das ''x'' einsetzen und dann das zugehörige ''y'' suchen wollen. Es ist — ohne daß wir es noch aus prinzipiellen Gründen so machen — in unserem Falle einfacher, weil ''y'' den Koeffizienten 1 hat und weil wir so alle Divisionen vermeiden können. Suchen wir also einige Wertepaare in Bruchform:
:<math> \textstyle x = \frac{1}{2} </math>, <math> \textstyle y = 3 \cdot \frac{1}{2}+5 =</math><math> \textstyle \frac{3+10}{2} =</math><math> \textstyle \frac{13}{2} </math>
:<math> \textstyle x = \frac{1}{3} </math>, <math> \textstyle y = 3 \cdot \frac{1}{3}+5 =</math><math> \textstyle \frac{3+15}{3} =</math><math> \textstyle \frac{18}{3} =</math><math> 6</math>
:<math> \textstyle x = \frac{2}{7} </math>, <math> \textstyle y = 3 \cdot \frac{2}{7}+5 =</math><math> \textstyle \frac{6+35}{7} =</math><math> \textstyle \frac{41}{7} </math>
:Natürlich können sich, wie bei <math> \textstyle x = \frac{1}{3} </math>, für ''y'' auch ganzzahlige Werte ergeben. Jedenfalls werden aber die Fälle weitaus überwiegen, in denen bei ''x'' als Bruch auch ''y'' ein Bruch wird. Für unsere nicht mehr diopliantische (das heißt nicht mehr für ''x'' und ''y'' ganzzahlig gelöste) unbestimmte Gleichung mit zwei Unbekannten haben wir jetzt wieder unendlich viele Lösungen in Form von Brüchen. Wie „mächtig“ aber diese neue Unendlichkeit ist, geht daraus hervor, daß man schon zwischen 0 und 1 dem ''x'' unendlich viele Werte erteilen kann. Ebenso zwischen 1 und 2, zwischen 2 und 3, usw. Dazu kommen außerdem noch alle Möglichkeiten, in denen wir das ''x'' als negativen Bruch fordern, etwa <math> \textstyle x = - \frac{10}{3} </math> usw. Hier stehen wir, wenn wir genau zusehen, vor folgenden unendlichen Mengen von Lösungen: Alle positiven Brüche für ''y'' ergeben vorwiegend Brüche, und zwar positive für ''y''. Setzt man <math> x=0 </math>, das ich als den Bruch „Null durch irgendeine Zahl“ betrachten könnte, dann wird <math> y=5 </math>. Setze ich negative Brüche für ''x'', dann ergeben alle, ebenfalls unendlich vielen Brüche von <math> \textstyle - \frac{1}{\infty} </math> bis zum Wert <math> \textstyle x = - \frac{5}{3} </math> für ''y'' noch positive Werte. Bei <math> \textstyle x = - \frac{5}{3} </math> wird <math> y=0 </math>. Bei allen Brüchen, die kleiner (das heißt weiter nach links auf der negativen Zahlenlinie!) sind als <math> \textstyle - \frac{5}{3} </math>, also etwa <math> \textstyle - \frac{6}{3} </math>, wird auch das ''y'' negativ.
:Auf jeden Fall haben wir für unsere unbestimmte Gleichung schon eine doppelte Unendlichkeit von ganzzahligen und eine vielfache Unendlichkeit von gebrochenen Lösungen. Dazu noch den Spezialfall <math> \textstyle x = - \frac{5}{3} </math>
:Nun könnten wir aber auf Grund unseres erweiterten Zahlbegriffs noch auf den Gedanken verfallen, zwischen je zwei Brüchen für das ''x'' eine oder alle der unendlich vielen Irrationalzahlen einzusetzen. Etwa eine <math> \sqrt[4]{25} </math> o.&nbsp;dgl. Daß dadurch auch das ''y'' zur Irrationalzahl1) wird, ist einleuchtend.
::(<small>Mathematisch korrekt heißt eine Zahl, die aus rationalen und irrationalen Teilen besteht, wie etwa in unserem Fall <math> y = 3 \cdot \sqrt[4]{25} + 5 </math>, eine „surdische Zahl“. </small>)
:Hätten wir nämlich die Irrationalzahl ''x'' durch einen unendlichen Dezimalbruch dargestellt und addieren dazu die Konstante, dann besteht eben das ''y'' aus einer Summe von einem unendlichen nichtperiodischen Dezimalbruch und einer Konstanten. Aus dieser Summierung aber resultiert wieder eine Irrationalzahl.
:Wir stehen also jetzt vor der unheimlichsten Menge von unendlich vielen Lösungspaaren, einer Menge, die offensichtlich gleichsam eine potenzierte Unendlichkeit ist. Und wir sehen mit einem beinahe mystischen Schauer, daß unsere harmlose Gleichung
:<math> y=3x+5 </math>
:eine unendliche Vielzahl von unendlich vielen Lösungen sowohl auf der positiven wie auf der negativen Seite in sich trägt. Dazwischen gibt es einige merkwürdige Spezialfälle und außerdem eine potenzierte Unendlichkeit von Wertepaaren, bei denen das ''x'' und das ''y'' ungleiche Vorzeichen erhalten werden. Noch einmal wiederholt: Wir können dem ''x'' mit positivem oder negativem Vorzeichen jeden beliebigen Wert einer ganzen, einer gebrochenen oder einer irrationalen Zahl erteilen und erhalten dadurch ein „zugehöriges“ ''y''. Beide zueinander gehörigen Werte nennen wir aber ein „Wertepaar“.
:Um diesen merkwürdigen Algorithmus, dessen unheimliche Vielfältigkeit wir vorläufig nur ahnen, noch nicht aber in seinen Folgen begreifen, plastisch vor uns zu sehen, wollen wir uns eine einfache Maschine konstruieren, die wir in Gedanken „funktionieren“ lassen. Das Instrument sähe folgendermaßen aus (s. unten: Fig. 13). Eine Art von Waagebalken hat auf der einen Seite einen Zeiger, der entlang einer halbkreisförmigen, mit Ziffern versehenen Skala spielt. Der Balken besteht aus Schienen, die ebenfalls mit Ziffern in gewissen Abständen versehen sind. Auf jeder dieser Schienen ist ein „Laufgewicht“ verschiebbar. Und dieses Laufgewicht ist zudem noch auswechselbar. Nach primitiven
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Fig. 13
 
 
:Gesetzen der Mechanik hängt die Wirkung eines Gewichtes in diesem Falle nicht nur davon ab, wie schwer es an sich ist, sondern auch davon, an welcher Stelle des „Hebelarmes“ es sich befindet. Ein Kilogramm in der Entfernung 5 wird fünfmal so schwer wirken wie ein Kilogramm in der Entfernung 1. Bekanntlich beruht auf diesem Prinzip die Dezimalwaage. Nun hätten wir weiters folgende Festsetzungen getroffen: Der Zeiger gibt uns jeweils auf der Skala gleichsam den Belastungszustand unserer „variablen“ Waage an. Befindet sie sich im Gleichgewicht, dann steht der Zeiger auf Null. Der Zeiger ist aber noch durch Spiralfedern nach oben und unten festgehalten, die so konstruiert sind, daß sie zwar auf Zug sehr stark reagieren, auf Zusammendrückung jedoch keinen nennenswerten (theoretische Forderung: überhaupt keinen) Widerstand leisten. Schließlich dient die untere Schiene zur Einstellung der „Konstanten“, die obere zur Einstellung des „x“. Einheit ist in allen Fällen das Kilogramm.
:Nun können wir unsere Maschine für unsere Zwecke bereits in Gebrauch nehmen. Und zwar wollen wir uns die Angelegenheit in der Art einer Bedienungsanweisung verdeutlichen: Setzen wir voraus, daß wir einen Kasten mit verschiedensten Laufgewichten besitzen, dann entnehmen wir ihm zuerst für unsere Gleichung
:<math> y=3x+5 </math>
:ein schönes Kilogrammgewicht und schieben es auf die untere, mit der Bezeichnung „Konstante“ versehene Schiene so weit, daß die Mittelpunktsmarkc des Laufgewichtes mit der Ziffer fünf auf der Schiene übereinstimmt. Das Laufgewicht hat zu diesem Zweck ein „Fenster“. Man kann solche Gewichte an jeder Apotheker-Dezimalwaage sehen. Da es sich um eine Konstante, um eine unveränderliche Größe handelt, klemme ich das Laufgewicht für alle folgenden Fälle fest. Natürlich nur für solange, als ich die Gleichung
:<math> y=3x+5 </math>
:betrachte, in der die Konstante eben 5 ist. Im Gesamtsystem unserer Maschine muß jetzt unser Kilogramm einen Zug nach unten ausüben, der fünfmal größer ist, als wenn ich das Laufgewicht bei der Marke 1 geklemmt hätte. Und wenn ich nichts anderes einstellen würde, müßte jetzt der Zeiger steigen und auf die Marke 5 auf dem Kreisbogen zeigen. Denn wir setzen voraus, daß die Spiralfedern in dieser Art berechnet sind. Nun soll ich das „x“ einstellen. Da es nicht als ''x'' schlechtweg, sondern als ''x'' mit dem Koeffizienten 3 auftritt, wähle ich ein Laufgewicht von 3 Kilogramm, da uns ein Kilogramm die konkrete Zahl 1 versinnbildlicht. Wo aber soll ich das Laufgewicht hinschieben? Ich bin in Verlegenheit und muß eine mathematische Uberlegung anstellen. Und diese Überlegung sagt mir sofort, daß ich ja in das ''x'' einsetzen, also das ''x'' erst wählen soll. Daher nehme ich mir vor, das ''x'' zuerst so zu wählen, daß sich die „Waage“ im Gleichgewichtszustand befindet, daß also, was man ohne weiteres sieht, der Zeiger auf Null für ''y'' zeigt. Wenn ich nun, ohne zu rechnen, bloß probiere, werde ich bemerken, daß ich dieses gewünschte Ergebnis erziele, wenn das 3-kg-Laufgewicht genau bei der Marke <math> \textstyle - \frac{5}{3} </math> oder <math> -1 \textstyle \frac{2}{3} </math> der oberen Laufschiene angelangt ist. Dort ergibt sich nämlich die Gewichtsbelastung des linken Waagearmes (den wir den negativen nennen wollen) mit 3 kg in der Entfernung <math> \textstyle (- \frac{5}{3}) </math> und die des rechten (positiven) mit 1 kg in der Entfernung (+5). Da sich aber weiters nach den Gesetzen der Mechanik die jeweilige Belastung als Produkt des Gewichtes mit der Entfernung vom Drehpunkt des Waagebalkens darstellt, so ist in einem Falle die Belastung <math> \textstyle 3 \cdot (- \frac{5}{3} ) = - 5 </math> und im zweiten Falle <math> 1 \cdot 5 = 5 </math>, also dem absoluten Wert nach gleich. Da sich aber auf einer in unserer Weise positiv und negativ bezifferten Waage ein Gleichgewicht nur ergeben kann, wenn derselbe absolute Wert sowohl negativ als positiv auftritt, bedeutet unser Ergebnis die gleichsam optische Bestätigung der Tatsache, daß ich in der Gleichung
:<math> y=3x+5 </math>
:das ''x'' als <math> \textstyle (- \frac {5}{3}) </math> wählen muß, um für das ''y'' die Null zu erhalten. Daß die Konstante nicht weiter berührt werden darf, haben wir schon gefordert. Wir könnten sie aber trotzdem auf unserer Maschine auch in anderer, und zwar noch eleganterer Art einstellen. Wenn wir uns nämlich überlegen, daß man die Gleichung <math> y=3x+5 </math> auch in der Form
:<math> y = 3x^1 + 5x^0 </math>
:schreiben dürfte, da bekanntlich jede Nullpotenz 1 liefert und dadurch an der Gleichung nichts ändert, könnten wir die obere Schiene mit <math> x^1 </math> und die untere mit <math> x^0 </math> bezeichnen und die 5 als Koeffizienten von <math> x^0 </math> betrachten. Dann aber dürften wir ein 5-kg-Gewicht wählen und es bei der Marke 1 der unteren Laufschiene festklemmen, wo es stehen bleiben kann, da <math> x^0 </math> für jeden Wert von ''x'' eins geben muß, <math> 5x^0 </math> also in jeder möglichen Form der Gleichung 5 kg mal Entfernung 1, also 5 liefert. Dies jedoch vorläufig nur nebenbei. Wir werden noch einmal darauf zurückkommen.
:Wir begnügen uns mit der ersten Version, daß wir unsere „Konstante“ als 1-kg-Laufgewicht bei der Marke 5 der unteren Laufschiene festgeklemmt haben. Und fügen bei, daß wir uns um diese „Konstante“ nicht weiter kümmern werden, da sie für unsere spezielle Gleichung gleichsam zum fixen, stehenden, konstanten Bestandteil der Maschine geworden ist und selbsttätig ihren Einfluß geltend machen wird.
:Dagegen reizt es uns, mit dem zweiten Laufgewicht zu experimentieren. Da ja, wie wir gesehen haben, die Marke auf der Schiene direkt die Größe des jeweiligen ''x'' bedeutet, steht es uns frei, das Laufgewicht innerhalb des „Bereiches“ von -5 bis +5 an irgendeine beliebige, „willkürliche“ Stelle zu rücken, seinen Ort zu „verändern“. Ortsveränderung bedeutet aber nach dem Gesetz des Hebelarmes Belastungsverändcrung, und Belastungsveränderung ist eine Größenveränderung. Machen wir ein Experiment. Rücken wir etwa das 3-kg-Laufgewicht auf die Marke
:<math> \textstyle x = 1 \frac{2}{5} = \frac{7}{5} </math>.
:Sofort beginnt der rechte Waagebalken zu sinken und der y-Zeiger auf der Skala zu spielen. Nach einigem Schwanken stellt er sich auf <math> \textstyle 9 \frac{1}{5} </math> ein. Nun ist aber für <math> \textstyle x = \frac{7}{5} </math> nach der Gleichung tatsächlich <math> \textstyle y = 9 \frac{1}{5} </math>, da
:<math> \textstyle 3 \cdot \frac{7}{5} + 5 = \frac{21+25}{5} = \frac{46}{5} = 9 \frac{1}{5} </math>.
:Wenn wir also ''x'' „willkürlich veränderten“, hat sich an unserer Maschine das ''y'' „zwangsläufig verändert“. Nun sind wir soweit, nach richtigem „Funktionieren“ unserer Maschine das Wesen der „Funktion“ zu durchschauen.
::(<small>Diese Wortableitung des Begriffs „Funktion“ gilt natürlich nur als Gedächtnishilfe für unsere Maschine.</small>)
 
 
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Fig. 14
 
 
:Und wir stellen, vorläufig noch sehr ungenau, fest, daß eine Funktion dann vorliegt, wenn sich durch „willkürliche“ Veränderung einer Unbekannten eine zweite Unbekannte „zwangsläufig“ verändert. Wenn wir weiter statt veränderliche Unbekannte einfach das Wort „die Veränderliche“ gebrauchen, dann können wir sagen, daß bei einer Funktion jede an der „willkürlichen Veränderlichen x“ vorgenommene Größenbestimmung die „zwangsläufige Veränderliche y“ in gewisser Art in Mitleidenschaft zieht. Das Gesetz dieses Zusammenhanges heißt Funktion. Unsere Maschine hat uns bisher das Ergebnis automatisch geliefert. Und zwar deshalb, weil wir dieses „Gesetz“ auf der Maschine einstellten. Das „Gesetz“ war aber nichts anderes als unsere Gleichung
:<math> y=3x+5 </math>.
:Und eben diese „Gleichung“ heißt in dieser Beleuchtungsweise eine Funktion. Ihr allgemeinstes Gestaltbild wird seit Leibniz: <math> y=f(x) </math> geschrieben. Und wird gesprochen: ''y ist eine Funktion von x''. Was nichts anderes heißt, als daß ''y'' von irgendeiner mit ''x'' verbundenen Größe systematisch abhängt.
:An dieser Stelle muß ich eine ketzerische und revolutionäre Tat setzen, deren Legitimation ich aus meiner Dichtereigenschaft herleite. Ich behaupte nämlich, daß der allgemeine wissenschaftliche Sprachgebrauch, der die willkürlich gewählte Veränderliche als die „unabhängige“ und die zwangsläufig bestimmle Veränderliche als die „abhängige“ bezeichnet, insofern sprachlich, psychologisch und pädagogisch mangelhaft ist, als der Gegensatz zwischen einer Position und der durch die Vorsilbe „un“ erzeugten Negation eindrucksmäßig immer blasser wirkt als der Gebrauch selbständiger positiver und negativer Ausdrücke. Zudem ist das „un“ als Vorsilbe in der deutschen Sprache nicht einmal stets eine klare Verneinung, sondern manchmal nur eine versteckte Steigerung ins Positive. Man denke an Bildungen wie Untier und Unsumme, wobei es schon aller Rabulistik bedarf, dieses „Übertier“ und diese „Übersumme“ als Verneinungen zu behaupten. Aber selbst wenn wir von einer solchen Ausnahme absehen, ist es sicherlich gegensätzlicher und plastischer, Lust und Schmerz als Lust und Unlust einander entgegenzustellen. Und diese antithetische Blässe steigert sich bei partizipialen als Hauptwörter gebrauchten Eigenschaftswörtern wie abhängige Veränderliche und unabhängige Veränderliche ins Maßlose. Was noch dadurch verschärft wird, daß jemand assoziativ darauf verfallen könnte, zu denken, die Wahl des Wertes für die Unbekannte sei in einem Falle nur von meinem Willen abhängig, im anderen dagegen von mir unabhängig. Diese Auslegung wäre aber genau das Gegenteil von dem, was mit den üblichen Bezeichnungen gesagt werden soll. Wir wollen jedoch nicht Verwirrung stiften, sondern nur rechtfertigen, warum wir aus rein pädagogischen und psychologischen Gründen in diesem Einführungsbuch vom allgemeinen Sprachgebrauch der Wissenschaft abgehen und von der „willkürlichen“ (unabhängigen) und der „zwangsläufigen“ (abhängigen) Veränderlichen sprechen werden. Noch einmal zusammengestellt: In der „Funktion“
:<math> y=3x+5 </math>, allgemein <math> y=f(x) </math>
:ist das ''x'' die „willkürliche“, „unabhängige“ Veränderliche, das ''y'' die „zwangsläufige“, „abhängige“ Veränderliche. ''x'' und ''y'' aber heißen „die Veränderlichen“. Nachdem wir nun einige Kenntnisse über den Sprachgebrauch der Funktionenlehre gewonnen haben, wollen wir uns wieder unser Instrument, unsere Funktionsberechnungsmaschine hernehmen und ein weiteres Experiment machen. Wir rücken das 3-kg-Laufgewicht vorsichtig ein Stück auf der x-Laufschiene und beobachten dabei, was der Zeiger auf der y-Skala dabei treibt: Wir sehen, daß er sich auch ununterbrochen bewegt hat. Schließlich ist er zwischen zwei Teilstrichen der Skala stehen geblieben. Aber auch unser Laufgewicht steht irgendwo an einer nicht genau auf der Laufschiene bezeichneten Stelle.
:Nun wollen wir, an Hand unserer Maschine, ein neues Kunststück vollführen. Wir behaupten nämlich, daß die Laufschiene nichts anderes sei als die Zahlenlinie. Da nun aber weiter, wie wir schon genau wissen, die Zahlenlinie sich kontinuierlich (stetig) aus allen ganzen, gebrochenen und irrationalen Zahlen zusammensetzt, bedeutet jedes stetige Verschieben des Laufgewichtes nichts anderes, als daß unser ''x'' während dieses „Verschiebens“ alle Werte annimmt, die innerhalb der „Verschiebungsgrenzen“ liegen. Also die Werte aller ganzen, gebrochenen und irrationalen Zahlen, die sich zwischen diesen Grenzen befinden.
:Dieser Begriff der „Stetigkeit“ spielt in der Lehre von den Funktionen, insbesondere seit den Entdeckungen des großen Mathematikers Weierstraß, eine ungeheure Rolle. Wir begnügen uns aber vorläufig, eine erste Andeutung dieses Begriffs gegeben zu haben; um so mehr, als wir ihn in anderer, nämlich geometrischer Art viel deutlicher erörtern können und erörtern werden.
:Wir wollen uns dagegen mit dem, was wir bisher über Funktionen wissen, an eine bestimmte Aufgabe heranwagen, deren Sinn und Zweck uns aufs erste noch verborgen bleibt. Da es sich jedoch um eine höchst einfache algebraische Aufgabe handelt, sehen wir keinen Grund, an ihr achtlos vorbeizugehen.
:Wir fragen also, was mit dem y-Zeiger geschieht, wenn wir unser ''x'' an irgendeiner Stelle um einen bestimmten Betrag wachsen lassen. Wahrscheinlich wird sich da der Zeiger auch um einen gewissen Betrag bewegen. Da wir aber schon einmal in euklidischer Art behauptet haben, das Verhältnis sei unabhängig von den ins Verhältnis gesetzten Größen, könnten wir als sichtbares Maß der Veränderung etwa das Verhältnis benützen, das zwischen dem Zuwachs des ''x'' und dem daraus zwangsläufig folgenden Zuwachs des ''y'' bestellt. Wenn wir weiter unseren Zuwachs zu ''x'' in eine ganz allgemeine. Form kleiden, also den Zuwachs an irgendeiner Stelle eintreten lassen, ist es klar, daß ich dadurch auch den damit verbundenen Zeigerausschlag für ''y'' gleichsam an „irgendeiner Stelle“ erhalte. Ich könnte mir ja die Skalen auf der Laufschiene und am Halbkreis ganz einfach verdeckt oder unleserlich vorstellen.
:Also „irgendein x“ oder „das x“, was dasselbe ist, da ich ja ''x'' unbestimmt lasse, wächst um den endlichen Betrag von <math> \Delta x </math>. Das Dreieck (<math> \Delta </math>) ist das große griechische D (Delta). Und ist jedem Kind als Symbol der dreieckigen „Delta“mündung des Nil bekannt. Das ''x'' schreibe ich neben unser Delta, um anzuzeigen, daß es sich um einen Zuwachs von ''x'' handelt. Nun resultiert daraus der zwangsläufig nach dem „Gesetz“ der Funktion erfolgende Zeigerausschlag auf der y-Skala. Diesen nenne ich natürlich Ay. Weiters ist als selbstverständlich vorausgesetzt, daß unsere Funktion auf der Maschine „eingestellt“ ist, wozu aber bloß nötig ist, daß sich das 1-kg-Gewicht auf der Marke 5 der unteren Schiene und das 3-kg-Gewicht irgendwo auf der oberen Schiene befindet.
:Rein algebraisch gesprochen lautet jetzt die Frage: Wie verhält sich unter der Bedingung der „eingestellten“ Funktion unser <math> \Delta y </math> zum <math> \Delta x </math>. Oder was für ein <math> \Delta y </math> folgt zwangsläufig aus der Veränderung der Einstellung um <math> \Delta a </math>?
:Wir wollen, ohne weiter zu grübeln, rein rechnerisch der Angelegenheit an den Leib rücken. Wenn wir die „Zuwächse“ in unsere Gleichung (Funktion) einbauen wollen, müssen wir wohl ansetzen:
:<math> (y + \Delta y) = 3(x+\Delta x)+5 </math>.
:Denn aus ''x'' ist nach dem erfolgten Zuwachs, nach der Verschiebung des Laufgewichtes, <math> (x+ \Delta x) </math> geworden, worauf das ''y'' zwangsläufig zu <math> (y + \Delta y) </math> werden muß.
:Noch einmal zum Überdruß: Wir wissen gar nicht, wie groß das ''x'' ist. Wir wissen auch nicht, wie groß das <math> \Delta x </math> ist. Wir fordern nur, daß es endlich sei. Es könnte, nebenbei bemerkt, überhaupt jede Größe haben. Wir wollen es aber klein nehmen, um dann leichter weiterzukommen. Also
:<math> (y + \Delta y) = 3(x + \Delta x)+5 </math>.
:Gesucht ist <math> \Delta y : \Delta x </math> oder <math> \textstyle \frac{\Delta y}{\Delta x} </math>. Oder das Verhältnis zwischen <math> \Delta y </math> und <math> \Delta x </math>. Multiplizieren wir einmal aus, um die Klammern loszubekommen.
:<math> y + \Delta y = 3x + 3 \cdot \Delta x + 5 </math>.
:Nun machen wir einen Kunstgriff, der wieder von Leibniz stammt, allerdings von ihm in anderer Schreibart formuliert ist. Wir erinnern uns nämlich, daß ''y'' gleich ist <math> 3x+5 </math> und daß wir daher berechtigt sind, auf beiden Seiten der Gleichung diese gleichen Größen in Abzug zu bringen, ohne daß sich etwas ändert. Unser erstes Beispiel der Waage mit den Äpfeln und Dekagrammen hat uns ja die Berechtigung solcher Rechentricks gezeigt. Also:
:<math> y + \Delta y = 3x + 3 \Delta x + 5 </math>
:<math> -y \qquad = -3x + - 5 </math>
:-----------------------------------------
:<math> \qquad \Delta y = 3 \Delta x </math>
:Wenn aber <math> \Delta y = 3 \Delta x </math>, dann ist natürlich
:<math> \Delta y : \Delta x = 3 \Delta x : \Delta x </math> oder
:<math> \textstyle \frac{\Delta y}{\Delta x} = 3 </math>
:oder als Proportion
:<math> \Delta y : \Delta x = 3:1 </math>.
:Unsere Aufgabe ist gelöst. Und wir wissen weiter nach dem Satz der Unabhängigkeit des Verhältnisses von der Größe des Verglichenen, daß ich jetzt <math> \Delta y </math> und <math> \Delta x </math> so klein denken darf, als ich nur überhaupt will. Also klein bis an die äußerste Grenze der Null hinab. Ich hätte, arithmetisch gesprochen, das Laufgewicht nur soweit verschoben, daß ich bis zur nächsten Irrationalzahl gelangt wäre.
::(<small>Nach moderner Auffassung gilt es als korrekter, das <math> \Delta x </math> solange zu verkleinern, bis man zur letzten Irrationalzahl vor dem ''x'' gelangt. Es handelt sich also, wie Newton gesagt hat, um das letzte Verhältnis der „hinschwindenden“ Inkremente (Zuwächse), das besteht, bevor beide in die Null untertauchen.</small>)
:Wie potenziert unendlich wenig das ist, wissen wir aus dem Aufbau der Zahlenlinic. Einen solchen allerkleinsten Zuwachs von ''x'' nennen wir aber jetzt nicht mehr <math> \Delta x </math>, sondern '''dx''' und das zugehörige <math> \Delta y </math> entsprechend '''dy''', so daß wir schreiben:
:<math> \textstyle \frac{dy}{dx} = 3 </math> oder <math> \textstyle \frac{dy}{dx} = \frac{3}{1} </math>
:Nun lüften wir den Schleier: Ohne irgendeine Denkschwierigkeit haben wir soeben den gefürchteten „Differentialquotienten“ berechnet. Und sagen: Der „Differentialquotient“ der Funktion <math> y=3x+5 </math> hat den Wert 3. Oder <math> \textstyle \frac{dy}{dx} = 3 </math> oder <math> y' = 3 </math>. Das <math> y' </math> heißt eben <math> \textstyle \frac{dy}{dx} </math> oder „erster“ Differentialquotient einer Funktion <math> y=f(x) </math>, das heißt einer Funktion, in der das ''y'' zwangsläufig von einer Konstellation von x=Ausdrücken abhängt.
:Nun ersehen wir aus unserem ominösen „Differentialquotienten“, daß er an jeder Stelle gleich ist. Überall, wo ich das ''x'' um den allerkleinsten Betrag ''dx'' verändere, erhalte ich als Verhältnis des entsprechenden y-Zuwachses zu unserem ''dx'' die Zahl 3 oder <math> 3:1 </math>. Die „Konstante“ hat dabei gar keine Rolle gespielt. Denn hätte ich sie fortgenommen, dann hätte ich
 
??x
 
xFix. x14
 
 
 
:Warum dem so ist, werden wir erst später voll erfassen. Aus unserer Maschine ist es eigentlich auch begreiflich. Denn die Gleichgewichtsstörung erfolgt ausschließlich durch die Verschiebung des x-Gewichtes (der 3 kg).
::(<small>Wenn wir von der „Trägheit“ der 5 kg absehen!</small>)
:Und zwar an jeder Stelle gleichartig. Der „Differentialquotient“ ist somit ein für alle Werte des ''x'' geltendes „Veränderungsgesetz“ der Funktion.
:Nun werden wir unseren neuen Algorithmus der „Differentialrechnung“, den wir vorläufig als formale Kabbala an einem Endchen gepackt haben, weitertreiben. Und zwar in besonders kühner Weise, indem wir die uns noch ganz neue „quadratische“ Funktion
:<math> y=2x^2 +7 </math>
:in ähnlicher Art zu untersuchen trachten. Von unserer Maschine sehen wir jetzt ab und vertrauen uns der reinen Form an. Nach unserem Schema wäre
:<math> y + \Delta y = 2(x+ \Delta x)^2 + 7</math>.
:Da wir <math> (x+ \Delta x)^2 </math> noch nicht direkt ausrechnen können, wollen wir es plump als <math> (x+ \Delta x)(x+ \Delta x) </math> feststellen und erhalten
:<math> [x^2 + x \Delta x + x \Delta x + (\Delta x)^2] </math>, also
:<math> x^2 + 2x \Delta x + (\Delta x)^2 </math>
:Nun hätten wir als Kunstgriff:
:<math> y + \Delta y = 2x^2 + 4x \Delta x + 2(\Delta x)^2 + 7 </math>
:<math> -y \qquad = -2x^2 \qquad - 7</math>
:-----------------------------------------
:<math> \qquad \Delta y = 4x \Delta x + 2(\Delta x)^2 </math>
:Mit diesem Ergebnis können wir nun in der bisherigen Art das Verhältnis von <math> \Delta y </math> und <math> \Delta x </math> nicht befriedigend darstellen. Daher überlegen, kalkulieren wir ein wenig.
::(<small>Daher der Name „Differential-Kalkül“.</small>)
:Wir wollen, so sagten wir, als Endziel nicht den sogenannten „Differenzen“-Quotienten sondern den „Differenzen“-Quotienten <math> \textstyle \frac {\Delta y}{\Delta x} </math> erhalten. Bei diesem aber ist das '''dx''' schon die allerkleinste Zahl. Wenn ich mir eine solche allerkleinste Zahl sehr ungenau etwa als Bruch <math> \textstyle \frac{1}{q} </math> vorstelle, wobei ''q'' natürlich riesenhaft groß sein muß, dann würde diese „allerkleinste“ Zahl durch Potenzierung die Form <math> \textstyle ( \frac{1}{q} )^2 = \frac{1}{q^2} </math> erhalten, wodurch der Nenner „allerriesigst zum Quadrat“ würde. Dadurch aber würde ich, grob gesagt, eine Zahl erreichen, die im quadratischen Verhältnis kleiner ist als die „allerkleinste“ Zahl. Also etwas, das ich selbst neben einer allerkleinsten Zahl unbedingt vernachlässigen darf. Um eine solche „Kleinheit verschiedener Ordnungen“ die wir später genau verdeutlichen wollen, angenähert bildlich auszudrücken, hat Leibniz einmal gesagt, das Firmament verhalte sich zur Erde wie die Erde zum Staubkorn. Und die Erde verhalte sich zum Staubkorn wie das Staubkorn zu einem magnetischen Teilchen, das durch Glas dringt.
::(<small>Heute würden wir Elektron sagen.</small>)
:Auch unser <math> (dx)^2 </math> verhält sich aber zu <math> (dx) </math> wie ein Staubkorn zur Erde. Es ist bestimmt eine „höhere Kleinheitsordnung“, eine Kleinheit noch fast unendlich kleinerer Art, und kann daher fortgelassen werden. Wir schreiben also, sobald wir zum „Differentialquotienten“ übergehen wollen, für
:<math> \Delta y = 4x \Delta x + 2(\Delta x)^2</math> nur mehr
:<math> dy = 4x \; dx </math>
:und erhalten als Endresultat
:<math> \textstyle \frac {\Delta y}{\Delta x} = 4x </math> oder <math> dy : dx = 4x : 1 </math>.
:Hier, bei der „quadratischen“Funktion, erscheint etwas Merkwürdiges. Es ist nämlich das „Gesetz“ der Veränderung nicht mehr als reines Zahlenverhältnis ausgedrückt, sondern es ist direkt von ''x'' abhängig; wird sich also konkret mit dem für ''x'' gewählten Wert ändern. Hier ist die Veränderung selbst veränderlich, wenn man so sagen darf. Allerdings ist sie streng an eine neue Bedingung, nämlich an das Verhältnis <math> 4x : l </math> gebunden.
:Wir könnten nun in der gezeigten Art rein formal den ganzen Algorithmus der Differentialrechnung als Rechnungsoperation ableiten. Wir würden dadurch an mathematischer Strenge und Sauberkeit nur gewinnen. Da jedoch der Anfänger sicherlich alle Probleme dieser Rechnungsart besser durchschaut, wenn er sich alles bildlich vorstellen kann, und da weiters auch die historische Entwicklung unseres „Kalküls“ beinahe ausschließlich auf geometrische Art erfolgte, wollen wir unsere bisher rein synthetische Darstellungsart aus psychologischen Gründen verlassen und uns alles aus der Geometrie herbeischaffen, was wir zum grundsätzlichen Verständnis unserer neuen Rechnungsoperation und der Unendlichkeitsanalysis überhaupt unbedingt brauchen werden.
 
== 19 ==
 
 
:'''Neunzehntes Kapitel'''
:---
:'''Pythagoräischer Lehrsatz'''
:---
:Zuerst wollen wir uns einmal in ferne Vorzeit zurückversetzen. Zu den alten Ägyptern und Indern. Noch heute bestaunt jeder Kenner der Baukunst die unwahrscheinliche Präzision, mit der speziell die Ägypter die Maße und Winkel ihrer Bauwerke ausführten. Es ist dies ein Verdienst der sogenannten Harpedonapten oder Seilspanner gewesen, die durch ihre geometrischen Kenntnisse die Bestimmung der Winkel, vornehmlich der rechten Winkel, ermöglichten. In welcher Art, werden wir sofort erfahren: Stellen wir uns etwa vor, es solle ein riesiger rechteckiger Tempel gebaut werden. Daß dabei schon kleine Abweichungen in der Genauigkeit der Winkelbestiminung eine Rolle spielen, ist klar. Das weiß jeder Maurer und Zimmermann, der stets aufs neue Lot und Winkelmaß anlegt. Die „Seilspanner“ nun, eine Zunft, die der Priesterschaft angehörte, vollführten schon bei der feierlichen Grundsteinlegung des Tempels ihre geometrische Zeremonie. Sie hatten dazu ein sehr langes Seil durch Knoten im Verhältnis <math> 5:3:4 </math> untergeteilt. Also in folgender Art:
 
 
 
??
 
 
Fig. 15
 
 
:Die Knoten wollen wir für uns ''a'', ''b'', ''c'', ''d'' nennen. Wenn nun der rechte Winkel bei ''c'' zu erzielen war, wurde die Strecke 3 durch Pflöcke bei ''b'' und ''c'' festgemacht. Dann wurde die Strecke 4 ungefähr in den rechten Winkel gestellt und nun die Strecke 5 soweit herumgeschlagen, bis die Punkte ''a'' und ''d'' zusammenfielen. Wenn man nun die Seile spannte und auch a und d gemeinsam durch einen Pflock festlegte, befand sich bei ''c'' ein genauer rechter Winkel. Im Bild (s. Fig.&nbsp;16). Das Dreieck, dessen Seiten im Verhältnis <math> 3:4:5 </math> stehen, heißt allgemein das „ägyptische Dreieck“. Daß es ein sogenanntes rechtwinkliges Dreieck ist, sieht man an der Figur.
:Aber nicht nur die Ägypter, auch die Priesterschaft der alten Inder besaß einen ähnlichen Kunstgriff, für Altäre und dergleichen rechte Winkel abzustecken.
 
 
 
??
 
Fig. 16
 
 
:Nur henützte man in Indien merkwürdigerweise ein Dreieck mit dem Seitenverhältnis <math> 15:36:39 </math>. Um uns leichter verständigen zu können, wollen wir gleich hier sagen, daß man die längste Seite eines rechtwinkligen Dreiecks die „Hypotenuse“ und die beiden kürzeren Seiten die „Katheten“ nennt. Das ägyptische Dreieck besitzt also die Hypotenuse 5 und die Katheten 4 und 3, während das indische eine Hypotenuse von 39 und zwei Katheten von 36 und 15 hat.
:Nun ist das rechtwinklige Dreieck an sich bestimmt nur ein Spezialfall unter allen möglichen Dreiecken. Denn es setzt voraus, daß die Katheten einen Winkel von genau 90° (neunzig Graden) einschließen, wodurch für die beiden anderen Winkel zusammen ebenfalls 90° übrigbleiben. Denn die Winkelsumme im Dreieck ist bekanntlich 180° oder 2&nbsp;Rechte&nbsp;=&nbsp;2R (zwei rechte Winkel). Da es nun weiter bekannt ist, daß dem kleineren Winkel die kleinere Seite (und umgekehrt) gegenüberliegt, muß dem rechten Winkel die größte Seite, also die Hypotenuse gegenüberliegen. Nun können wir aber mit Recht vermuten, daß sich diese Beziehung nicht bloß auf ein „Größersein“ oder „Kleinersein“, sondern auf ein ziffernmäßig faßbares „Größer- und Kleinersein“ erstreckt. Das heißt, es ist anzunehmen, daß die drei Seiten irgendwie im Verhältnis der Winkelgrößen und die Winkelgrößen irgendwie im Verhältnis der Seiten ihren Ausdruck finden. Kurz, wir müssen den Verdacht aussprechen, daß bei einem rechtwinkligen Dreieck irgendeine Beziehung besteht, die auch bei den Seiten die Tatsache ausdrückt, daß der rechte Winkel die Summe der beiden anderen Winkel bildet. Wollen wir aber unsere Vermutung prüfen, so sind wir sehr enttäuscht. Denn <math> 4+3=7 </math> und nicht 5 und <math> 15+36=51 </math> und etwas ganz anderes als 39. Unsere Annahme hat also sowohl beim ägyptischen als auch beim indischen Dreieck vollkommen versagt.
:Sind das also am Ende keine rechtwinkligen Dreiecke? Jedenfalls sprechen die Pyramiden und die indischen Bauwerke nicht für solch eine vernichtende Frage.
:Nein, beruhigen wir uns! Es sind genaue, präzise, unübertreffliche rechtwinklige Dreiecke. Sowohl das ägyptische als auch das indische. Nur ist die von uns geahnte Beziehung nicht so einfach, als wir es dachten. Und wenn wir, vorläufig ohne Begründung, unsere Zahlen alle zur zweiten Potenz erheben, sieht die Sache wesentlich anders aus. Denn
:<math> 3^2 + 4^2 = 9+16=25 </math> , also
:<math> 3^2 + 4^2 =5^2 </math> und
:<math> 15^2+36^2=225+1296 = 1521 </math>, also
:<math> 15^2 + 36^2 =39^2 </math>.
:Und diese Beziehung ist eine der wichtigsten und unentbehrlichsten Regeln der Geometrie. Sie heißt der „pythagoräische Lehrsatz“ oder in der mittelalterlichen Schülersprache der „pons asinorum“, die Eselsbrücke. Pythagoras selbst, der die Voraussetzungen zu seinem Lehrsatz wahrscheinlich auf seinen Reisen in Ägypten und Indien kennengelernt hatte, soll als Dank für seine Entdeckung den Göttern eine Hekatombe Ochsen geopfert haben1).
::(<small>Wovon das Gelehrtensprichwort stammt, daß alle Ochsen zittern, wenn etwas Umwälzendes entdeckt wird.</small>)
:Wenn wir allgemein die Katheten mit ''a'' und ''b'' und die Hypotenuse mit ''c'' bezeichnen, dann lautet der Satz für jedes rechtwinklige Dreieck
:<math> a^2 +b^2=c2 </math>.
:Beweise für den Lehrsatz gibt es sehr viele. Wir wollen einen nicht sehr strengen, doch höchst sinnfälligen zeigen:
 
 
 
 
??
 
Fig. 17
 
 
 
:Dem ersten großen Quadrat ist das Quadrat über der Hypotenuse, also <math> c^2 </math> eingeschrieben. Und man kann sagen: <math> c^2 = </math> Großes Quadrat minus vier Dreiecke (abc). Im zweiten Fall habe ich in dasselbe große Quadrat die beiden Quadrate über den Katheten, also <math> a^2 </math> und <math> b^2 </math> eingeschrieben. Und es ergibt sich:
:<math> a^2 + b^2 = </math> großes Quadrat minus vier Dreiecke (abc).
:Wenn aber zwei Größen einer dritten Größe gleich sind, dann sind sie auch untereinander gleich. Also:
:<math> a^2 + b^2 = c^2 </math>, was zu beweisen war.
:Nun haben wir unseren pythagoräischen Lehrsatz als allgemeines Gesetz aufgestellt und damit behauptet, es gebe soviel in dieser Weise behandelbare Dreiecke als man nur will. Oder mit anderen Worten: Der pythagoräische Lehrsatz sei eine allgemeine Eigenschaft jedes rechtwinkligen Dreiecks.
:Wir wollen zuerst unsere neue Formel, da wir sie allgemein bewiesen haben und da schon der Augenschein zeigt, daß es unendlich viele rechtwinklige Dreiecke geben kann, einfach als Gleichung betrachten, bei der man nach dem Algorithmus der Gleichungsichre vorgehen darf. Das heißt, wir können, wenn nur eine Seite des Dreiecks unbekannt ist, diese Seite aus den zwei anderen Seiten berechnen. Zur Hilfe stellen wir uns, noch allgemein, die vorläufigen Lösungen auf, die allerdings quadratisch sind.
:<math> c^2 = a^2 + b^2 </math>
:<math> a^2 = c^2 - b^2 </math>
:<math> b^2 = c^2 - a^2 </math>
:Will ich jetzt statt der Quadrate der Seiten, die Seiten selbst berechnen, dann erhalte ich, da ich auf beiden Seiten der Gleichung die Wurzel ziehen muß
:<math> c = \sqrt{a^2+b^2} </math>
:<math> a = \sqrt{c^2-b^2} </math>
:<math> b = \sqrt{c^2-b^2} </math>.
::(<small>Für unseren Zweck beachten wir nur die positiven Werte der Wurzeln. Von den negativen wird bei den imaginären Zahlen die Rede sein.</small>)
:Nun wissen wir aber weiters, daß viele Wurzeln irrationale Ergebnisse liefern. Wir wollen uns dazu sofort ein lehrreiches Beispiel ansehen. Nehmen wir nämlich an, daß die Katheten gleich lang sind und daher nicht a und b, sondern beide a heißen, so erhalten wir für dieses sogenannte gleichschenklig-rechtwinklige Dreieck
:<math> c^2 = a^2 + a^2 </math>
:<math> c^2 = 2 a^2 </math>
:<math> c = \sqrt{2a^2} </math>
:und da man aus <math> a^2 </math> die Wurzel ziehen kann, schließlich <math> c = a \sqrt2 </math>.
:Wurzel aus 2 ist aber, weil 2 kein Quadrat einer ganzen Zahl ist, unbedingt irrational. Also auch <math> a \sqrt2 </math>.
 
 
 
??
 
Fig. 18
 
:Nebenbei bemerkt, kann man zwei rechtwinklig-gleichschenklige Dreiecke zu einem Quadrat aneinanderfügen und ''c'' ist dann die sogenannte Diagonale des Quadrates. Daraus ergibt sich, daß die Diagonale des Quadrates zur Seite des Quadrates stets in einem nicht vollständig ausdrückbaren, irrationalen oder incommensurablen Verhältnis steht. Natürlich auch umgekehrt. Denn wähle ich für ''c'' eine ganze Zahl und will daraus ''a'' berechnen, so erhalte ich, da <math> 2a^2 = c^2 </math>, für <math> a^2 </math> den Wert <math> \textstyle \frac{c^2}{2} </math> oder für ''a'' den Wert <math> \textstyle \frac{c}{\sqrt2} </math>, was wir auch aus unserer ersten Lösung <math> c = a \sqrt2 </math> hätten entnehmen können.
:Irrationalität im geometrischen Sinn ist also nicht die Eigenschaft einer Größe, sondern ihr Verhältnis zu einer anderen, wenn es sich nur in Irrationalzahlen ausdrücken läßt. Und das eben heißt „Incommensurabilität“. Denn es steht mir ja frei, jede beliebige Größe, die ich mit einer anderen vergleichen will, als ganze Einheit oder als ganzes Vielfaches von Einheiten anzunehmen. Zum Überfluß: Wähle ich in unserem Quadrat a als Einheit, dann ist c irrational. Wähle ich dagegen c als Einheit, dann ist a irrational. Daher ist es auch grundfalsch zu sagen, der Kreisumfang sei irrational, da man nach der bekannten Formel <math> 2\pi r = </math> Umfang, wobei ''r'' der Radius (Halbmesser) des Kreises ist, eben den rationalen Halbmesser mit <math> 2\pi </math>, also einer Irrationalzahl multiplizieren muß. Wir sind es eben nur gewohnt, daß der Halbmesser gegeben ist. Würde ich aber umgekehrt etwa einen Stahlzylinder solange abdrehen, bis das feinste Präzisionsmeßband mir den Umfang 1&nbsp;m anzeigte, dann erhielte ich als Radius (Halbmesser) aus der Gleichung: Umfang <math> = 2r \pi </math> für ''r'' den Wert <math> \textstyle \frac{\text{Umfang}}{2\pi} </math>, was bestimmt eine Irrationalzahl liefert. Einmal ist also der Umfang, das andcremal der Radius irrational, je nachdem, welche von beiden Größen in rationalen Zahlen '''gegeben''' ist.
:Pythagoras soll dieses Incommensurable, diese durch keine Regel oder durch kein faßbares Verhältnis ausdrückbare Beziehung in seiner Zahlenmystik als Sinnbild des Lebendigen, das ja stets auch jeder Meßbarkeit trotzt, bezeichnet haben. Wir wollen uns jedoch an dieser Stelle nicht in die Tiefen symbolischer Deutung unserer neuen geometrischen Kabbala verlieren, sondern eine echt kabbalistische Frage aufwerfen. Wir verlangen nämlich eine Regel, nach der wir alle möglichen ganzzahligen rechtwinkligen Dreiecke erzeugen können. Also nicht nur etwa das ägyptische und das indische, sondern soviele als wir wollen.
:Wir entnehmen zu diesem Zweck, ohne auf die Ableitung einzugehen, der vorzüglichen Formelsammlung von Prof. 0. Th. Bürklen (neubearbeitet von Dr. F. Ringleb, Sammlung Göschen) eine Tabelle, die unsere Frage beantwortet. Sind nämlich ''u'' und ''v'' zwei beliebige ganze positive Zahlen, wobei <math> u > v </math>, so ergeben sich rationale rechtwinklige Dreiecke aus den Formeln <math> c=u^2+v^2 </math>, <math> a=u^2-v^2 </math>, <math> b=2uv </math>.
:{| class="wikitable toptextcells" style="text-align:right"
|- style="background:#99FFFF;"
| u
| v
| u<sup>2</sup> + v<sup>2</sup> = c
| u<sup>2</sup> - v<sup>2</sup> = a
| 2uv = b
|-
| 2 || 1 || 5 || 3 || 4
|-
| 3 || 1 || 10 || 8 || 6
|-
| 3 || 2 || 13 || 5 || 12
|-
| 4 || 1 || 17 || 15 || 8
|-
| 4 || 2 || 20 || 12 || 16
|-
| 4 || 3 || 25 || 7 || 24
|-
| 5 || 1 || 26 || 24 || 10
|-
| 5 || 2 || 29 || 21 || 20
|}
 
:Außerdem ist es noch gestattet, die Seiten der in dieser Art festgestellten Dreiecke, etwa des ägyptischen, mit jeder beliebigen positiven ganzen Zahl zu multiplizieren, worauf man wieder eine neue Unendlichkeit ganzzahliger rationaler rechtwinkliger Dreiecke erhält. Also z. B.
:<math> (3 \cdot 13)^2= (3 \cdot 12)^2+ (3 \cdot 5)^2 </math>
:<math> (3 \cdot 5)^2= (3 \cdot 4)^2+(3 \cdot 3)^2 </math>
:<math> 15^2= 12^2+9^2 </math>
:<math> 225=144+ 81=225 </math>.
:So ist auch das indische Dreieck nach unserer Tabelle
:<math> (3 \cdot 13)^2= (3 \cdot 12)^2+ (3 \cdot 5)^2 </math>
:<math> 39^2=36^2+15^2 </math>.
:Auch durch ganzzahlige Division muß ich eine weitere Unendlichkeit von rationalen Dreiecken erhalten, die allerdings nicht mehr ganzzahlige, sondern in Brüchen ausgedrückte Seiten besitzen. Etwa
:<math> \textstyle (\frac{1}{4} \cdot5)^2 = (\frac{1}{4} \cdot4)^2 + (\frac{1}{4} \cdot3)^2 </math>
:<math> \textstyle \frac{25}{16} = \frac{16}{16} + \frac{9}{16}</math>
:Ich kann noch weiter gehen und mit anderen als Stammbrüchen multiplizieren. Z.&nbsp;B.
:<math> \textstyle (\frac{3}{7} \cdot5)^2 = (\frac{3}{7} \cdot4)^2 + (\frac{3}{7} \cdot3)^2 </math>
:<math> \textstyle (\frac{15}{7})^2 = (\frac{12}{7})^2 + (\frac{9}{7})^2</math>
:<math> \textstyle \frac{225}{49} = \frac{144}{49} + \frac{81}{49}</math>
::(<small>Allgemein gesprochen, ist jede Form (mc)<sup>2</sup>=(ma)<sup>2</sup>+(mb)<sup>2</sup> erlaubt, wobei ''m'' eine rationale Zahl (ganz oder gebrochen) und ''a'', ''b'' und ''c'' eine der unendlich vielen Zahlen der Tabelle oder ein rationales Vielfaches dieser Zahlen ist.</small>)
 
== 20 ==
 
 
:'''Zwanzigstes Kapitel'''
:---
:'''Winkel-Funktionen '''
:---
:Wir wollen uns aber nicht verlieren. Denn eine neue große Aufgabe erheischt unsere vollste Aufmerksamkeit. Wir ahnten nämlich schon bei der Ableitung des pythagoräischen Lehrsatzes eine gewisse zwangsläufige Beziehung zwischen den Winkeln und Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks. Die Spezialwissenschaft, die diese zwangsläufigen Beziehungen erforscht, heißt bekanntlich die Trigonometrie. Und diese „Beziehungen“ heißen, was wir schon aus dem Auftreten des Wortes „zwangsläufig“ argwöhnten, die goniometrischen oder die Winkel-Funktionen.
:Natürlich werden wir uns auch diesen Einzelzweig der Mathematik nicht allzulange betrachten können. Wir werden aber einige Grundsätze kennenlernen, da sie später in engste Beziehung zur Differentialrechnung treten.
:Zeichnen wir uns zuerst einen beliebigen Kreis, den wir durch zwei aufeinander senkrecht stehende Durchmesser in vier Viertelkreise oder sogenannte Quadranten zerlegen (s. Fig. 19).
:Wenn wir uns nun weiters vorstellen, daß ein Radius (r) gleichsam aus seiner Ruhelage OA in der Richtung des Pfeiles um den Mittelpunkt des Kreises gedreht wird, bis er schließlich wieder in die neue Ruhelage OB gelangt, dann sind durch den Schenkel OA und den beweglichen Radius alle Winkel von 0° bis 90° entstanden. Wir dürfen es ja als bekannt voraussetzen, daß der ganze Kreis in 360 Grade und sonach ein Viertelkreis in 90 Grade geteilt wird. Jedem dieser Kreisgrade entspricht ein Winkelgrad am Mittelpunkt.
 
 
 
 
 
??
 
Fig. 19
 
 
:Stände der Radius etwa am Kreis bei 45 Bogengraden, dann ist der Winkel bei 0, der diesem Kreisbogen entspricht, ebenfalls 45 Grade usw. Wir können jetzt also sagen, daß der Winkel <math> \alpha </math> (Alpha) unter unserer Voraussetzung im ersten Quadranten (Viertelkreis) alle Werte von 0 bis 90 Graden annimmt. Wenn wir weiters von dem Punkt, an dem der bewegliche Radius r jeweils den Kreis trifft und den wir etwa C nennen, auf die Ausgangsstrccke OA ein Lot fällen (l), dann entsteht ein rechtwinkliges Dreieck, dessen Hypotenuse der Radius und dessen Katheten das Lot 1 und der Abschnitt p auf der Ausgangsstrecke sind. Dieses Dreieck wird in zwei Lagen verschwinden bzw. zu einer geraden Linie zusammenschmelzen. Zuerst, wenn der bewegliche Radius noch auf der Ausgangsgeraden OA liegt, zweitens aber, wenn er die Endgerade OB überdeckt. Dazwischen liegen im ersten Viertelkreis unendlich viele rechtwinklige Dreiecke, deren Winkel <math> \alpha </math> natürlich bei jedem anders ist.
:Die Grundfrage der „Trigonometrie“ nun lautet, wie wir diesen Winkel <math> \alpha </math> bestimmen sollen, wenn wir nur die Seitenlangen des rechtwinkligen Dreiecks kennen. Daß ein Zusammenhang besteht, ist augenscheinlich. Denn im punktierten Dreieck, dessen Winkel a größer ist als 45°, habe ich bei gleichgebliebener Hypotenuse andere Katheten vor mir, die ich l<sub>1</sub> und p<sub>1</sub> nennen will.
:Das Einfachste wäre wohl, die Winkelbestimmung aus der dem Winkel gegenüberliegenden Kathete l bzw. l<sub>1</sub> vorzunehmen. Wir haben aber schon beim pythagoräischen Lehrsatz gesehen, daß die Dinge nicht so einfach liegen. Und deshalb müssen wir auch hier etwas Komplizierteres versuchen. Nämlich den Winkel durch das Verhältnis zweier Seiten auszudrücken. Als alte Mathematiker entsinnen wir uns, daß wir aus drei Seiten nach den Regeln der Kombinatorik 6 verschiedene Verhältnisse je zweier Seiten bilden können. Denn die drei Seiten sind die „Elemente“ und die Verhältnisse sind Zweiergruppen der Variation ohne Wiederholung; also Variationsamben. Die Formel lautet
:<math> \textstyle \binom{3}{2} \cdot 2!= \frac{3 \cdot 2}{1 \cdot 2} \cdot 1 \cdot 2 = 6 </math>.
:Und die Verhältnisse wären:
:<math> r:l, r:p, l:p, l:r, p:r, p:i </math>.
:Tatsächlich sind das alle sogenannten „Winkelfunktionen“. Wir zeichnen uns das rechtwinklige Dreieck noch einmal auf:
 
 
??
 
Fig. 20
 
:Und nennen außerdem gleich die Namen der sechs Funktionen.
:l:r ist der „Sinus“ d. Winkels (Gegenkath. z. Hyp.),
:p:r ist der „Cosinus“ d. Winkels (Ankath. z. Hyp.),
:l:p ist der „Tangens“ d. Winkels (Gegenkath. z. Ankath.),
:l:l ist der „Cotangens“ d. Winkels( Ankath.z.Gegenkath.),
:r:p ist der „Secans“ d. Winkels (Hyp. z. Ankath.),
:r:l ist der „Cosecans“ d. Winkels (Hyp. z. Gegenkath.).
::(<small>„Hyp.“ bedeutet Hypotenuse, „Ankath.“ die dem Winkel ''a'' anliegende, „Gegenkath.“ die dem Winkel ''a'' gegenüberliegende Kathete.</small>)
:Normalerweise werden nur die ersten vier Funktionen benützt, so daß man nicht zu erschrecken braucht. Wir wollen aber den Schrecken noch weiter mildern. Wir benötigen für unsere Zwecke eigentlich bloß die Tangensfunktion. Gleichwohl werden wir uns aus prinzipiellen Gründen zuerst das Verhalten der Sinusfunktion im ersten Kreisviertel ansehen. Hiezu machen wir einen Kunstgriff. Da der Sinus das Verhältnis der dem Winkel <math> alpha </math> gegenüberliegenden Kathete l zum Radius r ist, so wählen wir einen sogenannten Einheitskreis, das heißt einen Kreis mit dem Halbmesser eins, was wir ja dürfen, da kein Mensch uns die Größe des Halbmessers vorschreibt oder vorschreiben kann. Dadurch aber wird unser Sinus zu l:1, also zu l, und wir haben das erreicht, was wir ursprünglich anstrebten: Wir können nämlich jetzt die Größe des Winkels direkt auf die Länge der gegenüberliegenden Seite, also des Lotes l reduzieren und haben dadurch in zauberhafter Art einen Winkel in eine meßbare Länge verwandelt. Da aber weiters der „Radius 1“ so groß sein kann als man will, da wir ja den Radius selbst zur Einheit machten, gilt diese „wirkliche Länge des Sinus“ für alle Fälle, vorausgesetzt, daß wir das Lot in Radien messen. Das aber heißt ja wieder nichts anderes, als daß eben „Sinus <math> \alpha </math>“ das Verhältnis <math> l : 1 </math> oder <math> \textstyle \frac{l}{1} </math> oder l dividiert durch 1 darstellt.
 
 
 
??
 
Fig. 21
 
 
:In der Zeichnung ist also l, l<sub>1</sub>, l<sub>2</sub>, l<sub>3</sub>, usw. jeweils die Größe des Sinus von <math> \alpha </math>, <math> \alpha_1 </math>, <math> \alpha_2 </math>, <math> \alpha_3 </math>, usw. Und ich kann sofort sagen, daß der Sinus von 0 Graden 0 beträgt, während der Sinus von 90 Graden gleich dem Radius selbst ist, also nach unserem Maßsystem den Wert 1 hat. Der Sinus wächst sonach im ersten Viertelkreis vom Wert 0 zum Wert 1 und kann dazwischen sämtliche Zahlenwerte (auch irrationale!) annehmen, die zwischen 0 und 1 liegen. Er drückt sich nämlich durchaus nicht nur in Form von gemeinen Brüchen aus. Denn bei <math> \alpha = 45^\circ </math> etwa ist l die halbe Diagonale eines Quadrates mit der Seite ''r'' oder nach dem pythagoräischen Lehrsatz:
:<math> r^2 = l^2 + l^2 </math> oder
:<math> r = \sqrt{2l^2} = l\sqrt2 </math> oder
:<math> \textstyle l = \frac{1}{\sqrt2} = \frac{1 \sqrt2}{\sqrt2 \sqrt2} = \frac { \sqrt2}{2} </math>,
:was sicherlich eine Irrationalzahl ist.
:Wir wollen diese Gedankengänge jedoch nicht weiter verfolgen, sondern bloß anmerken, daß man in der Praxis gewöhnlich nicht die „wirklichen Längen“, sondern die Logarithmen der wirklichen Längen beniitzt. In den Logarithmenbüchcrn findet man die Logarithmen der Winkelfunktionen berechenbar bis auf Sekunden angegeben (1 Grad = 60 Minuten. Eine Minute = 60 Sekunden oder 1°&nbsp;=&nbsp;60', <math> 1' = 60'' </math>).
:Nun wollen wir in ähnlicher Art die Tangensfunktion, die uns besonders wichtig ist, erforschen. Wir vermuten, daß das Wort irgendwie mit dem Begriff der „Tangente“ zusammenhängt. Und wir werden uns jetzt eine Maschine konstruieren, bei der dieser Zusammenhang auch zum Ausdruck kommt. Da Tangens α gleich ist l:p, werden wir jetzt einen anderen Kunstgriff machen müssen. Denn jetzt wollen wir das ''p'' als Einheit. Daher darf jetzt der wandernde Schenkel („Vektor“) nicht mehr der Radius selbst sein, sondern eine andere Gerade. Wir zeichnen:
 
 
??
 
Fig. 22
 
??
 
Fig 23.
 
 
 
:Wir gewinnen jetzt unser <math> l:p=l:r=l:1 </math> als Abschnitt auf einer Tangente des Einheitskreises. Jetzt ist der Radius eine Kathete, während die andere Kathete und die Hypotenuse veränderlich sind. Unser Gerät folgt in der Konstruktion dem soeben gezeichneten Schema. Wir sehen den Einheitskreis, den Radius = 1, die Tangente, auf der wir als Maßzahlen Radiuslängen auftragen, und endlich die um den Mittelpunkt drehbare Kathete, die auf der Tangente gleitet. Den Winkel α können wir direkt von einem an der Hypotenuse angebrachten Winkelmesser oder „Transporteur“ ablesen.
:Beim Winkel 0 ist auch die Tangensfunktion gleich 0, da 0:1 gleich Null ist. Dann aber wächst die Tangensfunktion, deren Wert sich jeweils auf der „Tangente“ ablesen läßt, rasch an. Bei α=45° ist Tangens α gleich 1, bei 60° gleich 1,73205, bei 70° gleich 2,74748, bei 80° gleich 5,67128, bei 85° gleich 11,43005, bei 89° gleich 57,28996, bei <math> \textstyle {89\frac{5}{6}}^\circ </math> schon 343,77371 und endlich bei 90° plus unendlich, da ich mit meiner beweglichen Kathete die Tangente überhaupt nicht mehr erreichen kann. Wie man sieht, geht das ungeheuerste Wachstum zwischen <math> \textstyle {89\frac{5}{6}} </math> und 90 Grad, und zwar in schnell zunehmendem Tempo, vor sich.
:Nun wird man mit Recht fragen, wozu die Trigonometrie gebraucht wird. Wir behaupten, den Tangens, die Tangensfunktion, für unsere Zwecke in der höheren Mathematik dringend zu benötigen. Das kann aber nicht der alleinige Grund sein, eine so komplizierte und dabei recht schwierige Wissenschaft aufzubauen.
:Daher verraten wir kurz, daß man die Trigonometrie überall dort unbedingt braucht, wo aus Dreieckseiten Winkel und wo aus Winkeln Dreieckseiten zu berechnen sind. Oder, wo ich aus einer Kombination von Dreieckseiten und Winkeln die übrigen Seiten und Winkel gewinnen will. Raumentfernungen werden trigonometrisch bestimmt. Die ganze Geodäsie (die Erdvermessungskunde) beruht auf trigonometrischen Methoden.
:Man kann etwa die Höhe eines Berges wie des Mount-Everest, den noch niemand bestiegen hat, aus großer Entfernung dadurch genau messen, daß man in der Ebene eine gemessene Basislinic wählt, die Bergspitze mit einem Theodoliten (einem Winkelbestimmungsfernrohr) anvisiert und nun aus den Dreiecken die Kathete berechnet, die eben die Höhe des Berges darstellt.
 
 
 
??
 
Fig. 24
 
 
 
:Durch Bestimmung des Winkels α und des Winkels β (kleines griechisches Beta) gewinne ich den Winkel γ (Gamma), der ja nichts anderes ist als (180°— β). Dadurch wieder wird δ (Delta) als [180°-(α+γ)] bekannt. Weiters ist (β+ε)=90°, folglich ε gleich (90-β). Wenn ich aber alle Winkel kenne, weiß ich auch den Wert der Winkelfunktionen und kann nach verhältnismäßig einfachen Formeln der Trigonometrie aus der Basis und den Winkeln α und γ zuerst die Länge einer „Visierlinie“ und aus dieser und α bzw. β die Höhe h berechnen.
:Die Artillerie bedient sich beim Schießen auf entfernte Ziele ähnlicher Methoden.
:Doch wir wollen nicht tiefer in die an sich hochinteressante Trigonometrie und vor allem nicht in die Trigonometrie auf der Kugel (die sogenannte sphärische Trigonometrie) eindringen, welch letztere in der Geographie und Astronomie begreiflicherweise eine ungeheuere Rolle spielt. Wir wollen vielmehr der höchsten Vollständigkeit halber und als Einführung in ein neues wichtiges Gebiet der Geometrie, einen neuen Typus von Zahlen, die recht unheimlichen imaginären Zahlen kennenlernen, deren graphische (bildliche) Darstellung erst dem mathematischen Riesengeist Karl Friedrich Gauß (1777—1855) gelang.
 
== 21 ==
 
 
:'''Einundzwanzigstes Kapitel'''
:---
:'''Imaginäre Zahlen'''
:---
:Nach unserer schon zur Gewohnheit gewordenen Methode wollen wir dieses schwere Gebiet mit einfachsten Überlegungen betreten. Wir erinnern uns, daß uns das Wurzelausziehen die erste große zahlentheoretischc Überraschung gebracht hat: Es lieferte uns die irrationalen Zahlen. Und wieder ist es das Rechnen mit Wurzeln, das uns ins Feld des Imaginären einführt. Imago heißt zu deutsch Abbild, allerdings mit einer leisen Nebenbedeutung der Unwirklichkeit. Daher heißt auch imaginatio soviel wie Einbildung oder Trugbild. Es haftet also unseren Zahlen schon von vornherein eine beinahe degradierende Bedeutung an. Man nannte sie auch früher geradezu „unmögliche“ Zahlen.
:Wir wollen aber jetzt ihre Entstehung zeigen, anstatt sie weiter anzukündigen. Wenn wir uns an unser „Symbolkalkül“ erinnern, an jenen einfachsten Fall dieses Kalküls, nämlich an die „Befehlsverknüpfung“ der Plus- und der Minuszeichen, dann entsinnen wir uns auch der merkwürdigen Tatsache, daß man nach erfolgter Verknüpfung mit dem besten Willen nicht mehr eindeutig auflösen kann, wenn man nicht weiß, wie die Verknüpfung zustande gekommen ist. Kein Mensch kann sagen, ob ein Plus die Multiplikation zweier Plus oder die Multiplikation zweier Minus in sich enthält. Schreibe ich einfach (<math> +2^2 </math>) hin, dann könnte dieses <math> a^2 </math> ebensogut aus <math> (+a) \cdot (+a) </math> als aus <math> (-a) \cdot (-a) </math> entstanden sein. Bei gewöhnlichen Zahlen ist diese Frage uninteressant. Das heißt, sie wird bei den vier einfachen Rechnungsarten nicht aktuell oder bedeutsam. Denn bei der Addition geht es mich ebensowenig an, wie unser (+a<sup>2</sup>) zustande kam, als bei der Subtraktion. Es ist eben (+a<sup>2</sup>) und ich habe es weiter als (+a<sup>2</sup>) zu behandeln. Ebenso bei der Multiplikation und bei der Division. Denn wenn ich selbst durch (+a) oder durch (-a) dividiere, erhalte ich ein richtiges eindeutiges Resultat, unabhängig davon, wie (+a<sup>2</sup>) zustande gekommen ist. Nehmen wir an, es wäre aus (-a)•(-a) zusammengesetzt. Dann ergibt Division durch (+a):
:<math> \textstyle \frac{(-a) \cdot (-a)}{(+a)} =</math><math> \textstyle \frac{(-a) \cdot [(+a) \cdot (-1)]}{(+a)} =</math><math> \textstyle \frac{ (-a) \cdot (+a) \cdot (-1) }{(+a)} =</math><math> \textstyle \frac{(-a) \cdot (-1)}{1} =</math><math> (+a) </math>
:Division durch (-a) aber:
:<math> \textstyle \frac{(- a) \cdot (-a)}{(-a)} = (-a) </math>.
:Wäre es aber aus <math> (+a) \cdot (+a) </math> entstanden, dann hätte ich bei der Division durch (+a) einfach
:<math> \textstyle \frac{(+a) \cdot (+a)}{(+a)} = (+a) </math>
:und bei Division durch (-a)
:<math> \textstyle \frac{(+a) \cdot (+a)}{(-a)} =</math><math> \textstyle \frac{(+a) \cdot [(-a) \cdot (-1)]}{(-a)} =</math><math> \textstyle \frac{ (+a) \cdot (-a) \cdot (-1) }{(-a)} =</math><math> (+a) \cdot (-1) =</math><math> (-a) </math>
:Unsere vier Ergebnisse wären aber auch ohne Frage nach der Herkunft des Pluszeichens bei (+a<sup>2</sup>) durch gewöhnliche algebraische Division richtig erschienen. Denn nach Ausmultiplikation der jeweiligen Zähler ergibt sich <math> (+a^2):(\pm a) </math>, also entweder <math> (+a^2):(+a) </math> oder <math> (+a^2):(-a) </math>. Daß <math> (+a^2) : (+a)=(+a) </math> und <math> (+a^2):(-a)= (-a) </math>, verursacht uns weder Kopfzerbrechen, noch gibt es zu irgendeiner Vieldeutigkeit Anlaß.
:Anders beim Wurzelziehen. Da, wie wir eben zum Überdruß anschrieben, sowohl <math> (+a) \cdot (+a) </math> als auch <math> (-a) \cdot (-a) </math> das gleiche, nämlich <math> (+a^2) </math> liefert, habe ich bei der Auflösung, der Lysis, in der „Wurzel aus <math> (+a^2) </math>“ in <math> \sqrt{a^2} </math> eine mehrwertige Zahl vor mir. Denn, wenn es auch sicher ist, daß der absolute Wert der Wurzel <math> |a| </math> sein muß, weiß ich über das Vorzeichen dieses a gar nichts und kann es auch aus dem Symbol <math> \sqrt{a^2} </math> allein nie erfahren. Ich muß also als ehrlicher Mensch dieses Nichtwissen eingestehen und offen anschreiben : <math> \sqrt{a^2} = \pm a</math>, das heißt entweder (+a) oder (-a). Diese Unsicherheit gilt nicht für alle Wurzelrechnungen.
:Bei <math> \sqrt[3]{a^3} </math> etwa, weiß ich bestimmt, daß die Lösung (+a) sein muß. Denn <math> (-a)\cdot(-a)\cdot(-a) </math> ergäbe <math> (-a)^3 </math>. Woraus weiter folgt, daß <math> \sqrt[3]{(-a)^3} </math> eben (—a) ist. Bei der vierten Wurzel, also bei <math> \sqrt[4]{a^4} </math> gerate ich wieder in Verlegenheit. Denn <math> (+a)^4 </math> kann ebensogut aus <math> (+a) \cdot (+a) \cdot (+a) \cdot (+a) </math>, als aus <math> (-a) \cdot (-a) \cdot (-a) \cdot (-a) </math> hervorgegangen sein. <math> \sqrt[4]{a^4} </math> ist also wieder <math> (\pm a) </math>, plus oder minus ''a''. Wir sehen hier schon ein Bildungsgesetz. Nach den Regeln der „Befehlsverknüpfung“ ergibt eine gerade Anzahl von Pluszeichen ebenso Plus wie eine gerade Anzahl von Minuszeichen. Da aber Potenzen stets soviel Vorzeichen in sich bergen, als der Potenzanzeiger angibt, sind die Wurzeln mit geradem ganzzahligen Wurzelanzeiger mehrwertig, die Wurzeln mit ungeradem Wurzelanzeiger einwertig in ihrer Lösung. Allgemein
:<math> \sqrt[2n]{r} = [\pm s] </math>, <math> \sqrt[2n+1]{r} = [+s] </math>, <math> \sqrt[2n+1]{-r} = [-s] </math>.
:Soweit hätten wir die Sache aufgeklärt. Nun kann uns aber kein Mensch daran hindern, zu fragen, was der Wert einer „geraden“ Wurzel ist, wenn die zu lösende Größe, also der sogenannte Radikand, ein negatives Vorzeichen hat. Etwa
:<math> \sqrt[2n]{-r} = ? </math>
:Wir sind in keiner Weise imstande, diese an sich berechtigte Frage zu beantworten. Denn in dem bisher von uns durchforschten Zahlengcbiet finden wir keine Art von negativen Zahlen, die als Ergebnis einer geradzahligen Potenzicrung entstehen könnten. Jede Zahl zur 2n-ten Potenz muß als Vorzeichen das Plus haben. Wenn aber der Radikand nicht als 2n-te Potenz irgendeiner Art von Zahl aufgefaßt werden kann, dann ist eine Wurzel eben nicht zu ziehen. Weder allgemein, noch konkret, weder als ganze, noch als gebrochene, noch als irrationale, weder als positive, noch als negaLivc Zahl.
:Wir stehen also vor einem unleugbar neuen, uns noch durchaus unbekannten Zahlentypus, der die seltsame Eigenschaft besitzt, daß seine 2n-te Potenz eine negative Zahl liefert. Da nun — wie sich zeigen wird — alle diese Zahlen sich schließlich auf Quadratwurzeln von (-1) zurückführen lassen, wollen wir vorläufig die Allgemeinheit aufgeben und nur mehr von der zweiten Wurzel aus (-1), der <math> \sqrt{-1} </math> sprechen, die sicherlich ein Spezialfall unseres allgemeinen Problems ist. Wir werden diese <math> \sqrt{-1} </math> als die neue Zahl '''i''' einführen. Unsere <math> \sqrt{-1} </math> leistet deshalb so gute Dienste, weil etwa
:<math> \sqrt{-15} =</math><math> \sqrt{(-1) \cdot (+15)} =</math><math> (\sqrt{(-1)} (\sqrt{(15)} =</math><math> i \sqrt{15} =</math>.
:Bei dieser Gelegenheit sei die ganze Heimtücke der etwas tiefer dringenden Mathematik an einer vom berühmten Zahlentheoretiker Dedekind gestellten Aufgabe gezeigt. Wir wissen, daß <math> \sqrt{-1} </math> sowohl (+1) als (-1) ergeben kann. Wir nennen „Wurzel aus eins“ einfach '''r''' und kümmern uns nicht weiter um das Resultat, da ja in der „Wurzel aus eins“ beide Werte (-1) und (+1) stecken, die wir ohne Fehler wahlweise verwenden dürfen. Wir hätten angenommen, daß <math> (r+l)=(+2) </math>, was sich durch Benützung der Pluslösung von <math> r = \sqrt{1} </math> ergibt. Für <math> (r-1) </math> wählen wir die Minuslösung für ''r'' und erhalten (-2). Nun multiplizieren wir zuerst allgemein
:<math> (r+l) \cdot (r-l) = r^2 + r - r - 1 = r^2 - l </math>.
:Da <math> r = \sqrt{1} </math> ist <math> r^2 </math> auf jeden Fall (+1) und <math> r^2 - 1 = 1-1=0 </math>. Hätten wir jedoch unsere Ergebnisse (+2) und (-2) miteinander multipliziert, dann hätten wir als Wert für <math> (r+1) \cdot- (r-1) </math> die Zahl (—4) erhalten. Da nun weiters <math> (r+l) = (+2) </math> also von 0 verschieden war und dasselbe für <math> (r-1)=(-2) </math> galt, aus <math> r^2-1 </math> sich aber Null ergab, folgt, daß es Fälle gibt, in denen die Multiplikation zweier von Null verschiedener Zahlen je nach der Art, in der wir multiplizieren, einmal einen von Null verschiedenen Wert und einmal Null liefert, was unseren bisherigen Algorithmus vollkommen sprengt.
:Wir stoßen aber bei unseren neuen imaginären Zahlen noch auf andere Unbegreiflichkeiten. Hätten wir etwa <math> \sqrt{-9} \cdot \sqrt{-4}</math> zu multiplizieren, dann würde ich nach dem bisher Erforschten ruhig <math> \sqrt{(-9) \cdot (-4)} </math> anschreiben, wie ich etwa
:<math> \sqrt{16} \cdot \sqrt{4} = \sqrt{16 \cdot 4} = \sqrt{64} = \pm 8 </math> berechnen kann. Ich erhielte also
:<math> \sqrt{(-9) \cdot (-4)} = \sqrt{+36} = \pm 6 </math>
:Nun wird man erstaunt sein, daß ich behaupte, dieses Ergebnis sei direkt falsch. Denn <math> \sqrt{-9} = i \sqrt{9}</math> und <math> \sqrt{-4} = i \sqrt{4}</math>, somit
:<math> \sqrt{-9} \cdot \sqrt{-4} = i \sqrt{9} \cdot i \sqrt{4} = i^2 \sqrt{9 \cdot 4} = i^2 \cdot \sqrt{36} = (-1) \sqrt{36} = - \sqrt{36} = \pm 6</math>.
:Im letzten Ergebnis haben sich wohl nur die Vorzeichen <math> \pm </math> auf <math> \mp </math> umgekehrt. Hätte ich aber etwa die <math> \sqrt{36} </math> als ''m'' bezeichnet, dann ist es wohl ein gewaltiger Unterschied, ob ich (+m) oder (-m) als Ergebnis der Multiplikation erhalte. Denn die Vorzeichenumkehrung im allerletzten Resultat ist ja erst eine weitere Befehlsverknüpfung zwischen <math> (-1) </math> und <math> + \sqrt{36} </math>.
:Aber noch andere sonderbare Fälle ergeben sich bei imaginären Zahlen. Der große Physiker und Mathematiker Huygens aus Züllichem war mit Recht erstaunt, als ihm Leibniz die Aufgabe vorlegte,
:<math> \sqrt{1+ \sqrt{-3}} + \sqrt{1- \sqrt{-3}} </math> zu berechnen, und dazu noch behauptete, das einfache Resultat dieser Rechnung sei die greifbare Zahl 2,4494897..., nämlich die <math> \sqrt{6} </math>. Wie ist es möglich, rief Huygens etwa aus, daß aus der Summe zweier Wurzeln, die in sich die Summen und Differenzen von eins mit imaginären Wurzeln enthalten, zum Schluß eine, wenn auch irrationale, so doch positive, greifbare Zahl resultiert? Durch welche schauerlichen Abgründe, setzen wir fort, muß jenseits aller menschlichen Erfaßbarkeit, die unfehlbare Mühle unseres Algorithmus diese Unbegreiflichkeiten gezerrt haben, um sie endlich zur Begreiflichkeit aufzulösen? Oder ist das Ganze nichts als ein formales Spiel? Verfolgen wir die Entstehung unseres Ergebnisses. Es soll sein
:<math> \sqrt{1+ \sqrt{-3}} + \sqrt{1- \sqrt{-3}} = \sqrt{6}</math>.
:Zur Probe quadrieren wir auf beiden Seiten. Also
:a)
:<math> \sqrt{1+ \sqrt{-3}} + \sqrt{1- \sqrt{-3}} \cdot </math><math> \sqrt{1+ \sqrt {-3}} +</math><math> \sqrt{1- \sqrt{-3}} =</math><math> \sqrt{6} \cdot \sqrt{6}</math>
:b)
:<math> \sqrt{1+ \sqrt{-3}} \cdot \sqrt{1+ \sqrt{-3}} + </math><math> \sqrt{1- \sqrt{-3}} \cdot </math><math> \sqrt{1+ \sqrt{-3}} + </math><math>
\sqrt{1+ \sqrt{-3}} \cdot </math><math> \sqrt{1- \sqrt{-3}} + </math><math>
\sqrt{1- \sqrt{-3}} \cdot </math><math> \sqrt{1- \sqrt{-3}} = </math><math> 6</math>
:c)
:<math> \sqrt{(1+ \sqrt{-3})^2} + </math><math> 2 \sqrt{(1- \sqrt{-3}) (1+ \sqrt{-3}) } + </math><math> \sqrt{(1- \sqrt{-3})^2} =</math><math> 6</math>
:d)
:<math> 1 + \sqrt{-3} + 2 \sqrt{1- \sqrt{-3} + \sqrt{-3} - \sqrt{(-3)^2} } + </math><math> 1 - \sqrt{-3} = </math><math> 6</math>
:e)
:<math> 1 + \sqrt{-3} + 2 \sqrt{1 - (-3)} + </math><math> 1
- </math><math> \sqrt{-3} = </math><math> 6</math>
:f)
:<math> 1 + \sqrt{-3} + 2 \sqrt{4} + 1 - \sqrt{-3} = 6 </math>
:g)
:<math>1 + 4 + 1 = 6 </math>
:oder 6 = 6.
:Wir haben also Leibnizens Behauptung glänzend verifiziert. Um aber solchen Unbeholfenheiten der Rechnung, wie wir sie eben „leisteten“, in Zukunft nicht mehr ausgesetzt zu sein, wollen wir uns zwei einfache Handwerksregeln merken. Nämlich
:<math> (a+b)(a-b)=a^2+ab-ab-b^2=a^2-b^2 </math>,
:das heißt Summe mal Differenz gleicher Größen ergibt die Differenz der Quadrate dieser Größen,
:<math> (a+b)^2=(a+b)(a+b)=a^2+ab+ab+b^2=a^2+2ab+b^2 </math>;
:<math> (a-b)^2=(a-b)(a-b)=a^2-ab-ab+b^2=a^2-2ab+b^2 </math>,
:das heißt das Quadrat der Summe oder der Differenz zweier Größen ist stets die Summe der Quadrate dieser beiden Größen plus oder minus dem „doppelten Produkt“ der beiden Größen. Dies nur nebenbei. Wir hatten ausgeführt, daß wir die imaginäre Einheit, <math> \sqrt{-1} </math>, mit dem Buchstaben '''i''' (imaginär) benennen.
:Verbindet sich das '''i''' in irgendeiner Art additiv oder sublraktiv mit einer „reellen“ Zahl, dann sprechen wir von einer „komplexen“ Zahl, deren allgemeine Forin als <math> a+bi </math> geschrieben werden kann. Liegen dagegen, wie im Beispiel Huygens-Leibniz, zwei komplexe Zahlen der Formen <math> (a+bi) </math> und <math> (a-bi) </math> vor, dann heißen sie „konjugiert komplexe“ Zahlen. Die Multiplikation konjugiert komplexer Zahlen ergibt sofort reelle Zahlen, da ja
:<math> (a+b) (a-b)=a^2-b^2 </math>, also
:<math> (a+bi) (a-bi)= a^2-b^2i^2 =</math><math>a^2-b^2(\sqrt{-1})^2 =</math><math>a^2-b^2(-1) =</math><math>a^2+b^2</math>,
:wo das '''i''' offensichtlich herausgefallen ist. Aber auch die Quadrierung konjugiert komplexer Zahlen ergibt reelle Werte. Denn:
:<math> [(a + bi)+(a-bi)]^2= </math><math> (a+bi)^2+2(a^2-b^2i^2)+(a-bi)^2= </math><math> a^2+2abi+b^2i^2+2a^2- </math><math> 2b^2i^2+a^2-2abi+b^2i^2= </math><math> 4a^2+2b^2i^2-2b^2i^2= </math><math> 4a^2 </math>.
:Da wir nun alle Typen von Zahlen kennen, wollen wir, bevor wir uns an die Aufgabe der „Sichtbarmachung“ imaginärer Zahlen wagen, gleichsam den Stammbaum oder die Familienübersicht der Zahlen feststellen:
:1. Reelle Zahlen.
::A. Rationale Zahlen.
:::a) Ganze rationale Zahlen (2, 4, 99).
:::b) Gebrochene rationale Zahlen (<math> \textstyle \frac{5}{7} </math>; 0,25; 0,3 usw.).
::B. Irrationale Zahlen <math> (\sqrt[4]{25}); 3{,}141592 \dots = \pi \text{usw.}</math>.
:::a) Surdischc Zahlen <math> (5 + \sqrt[4]{25}) </math>
:2. Imaginäre Zahlen.
::a) Die Zahl <math> i = \sqrt{-1} </math>.
::b) Komplexe Zahlen (a+bi).
::c) Konjugiert komplexe Zahlen (a+bi) ... (a-bi).
:Eine weitere Einteilung könnte noch unterscheiden:
:a) Konkrete Zahlen (7; <math> \sqrt[4]{25}</math>; <math> 5+i \sqrt{13} </math> usw.).
:b) Allgemeine Zahlen (a, c, <math> \sqrt[n]{p} </math>, <math> \textstyle \frac{r}{s} </math>, <math> a-di </math> usw.).
:c) Unbekannte Zahlen (x, y, z usw.).
:d) Veränderliche Zahlen [<math> y=f(x) </math>, <math> z=5y+3x </math> usw].
:Schließlich hätten wir noch die Unterscheidung in:
:A. Positive und negative Zahlen (+5), <math> - \sqrt{a} </math>, <math> \pm 3x </math> usw.).
:B. Absolute Zahlen (<math> |7| </math>, <math> \textstyle | \frac{3}{16} | </math>, <math> |a| </math>, <math> |d-ni| </math>, <math> |y| </math>).
:Damit sind wir endgültig und unwiderruflich auf der letzten Spitze eines ins Imaginäre erhöhten Zahlenberges angelangt. Es gibt noch Kuriositäten wie die „Quaternionen“ Hamiltons und sogenannte hyperkomplexe Zahlen usw. Wir können aber mit der von uns erreichten Höhe mehr als zufrieden sein. Denn wir sind mit unserem Besitz imstande, in jedes Gebiet der Mathematik tiefer einzudringen.
:Kehren wir jetzt zur gewöhnlichen „Zahlenlinie“ zurück, die uns schon sooft ausgezeichnete Dienste für die Veranschaulichung verwickelter Zahlbegriffe leistete. Und sehen wir zu, wie wir unsere ebenso merkwürdigen als unheimlichen imaginären Zahlen, diesen wahrhaften Zahlenspuk, dabei einordnen oder unterbringen können. Wir hätten uns also die Zahlenlinie gezeichnet und versuchen einmal verschiedene Verwandlungskunststücke.
 
 
 
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Fig. 25
 
 
:Um allgemein rechnen zu können, bclrachten wir irgendein Stück des positiven Astes oder Teiles der Zahlenlinie und nennen es a. In unserem Fall haben wir für a die Zahl 5 gewählt. Wir könnten natürlich dem a jeden anderen endlichen absoluten Wert erteilen. Wenn wir nun den Nullpunkt als Drehpunkt aulfassen, dann können wir unser (+a) solange herumschlagen, bis es das (absolut) gleich große (-a) vollständig überdeckt, mit ihm identisch wird, sich gleichsam in (-a) verwandelt. Wir haben dabei zwei vollkommen willkürliche Festsetzungen gemacht. Zuerst haben wir gerade den linken Teil der Zahlenlinie als Aufmarschlinie der Minuswerte eingeführt. Und zweitens haben wir einen, der Richtung des Uhrzeigers entgegenlaufenden „Drehsinn“ als sogenannte positive Drehung deklariert. Wie also, fragen wir noch einmal, wurde aus (+a) plötzlich (-a)? Was mußten wir geometrisch und arithmetisch ausführen, um zu diesem Ergebnis zu gelangen? Geometrisch, das leuchtet ein, haben wir eine sogenannte „Halbkreisdrehung“ gemacht, wir haben das (+a) um 180 Grade um den Nullpunkt gedreht. Wenn wir nun weiters dieser Drehung gleichsam eine arithmetische Bedeutung verleihen wollen, die unseren allgemeinen Algorithmus nicht stört, dann müssen wir „zur Erhaltung des Algorithmus“ wohl behaupten, eine solche Drehung von 180° entspreche der Multiplikation mit (-1). Das sieht wie ein Zirkelschluß aus, wird aber bald seine große Fruchtbarkeit erweisen. Denn wir wissen dadurch schon, daß <math> (+a) \cdot (-1)=(-a) </math>. Das (-1) nennen wir den „Drehungsfaktor“. Wollte ich nun in unserem Drehsinn weiter drehen, dann würde das (-a) wieder nach 180° sich in (+a) verwandeln und wir hätten arithmetisch: (-a) mal dem Drehungsfaktor (-1) gibt (+a). Unser Algorithmus klappt also bisher ganz gut.
:Nun wollen wir den Kunstgriff des großen Karl Friedrich Gauß selbstforschend nacherleben. Was geschieht, fragen wir, wenn wir nicht um 180°, sondern bloß um 90° drehen? Was wird da aus unserem (+a)? Daß es, absolut genommen, in jeder Phase der Drehung den Wert |a| hat, ist schon deshalb klar, weil es der Halbmesser a eines gewöhnlichen, in Entstehung begriffenen Kreises ist. Aber welches Vorzeichen hat dieses neue, nunmehr senkrecht nach oben stehende |a|? Wir behaupten, weil wir es so wollen, das Vorzeichen der nach oben gerichteten Linie sei (+). Und würden behaupten, daß +|a| „natürlich“ (+a) sei. Das ist nun gar nicht natürlich. Denn wenn die erste 90grädige Drehung am Vorzeichen nichts geändert hat, warum soll dann die zweite plötzlich das Vorzeichen in (-) ändern? Daß dem aber so ist, zeigt nachstehendes Bild.
 
 
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Fig. 26
 
 
:Der Drehungsfaktor kann doch nicht einmal (+1) und dann bei einer anschließenden gleich großen Drehung (-1) sein? Ein solcher „alternierender“ Drehungsfaktor wäre für uns unerträglich. Und würde unerträglich bleiben. Denn wenn wir etwa die Drehung wieder um 90° fortsetzten, müßten wir logischerweise die nach unten gerichtete senkrechte Achse mit (-) annehmen und es würde sich nichts ändern, das heißt der Drehungsfaktor wäre (+1). Versuchen wir jedoch den vierten Viertelkreis, dann springt das Plus wieder in Minus um, denn (-a) muß mit (-1) multipliziert werden, um das als Ausgangslage gewählte (+a) zu liefern. Kurz, ein höchst unbefriedigender Zustand, der noch unbefriedigender wird, wenn wir behaupten müßten, 180 Graden entspreche der Drehungsfaktor (-1) und jeder Hälfte dieser 180 Grade abwechselnd (+1) und(-1).
:Nun haben wir aber ein Mittel, uns aus diesem Zwiespalt zu befreien. Wir suchen einfach, wie groß der „Drehungsfaktor“ bei 90 Graden sein muß! Suchen, wie groß etwas uns noch Unbekanntes sein muß, heißt aber nichts anderes, als mit einer Gleichung operieren. Es hängt also in unserem Falle alles nur davon ab, ob wir auch eine Gleichung ansetzen können. Bekannt ist uns, daß 180° dem Faktor (-1) entspricht. Wir wissen also, daß der Faktor für 180° die Zahl (-1) ist. Diese Zahl (-1) aber soll aus zwei Halbdrehungen von je 90 Graden entstanden sein. Daher ergibt sich, wenn wir den unbekannten Drehungsfaktor für 90 Grade x nennen, daß <math> a \cdot x </math> der Wert für 90 Grade ist. Drehe ich aber um noch 90 Grade, dann muß ich noch einmal mit diesem Drehungsfaktor x multiplizieren. Also <math> (a \cdot x) \cdot x </math> soll gleich sein <math> a \cdot (-1) </math>. Oder als Gleichung
:<math> (ax)x = a(-1) </math>
:Nach Division durch a:
:<math> x^2 = (-1) </math>
:<math> x = \pm \sqrt{-1} </math>.
:Zu unserem maßlosen Erstaunen haben wir die Zahl '''i''' als Drehungsfaktor für 90 Grade gewonnen; da mit aber auch die Zahlenlinie für die imaginären Zahlen. Und eine geradezu mystische Entdeckung zeigt uns, daß die imaginären Zahlen senkrecht zum Nullpunkt der „reellen“ Zahlenlinie verlaufen. Der Algorithmus hat aber noch für etwas gesorgt. Nämlich für die Möglichkeit, jeden absoluten Wert um 90° zu drehen: eine Tatsache, die uns ein Verfolgen der Drehung in allen vier Viertelkreisen offenbaren wird. Wir gehen wieder von <math> (+a) </math> aus. Drehen wir jetzt um 90°, dann erhalten wir <math> (+ai) </math>. Weitere 90° ergeben <math> (+ai)i </math>, also <math> </math>(+aia). Da aber <math> i^2 = -1 </math>, so ergibt sich nach 180° die Zahl <math> (-a) </math>, was ersichtlich stimmt. Nach Durchlaufung des dritten Viertelkreises halten wir bei <math> (-a) \cdot (+i)= -ai </math> und nach den restlichen 90° bei
:<math> (-ai)\cdot i= (-a) \cdot i^2 =(-a)(-1)=(+a) </math>.
:Wenn wir uns vergegenwärtigen, was das heißt, dann können wir uns nur vorstellen, daß alle Zahlen, also die imaginären und die reellen zusammen, eigentlich auf einer Fläche liegen oder, richtiger gesagt, zusammen nur auf einer Fläche dargestellt werden können. Denn ein rechtwinkliges „Achsenkreuz“ ist nur in einer Fläche möglich. Es setzt die sogenannte „zweite Dimension“ voraus.
:Nun sind wir aber noch durchaus nicht zufrieden und wollen unsere neuen Erkenntnisse verwerten. Zu diesem Zweck zeichnen wir uns neuerlich die Achsen unserer „Zahlenfläche“, diesmal jedoch mit konkreten Zahlen (s. Fig. 27).
:Die waagrechte Achse, also unsere gewöhnliche reelle Zahlenlinie, nennen wir die x-Achse, ihre beiden Teile <math> </math>(+x) und <math> </math>(-x). Die imaginäre Linie benennen wir dagegen y-Achse, ihren oberen Teil, der die <math> </math>(+i) enthält, <math> </math>(+y), den unteren Teil mit den <math> </math>(-i) dagegen <math> </math>(-y). Diese Achsenbezeichnung gilt konventionell für alle Achsensysteme, welchem Zweck sie auch dienen. Wir werden mit ihnen noch viel zu tun haben.
 
 
 
 
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Fig. 27
 
 
:Nun interessiert es uns zuerst, ob die imaginäre Zahlenachse ebenso dicht ist wie die reelle. Denn davon hängt offensichtlich die Dichtheit und Erfülltheit der ganzen Zahlenfläche ab. Wäre die imaginäre Achse nicht ebenso dicht besetzt wie die reelle, dann könnte ich natürlich nicht jeden, auch den winzigsten Punkt der Zahlenfläche (und dies noch dazu an beliebigster Stelle) mit einer Kombination aus imaginären und reellen Zahlen besetzen. Doch wir greifen vor. Denn wir wissen noch gar nicht, ob eine solche Kombination graphisch möglich ist und wie sie aussieht.
:Nun überlegen wir folgendermaßen: Unser '''i''' ist eigentlich aucli eine Art von „Befehl“. Nämlich der Befehl, mit <math> \sqrt{-1} </math> zu multiplizieren. An sich hat jede Zahl <math> a </math> ihren absoluten Wert <math> |a| </math>. Gleichgültig ob dieses <math> |a| </math> eine ganze, gebrochene oder irrationale Zahl ist. Ich kann das <math> |a| </math> gleichsam im natürlichen positiven Teil der reellen Zahlenlinie stets finden. Denn „denkhistorisch“ ist dieser Teil der Zahlenlinie der Ausgangspunkt für alles Weitere. Dort lagen zuerst die natürlichen Zahlen, dort schoben wir die Brüche und dann die Irrationalzahlen ein. Jetzt aber wird erst die „Befehlsfrage“, die Vorzeichenfrage, aktuell. Algebraisch verbinde ich jetzt <math> |a| </math> mit Plus oder Minus und gewinne dadurch <math> (+a) </math> oder <math> (-a) </math>. Dann kann ich durch Vierteldrehung noch weitere Befehlsverknüpfungen erzielen. Nämlich <math> (+ai) </math> und <math> (-ai) </math>. Der Plus-i-Befehl heißt: „Senkrecht aus der Null um <math> |a| </math> hinauf!“ Der Minus-i-Befehl dagegen: „Senkrecht aus der Null um <math> |a| </math> hinunter!“ Unser erstes Problem ist damit gelöst. Das absolute <math> |a| </math> gilt für alle vier Achsenteile gleichartig. Es wird nur durch „Vorzeichen“ oder durch „i“-Befehle verändert. An der Dichtheit der imaginären Achse ist also kein Zweifel. Sie ist gestaltgleich, isomorph mit der reellen Achse.
:Und es gibt ja tatsächlich 4 Zahlen wie <math> \textstyle \frac{1}{5}i </math>, <math> \textstyle \frac{1}{17}i </math>, <math> \textstyle i \cdot \sqrt[4]{25} </math>, <math> \textstyle \frac{16b}{9i} </math>, <math> \textstyle \frac{9i}{5} </math> usw. Man könnte '''i''' wie ein Vorzeichen oder wie einen Koeffizienten behandeln und schreiben:
:<math> \textstyle i \cdot \frac{1}{5} </math>, <math> \textstyle i \cdot \frac{1}{17} </math>, <math> \textstyle i \cdot \sqrt[4]{25} </math>, <math> \textstyle \frac{1}{i} \cdot \frac{16b}{9} </math>, <math> \textstyle i \cdot \frac{9}{5} </math> usw.
:Nun fragen wir aber weiter: Wie also sehen additive oder subtraktive Kombinationen reeller und imaginärer Zahlen aus? Kurz, wie verbildliche ich die „komplexen“ (lateralen) Zahlen der Form <math> (a \pm ib) </math>? Daß ich die „Paarung“auf einer Achse kaum vornehmen kann, ist klar. Denn Drehungsfaktoren der Form <math> (+1) </math> oder <math> (-1) </math> drehen die Zahl <math> |a| </math> auf die reelle Achse, Drehungsfaktoren der Form <math> (\pm i) </math> dagegen auf die imaginäre. Ich hätte also eigentlich, wenn ich Drehungsfaktoren anschreibe, die allgemeinste Art von Zahlen, die komplexen, so zu schreiben:
:<math> (\pm 1)|a| \pm (\pm i)|b| </math>.
:Nun hängt der ganze Unterschied imaginärer oder reeller Zahlen nur mehr davon ab, ob <math> |a| </math> und <math> |b| </math> von 0 verschieden sind oder nicht. Ist <math> |a| </math> gleich Null, dann bleibt <math> (\pm i) |b| </math> übrig, das heißt eine imaginäre Zahl <math> (\pm ib) </math>. Wird <math> </math>|b| gleich Null, dann bleibt <math> (\pm 1)|a| </math>, das heißt die reelle Zahl <math> (\pm a) </math>. Werden <math> |a| </math> und <math> |b| </math> gleichzeitig 0, dann entsteht die 0 selbst.
::(<small>Die daher eigentlich keine Zahl, sondern ein einzeln dastehender Grenzbegriff, gleichsam der Ursprungsort aller Zahlen ist. Die 0 kann auch als Buchstabe groß O gelesen werden: 0&nbsp;=&nbsp;0rigo, der Ursprung!</small>)
:Ist dagegen <math> |a| </math> gleichzeitig mit <math> |b| </math> von 0 verschieden, dann haben wir eben unser allgemeinstes, umfassendstes Schema einer Zahl überhaupt, nämlich den „Komplex“, die Zusammenfassung aller Zahlenmögliclikeiten, die komplexe oder laterale Zahl.
:Zur Verbildlichung müssen wir uns fragen, was solch ein Befehl <math> a+bi </math> oder <math> a-bi </math> u.&nbsp;dgl. eigentlich bedeutet, <math> a </math> oder <math> (+a) </math> heißt, man solle auf der Plusseite der Zahlenlinie um a vorrücken. Konkret etwa bis 3. Und <math> bi </math> heißt, man möge gleichzeitig, senkrecht dazu, um <math> bi </math>, konkret etwa um <math> 4i </math>, in die Höhe steigen. Dies ist aber ein Bewegungsvorgang, eine kinematische oder phoronomische Aufgabe. (Kinema = Bewegung; Phoronomie = abstrakte, allgemeine Bewegungslehre.) Und zwar ist das Endziel der Bewegung durch eine, gleichzeitig in zwei senkrecht aufeinander stehenden Richtungen erfolgende Bewegung erreichbar: muß sich also als Ergebnis dieser '''beiden''' Bewegungen darstellen. Kurz, der Endpunkt muß gleichzeitig dem reellen und dem imaginären Befehl entsprechen. Zeichnen wir einmal dieses <math> (3+4i) </math> (s. Fig. 28).
:Unsere Aufgabe ist gelungen: Die „komplexe Zahl“ liegt außerhalb der Achsen in der Zahlenfläche! Nun wollen wir zur weiteren Verdeutlichung komplexe Zahlen in allen vier Viertellireisen (Quadranten) zeichnen (s. Fig. 29).
:Die Vorzeichen- und i-Befehle dürften jetzt klar sein. Besonders bemerkenswert ist die Zahl im Quadranten IV, da hier die imaginäre Komponente außerdem noch irrational ist. Nämlich <math> - \pi \cdot i </math>, was soviel heißt wie <math> -(3,1415926 \dots) \times \sqrt{-1} </math>.
 
 
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Fig. 28
 
 
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Fig. 29
 
 
:So interessant und fruchtbar die weitere Theorie der imaginären Zahlen wäre, auf deren systematischer Verwendung einer der höchsten Teile der höheren Mathematik, die sogenannte „Funktionentheorie“ oder „Theorie komplexer Veränderlicher“ beruht, würden wir unserer Aufgabe untreu, wenn wir weiter verweilten. Wir beschränken uns also darauf, anzumerken, daß wir für uns die „komplexen Zahlen“ einfach als algebraische „Mehrglieder-Ausdrücke“ ansehen und mit ihnen vorsichtig aber unbefangen innerhalb der vier Grundoperationen rechnen können. Denn in letzter Linie ist auch das i nur ein „Apfel“. Allerdings muß man bei konkreter Ausrechnung stets beachten, daß das '''i''' eben <math> \sqrt{-1} </math> bedeutet. Wir kommen aber für alle Berechnungen mit unseren Gesetzen der „Befehlsverknüpfung“ sicherlich aus.
:Daß man bei den vier Grundrechnungsarten (Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division) auch bei Auftreten imaginärer Zahlen in keine Schwierigkeiten gerät, haben wir soeben angedeutet. Wir wollen aber dieses Geisterreich der Mathematik, in dem Zusammenhänge zwischen Zahlen und Formen offenbar werden, die im grellen Licht der reellen Zahlen kein menschliches Auge ahnt, doch nicht verlassen, ohne wenigstens einen kleinen Vorgeschmack der Wunder dieses Geistcrreichs gegeben zu haben. Daher verraten wir, daß die Potenzierung von '''i''', der Eigenschaft des '''i''' als Drehungsfaktor entsprechend, einen Zyklus liefert, der folgendermaßen verläuft:
:<math> i^2 = (\sqrt{-1})^2 = (-1)^{\frac{2}{2}} = (-1)^1 = -1 </math>
:<math> i^3 = i^2 \cdot i = (-1) \cdot i = -1 </math>
:<math> i^4 = i^3 \cdot i = (-i) i = (-1) i^2 = +1 </math>
:<math> i^5 = i^4 \cdot i = (+1) \cdot i = +1 </math>
:<math> i^6 = i^5 \cdot i = (+i) i = i^2 = -1 </math>
:usw.
:Oder allgemein:
:<math> i^{4n} = +1 </math>
:<math> i^{4n+1} = +i </math>
:<math> i^{4n+2} = -1 </math>
:<math> i^{4n+3} = -i </math>
:<math> i^{4n+4} = +1 </math>
:usw., wobei als ''n'' die natürlichen Zahlen von 1 bis zu jeder endlichen Größe eingesetzt werden dürfen.
:Noch schwieriger und mystischer als die Potenzierung gestaltet sich das Wurzelziehen aus imaginären und komplexen Zahlen. Da unser Hauptbestreben dabei stets darauf gerichtet bleibt, alle höheren Wurzeln aus <math> (-1) </math> auf Quadratwurzeln aus <math> (-1) </math>, also auf i-Werte zu reduzieren, wurden durch verschiedene geniale Kunstgriffe und unter Zuhilfenahme der Idee des Drehungsfaktors zahlreiche Formeln für diesen Zweck abgeleitet, deren Entwicklung uns zu weit führen würde.
::(<small>Ein Koeffizient des i macht dabei keine Schwierigkeit. Wir können ihn stets reell machen. So ist etwa <math> \sqrt[12]{-9} = \sqrt[12]{9}\cdot \sqrt[12]{-1} = \sqrt[12]{9}\cdot \sqrt[6]{1} </math>, allgemein <math> \sqrt[2n]{-a} = \sqrt[2n]{a} \cdot \sqrt[n]{1} </math>!</small>)
:Wir begnügen uns also damit, anzudeuten, daß die Quadratwurzel einer komplexen Zahl <math> a+bi </math> folgendermaßen berechnet wird:
:<math> \sqrt{a \pm bi} = \sqrt{ \frac{\sqrt{a^2+b^2} +a}{2} } \pm i \cdot \sqrt{ \frac{\sqrt{a^2+b^2} -a}{2} } </math>,
:eine Formel, die natürlich auch für Quadratwurzeln aus '''i''' selbst verwendet werden kann, da ja '''i''' nichts anderes ist als eine komplexe Zahl <math> (a+bi) </math>, bei der <math> a=0 </math> und <math> b= \pm1 </math>. Die <math> \sqrt{i} </math> ergibt somit nach unserer Formel <math> \textstyle \frac{1}{\sqrt{2}} + i \frac{1}{\sqrt{2}} </math> und die Wurzel <math> \sqrt{-i} </math> nach derselben Formel <math> \textstyle \frac{1}{\sqrt{2}} - i \frac{1}{\sqrt{2}} </math>.
:Daß die Wurzel aus '''i''' nicht mehr rein imaginär, sondern komplex wird, ist daraus begreiflich, daß sie nicht mehr auf der i-Achse, sondern in der Zahlenfläche liegt.
:Ganz allgemein ist jede n-te Wurzel aus '''i''', die wir nur mühsam und schrittweise aus obiger Formel durch fortgesetztes Wurzelziehen finden könnten, wobei außerdem nur die 2., 4., 8., 16., 32. usw. Wurzel unmittelbar zugänglich wäre, durch eine andere Formel leicht und sicher zu berechnen. Sie lautet:
:<math> \textstyle \sqrt[n]{1} = \cos ( \frac{90}{n} )^{\circ} + \cdot \sin (\frac {90}{n} )^{\circ} </math>
:wobei das ''n'' beliebig groß sein darf. Aus diesem letzten Beispiel kann der Leser schon die dämonischen Möglichkeiten unseres imaginären Geisterreichs ahnen: Eine n-te Wurzel aus '''i''' hat sich plötzlich in eine komplexe, aus Winkelfunktionen gebildete Zahl verwandelt. Im Geisterreich binden und lösen sich eben die Gegensätze der unteren Welten!
:Nun, im wohlerworbenen Besitz des gesamten Zahlen-Kosmos, wollen wir unsere Erfahrung in der Befolgung von Bewegungsbcfehlen für einen Zweck verwenden, der uns in überraschendster Weise all das zur Einheit verbindet, was wir bisher als weltenweit voneinander getrennte Gebiete zu betrachten gewohnt waren.
:Eine lange historische Entwicklung hat diese Entdeckung der „analytischen Geometrie“ oder der „Koordinaten“ von Apollonius von Pergä über scholastische Klosterforschungen, über Nicole von Oresme (14. Jahrhundert) und über Johannes Kepler tastend bis zu Fermat und Descartes geführt. Mit dem Namen des Descartes (Cartesius) aber, der als junger Reiteroffizicr in ungarischen Winterlagern, mitten in den Schrecknissen des Dreißigjährigen Krieges, diese Kunst der „Analysis“ zu einer vorläufigen Vollendung trieb, wollen wir Ehrfurcht vor dem Genius unbeirrbarer geistiger Schaffenskraft unlöslich verbinden.