Diferencia entre revisiones de «Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 152c»

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Línea 219:
:Die Sklaven liefen in die Richtung, aus der er gestern zum Museion gekommen war. Sie machten aber vor dem Paneion nicht halt, sondern bogen erst ein gutes Stück westlicher gegen Süden ab. Das Stadtviertel, in das die Querstraße jetzt vordrang, wurde zusehends reicher und vornehmer. Hinter Mauern und Gittern funkelten inmitten feucht duftender Gärten prächtige Landhäuser, die manchmal sogar Palästen glichen. Bis sich endlich vor ihnen wuchtig die südliche Stadtmauer erhob. Hier bogen die Sklaven neuerlich gegen Westen und hasteten auf einem schmalen Pfad zwischen zwei Gärten, der plötzlich nicht weiterführte, da ihn ein hohes Bronzetor abschloss. Sie stellten die Sänfte behutsam auf das Pflaster, und einer von ihnen lief voran und öffnete mit einem mächtigen Schlüssel das Tor.
 
:Nach Durchquerung des Tores wurde das Ziel des Weges jedoch durchaus nicht deutlicher, da dieser Weg in einigen Windungen sich zwischen hohen Gebüschen durchschlängelte.
 
 
 
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:Unvermittelt bog er nach Süden ab und sie standen am Fuße der riesigen Stadtmauer, auf deren Höhe eine Holzrampe hinaufführte, der man es ansah, dass sie im Notfall sofort entfernt werden konnte.
 
:Archimedes wusste nicht mehr, was man mit ihm vorhatte. Was waren das für seltsame Umwege und Winkel? Wollte man ihn gar in eine Falle locken? Auf der Mauer oder außerhalb der Mauer konnte „die Wirklichkeit“ doch nicht Wohnen?
 
:Geduldig schleppten ihn die Sklaven die Rampe hinauf, ohne ihren Lauf wesentlich zu verlangsamen. Auf der Höhe der Mauer stellten sie die Sänfte nieder, und der Begleiter, der bisher vorangelaufen war, trat zu Archimedes:
 
:„Die Herrin lässt dich bitten“, sagte er nach tiefer Verbeugung, „du mögest hier ein wenig aussteigen und dir ihren Wohnsitz von oben betrachten.“
 
:Archimedes hatte die Worte kaum verstanden, jedoch kam er unwillkürlich der Aufforderung nach. Als er aber an den südlichen Rand der Stadtmauer getreten war, stockte ihm fast der Atem. Links von ihm lag der mächtige „Sumpfhafen“, der alle Schiffe barg, die vom Nil aus Ägypten, Arabien oder Indien herüberkamen. Oder von noch weiter her. Der Hafen aber war durch eine Mole abgeschlossen, nach deren Einmündung in die Stadtmauer diese senkrecht in den See Marcotis abfiel, so dass die Wellen des Sees ihren Fuß netzten. Unmittelbar nun unter ihrem Standpunkt lagerte sich vor die Stadtmauer, in den See hinein, eine kleine Halbinsel, auf der inmitten herrlicher üppigster Gärten ein Palast stand, dessen Vorderseite ihnen zugekehrt war. Sein Baustil war ein Gemenge ägyptischer, hellenischer und fremdartiger Architektur, und Goldmosaiken und Malereien flirrten an seiner pylonenartig gestalteten Fassade in der tiefstehenden Sonne. Vor dieser Fassade, unmittelbar unter ihnen, aber dehnte sich ein buntgepflasterter Vorhof.
 
:„Der Tempel der Wirklichkeit, soll ich dir sagen, o Herr, wenn du zum erstenmal hinabsiehst, hat mir die große Herrin befohlen“, murmelte der Sklave. „Jetzt aber darf ich dich bitten, wieder die Sänfte zu besteigen. Wir sind sofort am Ziele.“
 
:Tempel der Wirklichkeit? klang es in Archimedes nach, als schon die Sklaven, diesmal auf einer flachen Treppe, die ebenfalls an der Stadtmauer klebte, hinunterstiegen. Tempel der Wirklichkeit? Es gab kaum Unwirklicheres als das Bild, das er von oben gesehen hatte. Der Weite, schilfdurchsetzte See, die zahllosen Sumpfvögel, die Schiffe im Hafen und nicht zuletzt die Halbinsel. War alles ein Kult und die „Wirklichkeit“ eine Priesterin dieses Heiligtums? Rätsel über Rätsel.
 
:Es wurde aber noch unwabrscheinlicher, als sich vor ihnen die Torflügel des Palastes öffneten und die Sänfte durch eine Einfahrt in eine verschwenderisch prächtige Säulenvor« halle gelangte.
 
:Die Sklaven baten Archimedes auszusteigen und verneigten sich wiederum tief. Plötzlich standen zwei in Goldstoff gekleidete Knaben vor ihm. Auch die Knaben verneigten sich und ersuchten Archimedes, ihnen zu folgen.
 
:Es ging durch die Säulenvorhalle, einige Treppen hinan, hierauf durch zwei verhältnismäßig niedrige Säle ägyptischen Stiles in einen dritten Saal, dessen Wände teils in ägyptischer, teils in hellenischer Art bemalt waren, wie auch Standbilder und Möbel das Antlitz beider Völker trugen.
 
:Von einem Lager aus Edelholz aber erhob sich lächelnd das Mädchen Wirklichkeit und kam ungeziert und natürlich auf Archimedes zu.
 
:„Es freut mich, dass du mir vertrautest“, sagte sie sicher und freundlich. „Du wirst einsehen lernen, dass die Wirklichkeit all das ist, was nun einmal auf der Erde Dasein hat. Die Wirklichkeit schaut man, und man braucht nicht zu fragen, ob sie vorhanden ist. Man kann sie sogar durch Fragen zerstören.“ Plötzlich änderte sich ihre Stimme. „Es ist heute ein prächtiger Abend. Du brauchst die Stille, und auch ich brauche sie. Wir werden am Ufer unser kleines Mahl einnehmen.“ Sie winkte die Knaben fort und fasste Archimedes an der Hand wie ein kleines Kind.
 
:Archimedes war so benommen, dass er sich kaum Rechenschaft gab, wie sie beide durch Gänge, über Höfe und durch Säulenhallen in einen Zaubergarten hinauskamen. Es war ein lichter Hain unmittelbar am Ufer des Mareotissees, dessen Schilf den Garten begrenzte. Flamingos standen im Schilf, Hunderte und Hunderte anderer Vögel huschten und flatterten umher. Ganz nahe am Ufer aber war ein mosaikbelegter Platz mit hohen Kandelabern herum, in dessen Mitte ein Tisch und zwei Klinen standen. Auf dem Tisch aber waren, mit feinsten Schleiern bedeckt, allerlei Speisen und Getränke vorbereitet.
 
:Jetzt erst blickte Archimedes ,die Wirklichkeit‘ an. Sie war heute weltenweit anders
gekleidet als gestern. Irisierende Seide, durchsichtiger Byssos, ein schwerer goldener Juwelengürtel, Juwelenringe um die bloßen Arme und eine Haartracht, die durch einen Goldreifen zusammengehalten war. Nur der Duft fremdartiger Blumen war derselbe. Auch hatte sie heute eine dunklere Gesichtsfarbe und grellrote Lippen. Die Nägel ihrer sprechenden, beweglichen Hände aber waren matt vergoldet.
 
:Als sie sich gesetzt hatten, zog sie die Schleier vom Tisch und knüllte sie achtlos zusammen, bevor sie sie auf den Boden gleiten ließ.
 
:„Weißt du Neues vom pergamenischen Schreibstoff?“ fragte sie unvermittelt und brach einen Granatapfel auf.
 
:„Woher weißt du davon?“ fragte Archimedes erschrocken zurück.
 
:„Es ist das Geringste, was ich weiß. Aber ich sehe, dass dich Eratosthenes schon eingeweiht hat. Er war unhöflich und hat mich heute ohne Nachricht gelassen.“
 
:„Dazu also?“ stieß Archimedes geärgert hervor, da ihn plötzlich Enttäuschung überkroch.
 
 
 
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:„Nein, durchaus nicht!“ lachte sie. „Das hätte ich einfacher haben können. Ich bin aber nun einmal eine alberne Person und liebe das Versteckenspielen. Der Wirklichkeit ist nie etwas genug. Ihr genügen nicht einmal Paläste. Sie will alles haben. Auch Geheimnisse. Auch rollende Kreisel, die Jünglinge herbeizaubern.“ Sie biss in die roten Kerne des Granatapfels und warf sie dann den Vögeln hin, die mit gierigen Stelzschritten darauf zuschossen. Plötzlich wurde sie sehr ernst und sah ihn mit einem Blick an, dessen Tiefe und Schönheit er trotz all ihrem Liebreiz noch nicht geahnt hatte. „Ich bin gleichwohl irgendwie mit den Göttern befreundet“, setzte sie fort. „Ich rief dich um sehr, sehr ernster Dinge willen. Und bin dir dankbar, dass du kamst. Viel von dem, was ich dir sagen will, kann ich heute nicht zureichend erklären. Ich muss es dir zeigen. Ich wollte aber heute ein wenig mit dir beisammen sein, um die Fremdheit zu verscheuchen. Hier in meinem Hause. Und ich bitte dich, in vier Tagen dich meiner Führung anzuvertrauen. Es gibt da drüben sonderbare Dinge.“ Und sie zeigte mit der Hand in unbeschreiblichcr Anmut über den See nach Südosten. Dann blickte sie zu Boden und schloss: „Eratosthenes wird dir sagen, wer ich bin. Frag ihn nach der Wirklichkeit. Aber, bitte, verschmäh jetzt die Speisen nicht, die ich mit großer Sorgfalt für dich bereiten ließ.“
 
:Archimedes schwieg. Ein Wirbel von Gedanken erfasste ihn. War sie eine Königin? Ihr Haus? Dieser Palast, dieses Reich gehörte ihr? Und die Speisen? Es waren Krebse, Fische und Dinge, die er überhaupt nicht kannte. Alles in goldenen Schüsseln mit ägyptischer Glasur. Dunkler, schwerer Wein, helle Fruchtsäfte und süße Mete.
 
:„Sieh, Archimedes“, sprach sie weiter, „du weißt, dass ich eine Milesierin bin, dass ich in Athen weilte. Das habe ich dir bereits gesagt. Auch die Mathematik ist mir nicht fremd. Ich kenne das Reich der Formen und das Reich der Zahlen. Ein wenig kann ich beurteilen, wer du bist. Ich hörte, dass du aus Syrakus hierherkommen würdest. Ich höre alles. Meine Leute haben am Hafen erfahren, dass du eintrafst. Ein Eilbote hat mich davon verständigt und einige andere haben mir fortlaufend berichtet, wohin du gingst. Unser Zusammentreffen auf der Spitze des Paneions war kein Zufall. Ich suchte dich. Als ich dich aber sah, kam zu meiner Neugierde noch anderes hinzu. Nennen wir es Freundschaft. Kurz, ich will zum Ruhm und zur Größe des Hellenentums so viel beitragen, als ich kann. Und du sollst auch nicht glauben, dass in Alexandrien nur Narren und Buhlerinnen wohnen. Richtiger gesagt, ist es so. Ich will aber nicht, dass dich diese Atmosphäre von dem abzieht, wozu du bestimmt bist. Und da war ich gestern eine Göttin, heute bin ich eine Königin, in einigen Tagen werde ich wieder anderes sein. Stets aber die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist ein Mädchen, Archimedes. Oder eine Frau. Aber auch das darfst du nicht falsch verstehen. Ich habe die Weihen des großen Dionysos, Archimedes. Ich kenne auch die Abgründe des Wirklichen.“ Unvermittelt lenkte sie ab: „Sieh, wie die Vögel plötzlich erschrocken auseinanderfahren! Sie erschrecken über das Geräusch ihres eigenen Flügelschlages.“
 
:Archimedes fühlte sich durch ihre Worte stets mehr und mehr gebannt. Er hatte es schon längst aufgegeben, ihr Rätsel zu ergründen. Gab es da überhaupt ein ergründbares Rätsel? Wer sie war, wie sie hieß, ihren Rang, Reichtum, all das würde er von Eratosthenes erfahren. Dadurch auch wahrscheinlich ihre Absichten. Was bedeutete das aber? Wie konnte das die Ruhe, den Auftrieb erklären, den sie ihm gab. Er sah sich genau. Sah sich wie einen schüchtern blöden Epheben vor ihr sitzen, der ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Entschiedenheit nicht einmal ein Wort hervorbrachte. Trotzdem war es keine Lähmung, keine Befangenheit. Er wollte gar nicht sprechen, wollte sich ihr hingeben, sich von „der Wirklichkeit“ einhüllen lassen, fühlte stets wieder das letzte Geheimnis der „Urmütter“, das sie ausstrahlte. Sie stand mit dem geheimnisvollen „Ort der Entstehung“, dem Urgrund, sichtbar in Verbindung. Deshalb auch wusste er, warum er nicht sprach. Es war ihre Aufgabe, ihn schweigen zu lassen, ihn zu vereinigen, ihm letzte Ruhe zu schenken. Oder war sie doch nur ein liebendes Mädchen, das in einer vergänglichen Laune sich den Spaß leistete, einen Weisen des Museions zu verwirren? Sie hatte es jetzt schon in der Hand. Das fühlte er an seiner Angst, die sofort in ihm emporstieg, wenn er solche Gedanken auch nur ein wenig erwog.
 
:„Du spielst mit mir“, sagte er plötzlich vor sich hin. „Die Wirklichkeit ist eine große Gefahr für Menschen, denen die Götter einen unabänderlichen Weg vorgeschrieben haben. Vielleicht sollen sie eben deshalb der Wirklichkeit ausweichen.“
 
:Sie schüttelte fast traurig den Kopf.
 
:„Ich spiele nicht mit dir, Archimedes“, antwortete sie weich und gleichwohl fest. „Ich will es eben verhindern, dass du die Wirklichkeit dort begegnest, wo sie dir schadet. Dein Wille auszuweichen ist ein frevelhafter Wille. Er ist die Ansicht dieses gespenstischen Museions, das du erst kennenlernen wirst, bis es dich nicht mehr blendet. Nein, bei mir ist sicherlich nicht von mir, auch nicht von Archimedes die Rede, sondern von Hellas, wenn ich das Wort Platons abwandeln darf. Du ahnst jetzt schon, dass ich fast alles könnte, was ich wollte. Als Göttin, als Königin, als das, was du noch erfahren wirst. Aber ich will Beschränktes, Klares, Großes. Wenn du es Spielerei nennst, dann widerspreche ich nicht. Vor den Göttern ist alle Menschentat irgendwie Spielerei. Ich werde nur das nicht tun, was bei den Menschen mit Recht als Verspieltheit bezeichnet wird. Darf ich dir jetzt von der Stadt der Städte, von diesem Alexandrien, erzählen, wie ich es sehe? Von dieser Stadt, die ich so wenig liebe, dass ich mir das Haus außerhalb der Stadtmauer baute? Ich halte meine Tat nicht einmal für gefährlich. Alexandrien hat keine möglichen äußeren Feinde. Ich bin hier geschützter als innerhalb der Mauer. Denn solche Träume wie Alexandrien verwirren sich nur in sich selbst.“ Sie bot ihm Speisen an und schenkte seinen Becher voll.
 
 
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:Dann erzählte sie eigentümliche und ungeahnte Dinge von dieser Stadt, die sie anscheinend bis in die letzten Zuckungen ihres Pulsschlages kannte.
 
:Längst waren die letzten purpurroten und violetten Farben, die auflodernd wie eine riesige Kuppel über dem See Mareotis und über der mächtigen Linie der Stadtmauer, über Schiffen, Schilf und Wasservögeln gestanden waren, einem kalten Perlmuttergrau gewichen. Auch dieses zerfloss in milchiges Nichts und verwehte schließlich, so dass nur Dunkelheit überall lag. Lautlose Sklaven hatten die Kandelaber entzündet. Und die beiden saßen plötzlich in einem kleinen abgegrenzten Lichtkreis, der nach allen Seiten verschattende rote Zungen aussandte.
 
:Durch all diesen Wechsel aber klang weich und eindringlich der schmiegsame ionische Dialekt der Milesierin, doppelt melodisch den Ohren des korinthischen Syrakusers.
 
:Es gibt Stunden, in denen Menschenlaute an unsere Ohren dringen, deren keiner uns ganz bekannt und ganz unbekannt ist. Wiederholte Träume, Rückerinnerung an ferne, ferne Zeiten, die vielleicht vor unsre Geburt reichen. Keiner dieser Laute, kein Gedanke, kein Gefühl aber ist uns innerhalb dieser Offenbarungswelt zuwider.
:So erging es Archimedes. Nach kurzer Zeit begann er zu antworten, begann sein Dorisch in ihr Ionisch zu flechten. Und es gab kein Geheimnis, kein Tasten, kein Berechnen da, obgleich alles, von außen gesehen, voll von Rätseln und Unausgesprochensein war.
 
:Harmonisch wie alles andre war der Abschied. Sie wanderten schweigend zurück durch den Garten, leise knirschte der Kies unter ihrem Schreiten, und er wusste es im eigentlichen Sinn des Wortes erst in der beleuchteten Pracht der Säulenhallen, als sie mit leicht gesenktem Kopf und nachlächelndem Mund neben ihm einherging, dass noch im Urraum tiefsten Dunkels vor dem Tore ein kurzer, gleichwohl aber verlöschender und wahnsinnsnaher Kuss auf seinen Lippen gebrannt hatte.
 
:Unheimlich dazu wie das Siegel Salomos, von dem er heute vormittags in der Wandelhalle des Museions gehört hatte.
 
:Sie sprach halblaut, als fürchtete sie sich, die Urgewalt dieses riesigen Geschehens, das für einige zuckende Herzschläge in jedem der beiden und doch wie ein ganzer Kosmos außerhalb von ihnen sich ereignet hatte, zu profanieren oder in das Gegenteil furchtbarer Fremdheit zu verkehren. Sie wies nur ab und zu auf Bilder und Bronzen, um das Urgöttliche durch den Mittler der Kunst leise zum klaren Dasein heruntergleiten zu lassen. Und sie brachte es auch zustande, dass sie beide bereits unabsichtlich und unbefangen miteinander über gleichgültigere Dinge sprachen, als die ersten anderen Menschen, die Diener im Palaste, ihren Weg kreuzten.
 
:Kurz und freundlich erteilte sie Befehle, verabschiedete sich mitten in der Flucht ihrer Säle von Archimedes und überließ ihn der geräuschlosen Obhut der Sklaven, die ihn durch eine flackernde Sternennacht, durch zunehmenden Staub und durch das noch Wache, rücksichtslose Leben der Weltstadt ins Museion zurückgeleiteten.
 
:Am Tische des großen Beta wurde der kaum mehr erwartete Gast mit Jubel begrüßt. Man fragte nicht, beachtete nicht, dass Archimedes schwieg. Man diskutierte weiter und prüfte aneinander die Schärfe der Gedanken und Formulierungen. Aus dem gestrigen Kreise waren außer Eratosthenes nur der unvermeidliche Grammatiker Sosibios und der Chirurg anwesend. Die anderen waren Philosophen, Geographen und Historiker, da die Tischgesellschaften sich jeweilig gemäß dem eben diskutierten Thema zusammenfanden.
 
:Archimedes hörte nur Bruchstücke der Unterhaltung und bemerkte zu seinem Schrecken, dass die erste Voraussage der Wirklichkeit bereits in Erfüllung gegangen war: ihn vermochte der Zauber des Museions nicht mehr zu bannen. Im Gegenteil, vieles, was ihn umgab, erschien ihm hart, kalt und erklügelt. Es klang hohl, hatte den Ton, der aufstöhnt, wenn man zerbrochene Tongefäße mit einem Holzstab anschlägt.
 
:Doch war es durchaus kein Abrücken vom Geist, was ihn zu dieser Haltung drängte. Auch nicht der krankheitsnahe Nebel rauschgeborener Verliebtheit, der monomanisch alle Sinne abschließt und nur den einzigen Gedanken, die einzige Erinnerung als bunten Kreisel um die Achse dieser Leidenschaft herumdreht. Im Gegenteil. Wie ein brausender und doch wieder beruhigender Unterton begleitete ihn die Wirklichkeit. Nicht als Einzelwesen, sondern als Kraft. Oberhalb dieser Begleitung aber zeichnete sich stets klarer sein eigenstes Reich mit neuen, noch nie geschauten Wundergestalten, Zielen und Verwirklichungsmöglichkeiten ab.
 
:Sie waren schon längere Zeit beisammengesessen, Archimedes hatte auch ab und zu getrunken, als er bemerkte, wie das Auge des Arztes Herophilos forschend auf ihm ruhte und sich seine weißen Zähne zusammenpressten.
 
:Archimedes hatte das feste Gefühl, der Anatom wisse um seine Seele Bescheid, zergliedere sie säuberlich mit dem Messer der Gedanken. Wozu Verlegenheit oder Umschweife? Man musste dem Wähnen trotzen, dadurch, dass man es zum Wissen erweiterte; weil manchmal Wahrheit verwirrender ist als Andeutung oder gar Ableugnung.
 
:Er sagte also, als eine Gesprächspause eintrat:
 
:„Ich soll dir Vorwürfe machen, Eratosthenes, dass du einer Frau, die ich unter dem sonderbaren Namen der Wirklichkeit kennenlernte, heute noch nichts über die pergamenischen Blätter mitteiltest.“
 
:Die Wirkung dieser knappen Worte war eine unerwartete. Alle kehrten sich ihm zu und die Augen des Herophilos weiteten sich beinahe hassend.
 
:„Ich danke dir für die Botschaft“, antwortete Eratosthenes. „Ich werde das Versäumte nachholen. Besser, ich muss es. Denn der Wille und die Laune dieser Frau war in Alexandrien noch stets ein Befehl. Ich wundere mich bloß, woher du sie kennst, da sie meines Wissens noch niemals in Syrakus war.“
 
 
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:„Ich lernte sie auf dem Paneion kennen, kurz nachdem ich hier landete. Sie führte mich durch das Fest hierher“, sagte Archimedes kühl, da ihn die Angriffslust der Blicke ärgerte und er unwillkürlich sein Erleben nicht trüben lassen wollte.
 
:„Ja, wir unterschätzen sie noch“, krähte Sosibios auf. „Jetzt fängt sie uns schon die Philosophen vor der Ankunft ab, um sie gegen das Museion aufzuwiegeln. Übrigens eine lächerliche Posse, sich stets die Wirklichkeit zu nennen. Sie heißt einfach Aletheia, da sie verrückte Eltern hatte, die wahrscheinlich unter Aletheia etwas anderes verstanden als wir, wenn sie zur Täuschung den Artikel vorsetzt. Jeder würde sonst bloß Aletheia hören und sich am Klang freuen. Bei Xanthippe denkt man auch nicht an braune Pferde und bei Artemidoros nicht an das Geschenk der Artemis. Durch den Artikel aber zwingt sie uns den Begriff ihres Namens auf. Dazu tut sie dann noch recht geheimnisvoll, so dass schon manche Neulinge auf Grund ihres Gehabens und ihrer stets wechselnden Kostümierung gemeint haben, es wandelten noch selige Götter oder zumindest Charitinnen durch den Staub der Kanopischen Straße. Gut, sie ist nicht gerade ungebildet und hat in Athen Philosophie studiert. Aber das ist ihr zu Wenig. Sie will womöglich mehr sein als die Hetäre Diotima in Platons Gastmahl. Sie ist so weise und so launenhaft, dass sie schon manch einem von uns die Lust an der Arbeit gründlich genommen hat.“
 
:Sosibios dämmte seinen Redefluss ein, da ihm der Arzt die Hand beschwörend entgegenhielt.
 
:„Ich bin zwar durchaus nicht ihr Freund, Archimedes“, sagte er gewichtig, „durchaus nicht. Ich will aber trotzdem die Schmähungen des Sosibios, die wahrscheinlich aus gekränkter Liebe . . .“
 
:„Ich liebe sie nicht einmal für Bezahlung“, fuhr Sosibios dazwischen.
 
:„Jetzt, nach der Gehaltsregelung“, lachte Herophilos. „Vorher hättest du dich vielleicht erweichen lassen.“
 
:Sosibios meckerte hämisch auf, doch schnitt er sofort mit wilder Abwehrgeste eine beleidigte Grimasse.
 
:„Lassen wir Herophilos auch einige Worte sprechen“, sagte Eratosthenes ruhig, aber in deutlichem Befehlston.
 
:Sosibios jappte noch einmal auf. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und goss ungemischten Samier in seinen Becher. Herophilos aber setzte fort:
 
:„Sie ist irgendwie unsre Todfeindin, Archimedes. Aus dem Gefühl heraus, dass die Wirklichkeit nur im Weiberdienst besteht oder in allen materiellen Beschäftigungen. Uns hält sie für Gespenster. Das hat sie dir sicher schon gesagt. Du kennst aber noch nicht die Grundlage ihrer Macht, die es uns überhaupt erst wichtig macht, was sie über Dinge denkt, die sie im Grunde nichts angehen. Sie kam vor einigen Jahren hierher, heiratete einen der reichsten Kaufleute Alexandriens, der sie wie toll liebte, und bewog ihn, ihr alle Wünsche zu erfüllen. Der Palast vor der Mauer ist eine dieser Launen. Nun starb der Gatte an einem Leberleiden. Er war, nebenbei bemerkt, nicht der Jüngste gewesen. Und es geschah das weitere Wunder, dass die Milesierin auf Grund der Fähigkeiten Milets sich im Handel noch tüchtiger erwies als der tote Gatte. Kurz, sie ist die reichste Frau Alexandriens. Reihen von Häusern, riesige Ländereien im Delta, der ganze Papyroshandel liegen in ihrer Hand. Sie besitzt Schiffe, Wagen, Herden, Bergwerke. Ihr Einfluss reicht bis Arabien und Indien. Und sie verwaltet einen Teil der Vermögenschaften, aus denen unser Museion erhalten wird. Und liefert uns den Papyros. Dass sie beim König aus und ein geht wie eine Prinzessin, ist klar. Vollkommen unklar aber ist es, dass man ihr keine Laster nachsagen kann. Sie ist Wohltätig und freundlich und scheint bloß von einer einzigen Idee besessen, die echt weiblich ist. Sie will gleichzeitig das Museion fördern und es zerstören. Wir sind ihr zu wenig ,Wirklich‘. Mit Ausnahme der Ärzte. Die sind ihr Wieder zu Wirklich. Habe ich die Wahrheit über die Wirklichkeit gesprochen, großer Beta?“
 
:In deiner Art, Herophilos“, lächelte Eratosthenes. „Die Tatsachen sind richtig. Nur bleiben sie zum Teil noch hinter der Wirklichkeit zurück. Man behauptet ja sogar, dass sie eine geheime Privatarmee unterhält, um Entwicklungen in Alexandrien zu unterdrücken, die ihr nicht passen. Trotzdem verschmäht sie jeden persönlichen Schutz. Das ist es auch, was ihr Philadelphos hoch anrechnet. Er hat Angst um sie, nicht Angst vor ihr. Leider hat sie uns schon durch ihre Ansichten einige zukunftsreiche Köpfe von hier vertrieben. Sei dessen eingedenk, Archimedes! Das ist alles, was ich dich im Namen des Museions bitte. Es soll deine Freiheit nicht antasten. Am Eros aber stirbt ein Hellene nicht. In welcher Form er auch an ihn herantritt. Es lebe die neueste Bundesgenossenschaft Archimedes-Aletheia, Wissenschaft und Wirklichkeit! Gut, dass der kleine Apollonios nicht anwesend ist! Der liebt den Einbruch der Wirklichkeit in die Wissenschaft nicht. Noch einmal, die Götter mögen diese sonderbare Freundschaft segnen!“
 
:Der Zutrunk des Eratosthenes war an alle Tischgenossen eine zwar sanfte, aber eindringliche Mahnung, den Hauptgrundsatz des Museions, den höchster Freiheit, zu achten. Auch auf die Gefahr hin, dass sich diese Freiheit gegen das Museion selbst kehrte.
 
:So wurden die Becher erhoben und bald wendete sich das Gespräch wieder der Weisheit und dem Allgemeinen zu, und Archimedes nahm, zuerst noch ein wenig nachdenklich und zerstreut, daran einigen Anteil.
 
:Es wäre falsch zu glauben, dass er sich etwa in diesem hochgeistigen Kreise heute unwohl gefühlt hätte. Er konnte dies nicht, da jeder Augenblick neue Gesichtspunkte entschleierte. Trotzdem war der heutige Abend bloß ein schwacher Abglanz des gestrigen. Hatte sich doch inzwischen die Welt der „Wirklichkeit“ vor dem „Traum“ des Museions geschoben, der zudem heute sowohl inhaltlich als durch die Wiederholung und das Fehlen des Neuheitsprickels ungleich blasser wirken musste.
 
 
 
 
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:Archimedes erhob sich auch noch mitten im Gelage der anderen und betrat mit einer gewissen Stille im Herzen seine Gemächer, in denen ihn der Diener freudig und mit sichtbarer Neugier empfing. Da Archimedes den Namen heute noch einmal nennen wollte, gab er dem Diener kurz Bescheid, Woher der Bote gekommen sei, was dem Ägypter maßloses Staunen abzwang.
 
:Im großen Zimmer fiel der Blick des Archimedes auf die Pergamenttafeln. Er merkte sofort, wie alles, was er tat, mit der „Wirklichkeit“ verbunden war.
 
:„Du wirst eines dieser Blätter mit einem Brief, den ich heute noch schreibe, der erhabenen Aletheia überbringen. Morgen früh. Weißt du den Palast?“
 
:„Wer sollte ihn nicht kennen?“ erwiderte der Diener leise.
 
:Träume merkwürdiger Färbung durchdrangen den Schlaf des Archimedes, die ihn erschreckten und entzückten. Ein Wirrsal aus Reise, Heimat, Geometrie, Märchen und dem Abend am See Mareotis.
 
:Als sein Geist sich aber langsam aus dem Schlafe löste, da begann er die Träume in die Ordnung des Wachseins zu übersetzen. Die Nacht hatte einen großen Gewissenszweifel endgültig entschieden und einen klaren Plan geboren.
 
:Der Diener meldete, er habe den Brief bereits bestellt und als Gegengabe einen Strauß fremdartiger Blumen für den Herrn erhalten. Die Herrin aber lasse sagen, dass sie sein Versprechen nicht vergessen habe, ihr in einigen Tagen wieder Gesellschaft zu leisten. Sie freue sich, dass er ihr dann auch schon von neuen Entdeckungen erzählen werde.
 
:Das also war der Sinn der viertägigen Pause? Seine Seele schäumte fast über in Dank zu der Befruchterin. Woher wusste sie so genau, was in ihm vorging? Sie sollte nicht enttäuscht sein. Sie führte ihn traumsicher zu sich selbst, um dann dieses erhöhte Selbst lächelnd in Empfang zu nehmen und neue Wege zu ersinnen, es zu stärken und zu befeuern. Und es war trotz solcher jubelnder Freude nur natürlich, dass sich gleichzeitig die Angst meldete, das Wunder zu verlieren. Das war aber wieder nicht wesentlich: denn, wenn er sich ganz besitzen ließ, verlor er gerade das, um was er am meisten bangte. Sie wollte den eigentlichsten Archimedes und nicht einen Hellenen aus Syrakus, einen durch Schönerc, Stärkere und Liebenswertere vertretbaren Mann.
 
:Er ließ die dunkel gefleckten, betäubend duftenden Orchideen in eine Vase stellen, verlangte, dass ihm das Frühmahl ins Zimmer gebracht werde und fragte den Diener, ob er ihm eine Waage beschaffen könne. Jedoch eine möglichst feine und empfindliche. Der Diener nickte und entschwand.
 
:Archimedes aber riss sich endgültig von den Blumen und von den durch sie erweckten Gefühlen los. Und setzte sich in einer eigentümlich fiebrigen und aufgelockerten Stimmung zum Arbeitstisch. Sein Plan war gefasst. Er wollte gewissen Geheimnissen durch Versuche an den Leib rücken.
 
:Die folgenden Stunden sahen ihn in scheinbar konfuser Geschäftigkeit. Er zeichnete, zirkelte, maß, trank dazwischen Milch, schritt im Zimmer auf und nieder, veranlasste den Diener zu mancherlei Gängen und Arbeiten, worauf er wieder lange Berechnungen auf Blätter kritzelte.
 
:Schließlich hatte er alles beisammen, was er brauchte. Er .zeichnete auf das Pergament und schnitt daraus höchst sorgfältig Figuren. Zuerst überzeugte er sich durch Abwägen zweier kongruenter, aus dem Pergament geschnittener Figuren, dass es überall die gleiche Dicke hatte. Dann ging er weiter und untersuchte eine Säule aus kreisrunden Pergamentblättchen, die er mit einer gleich dicken Säule aus Holz verglich. Dann wieder kamen Figuren an die Reihe, die er irgendwo auf einer Nadelspitze schweben ließ, um den Schwerpunkt zu finden. Schließlich wurden verschiedene Parabelsegmente vorgenommen und mittels der Waage mit umbeschriebnen Rechtecken und Parallelogrammen ins Verhältnis gesetzt, wobei ihn schon ein Schauer überrieselte, da er trotz zahlreicher Wiederholungen stets wieder sehr abgerundete Quadraturergebnisse fand, die mit den hartnäckig irrationalen Ergebnissen der Kreisquadratur an Einfacheit nicht zu vergleichen waren.
 
:Plötzlich, mitten in allen Arbeiten, durchzuckte ihn ein Gedanke. Ein scheinbar wahnsinniger Gedanke. Die Kugel war doch nichts anderes als ein Kegel, dessen Öffnungswinkel ein voller Kreis war? Wenn er also einmal die Größe der Kugeloberfiäche entdeckte, konnte er auf dem Umweg über die bereits bekannten Kegelformeln den Inhalt der Kugel bestimmen, oder umgekehrt, aus dem Rauminhalt der Kugel ihre Oberfläche.
 
:„Du musst mir sofort einige Kugeln aus Holz oder aus Marmor verschaffen. Meinethalben aus Glas“, sagte er hastig zum Diener. „Aber schöne, glatte, durchwegs kreisrunde Kugeln. Ist das möglich?“
 
:„Gewiss“, erwiderte der Diener. „Es gibt hier einen Drechsler, der dreht sie mit einem Messer, dessen Schneide ein hohler Halbkreis ist. Wieviel dürfen die Kugeln kosten und wie groß sollen sie sein?“
 
:„Da er nicht so schnell neue Drehmesser erzeugen kann, soll er sie machen, so groß er will. Der Preis ist mir einerlei. Ich brauche keine Goldkugeln und keine Edelsteinkugeln.“
 
:„Ich verstehe“, sagte der Diener, der mit wahrem Feuereifer jeden Handgriff des Archimedes verfolgte und zu verstehen suchte. „Ich werde sie besorgen, so rasch es angeht.“ Und er huschte hinaus, nachdem ihm Archimedes eine reichliche Geldsumme eingehändigt hatte.
 
:Archimedes rief ihn noch einmal zurück. In der Zeit weniger Herzschläge war ein neuer Gedanke, besser, das unlösbare Gemenge einer Idee, eines Bildes und einer traumschnellen Überlegung in ihm emporgezuckt, dessen Tragweite er noch durchaus nicht voll überblickte.
 
 
 
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:„Die eine der Kugeln soll aus zwei Halbkugeln bestehen“, sagte er zum Diener. „Verstehst du? Sie soll in zwei Halbkugeln zerschnitten sein. Aus demselben Material aber lass mir, so hoch wie diese Halbkugeln einzeln sind, einen Kegel und einen Zylinder drechseln. Der Grundkreis der Halbkugel aber soll der gleiche sein wie der des Kegels und des Zylinders. Ich gebe dir eine Zeichnung, damit kein Missverständnis entsteht.“ Und er nahm ein Stück Papyros und skizzierte, was er eben gefordert hatte. „Und jetzt geh und bring mir alles, so schnell du kannst.“
 
:Archimedes saß, ohne sich weiter um den Diener zu kümmern, bereits beim Arbeitstisch. Die Überlegungen folgten einander so rasend, so überstürzend, dass er sie mit dem Aufgebot aller Kräfte kaum zu klaren Folgen und Schlüssen ordnen konnte.
 
:Ich rücke, sprach es in ihm, der ungreifbaren Glätte der Kugel näher, sie wird plötzlich anders, wenn ich sie anders denke. Sie ist vollständig im Banne des Kreises, die Kugel. Nur im Banne des Kreises. Eudoxos und noch frühere haben die Gesetze des hellenischen Denkens und Schauens in ähnlich frevelhafter Art überschritten, wie ich es jetzt eben tue. Ich zerschneide die Kugel in zwei Halbkugeln. Eine davon betrachte ich weiter: zuerst hat sie einen Grundkreis, den Äquator, der ein größter Kreis der Kugel ist. Nehmen wir an, dieser Kreis sei eine unsäglich dünne Scheibe aus Papyros oder pergamenischem Schreibstoff. Wie sieht der nächsthöhere Schnitt aus? Er muss kleiner sein, ist aber Wieder eine Kreisscheibe. Ebenso der nächste, der vierte, fünfte, sechste, siebente, hundertste, tausendste. Kreisscheiben, nichts als Kreisscheiben, deren jede kleiner ist als die vorhergegangene. Schließlich aber werden die Kreise so klein, dass sie ins Unsichtbare verschwinden, und am Schluss gibt es einen Kreis, der ein Punkt ist. Also ein Nichts. Das ist der Pol. Da aber die halbe Kugel, also auch die ganze Kugel, aus lauter Kreisscheiben besteht, muss der Rauminhalt der Kugel mit dem Flächeninhalt des Kreises zusammenhängen. Denn selbst wenn ich alle die zusammensetzenden Kreisscheiben als unsäglich niedere Zylinder betrachte, kommt ja nur noch der linienhafte Faktor der Höhe hinzu. Alle Höhen dieser Scheiben zusammen sind aber nichts als der Halbmesser der Kugel für die Halbkugel und der Durchmesser für die ganze Kugel. Nun kann man sich Zylinder und Kegel ebenso aus Kreisscheiben aufgebaut denken. Beim Zylinder sind es lauter gleich große Scheiben, beim Kegel stets kleiner werdende, die bei der Kegelspitze ebenfalls zum Punkt einschrumpfen. Aber das Gesetz des Kleinerwerdens ist beim Kegel ein anderes als bei der Kugel. Beim Kegel werden die Scheiben gleichmäßig, beider Kugel zunehmend kleiner. Gleich wie es Reihen von Bruchzahlen gibt, die gleichförmig, und solche, die zunehmend sich in den einzelnen Gliedern verkleinern.
 
:Nun weiß ich aber, wie groß der Rauminhalt des Kegels und der des Zylinders ist. Gesucht bleibt der Kugel- oder der Halbkugelinhalt. Ich kann jedoch die drei Körper sehr gut vergleichen, wenn sie alle die gleiche Basisfläche und die gleiche Höhe haben. Der Zylinder ist dann größer, der Kegel bestimmt kleiner als die Halbkugel. Schneide ich die drei Körper senkrecht in der Achse, dann wird aus der Halbkugel ein Halbkreis, aus dem Zylinder ein diesem Halbkreis umgeschriebenes Rechteck, dessen Grundlinie der Kugeldurchmesser und dessen Höhe der Halbmesser ist. Der Kegelschnitt aber wird ein dem Halbkreis eingeschriebenes gleichschenkeliges Dreieck mit dem Durchmesser als Basis und dem Halbmesser als Höhe.
 
:Lassen wir diesen senkrechten Schnitt. Ich weiß, dass er mir dereinst unabsehbare Dienste leisten wird. Jetzt aber verwirrt er nur alles. Bleiben wir bei den Kreisscheiben. Wenn sich also alle drei Körper aus Kreisscheiben zusammensetzen, dann steckt in allen drei Körpern Schicht für Schicht der Kreis. Und nichts als der Kreis. Es gibt ja keinen anderen zusammensetzenden Bestandteil als den Kreis. Daher mussim ganzen Körper die Eigenschaft des Kreises enthalten sein, und zwar in allen Grundflächen der als unsäglich niedere Zylinder gedachten Kreisscheiben. Da alle drei Körper die gleiche Höhe haben, die die Summe aller Scheibenhöhen ist, fällt sie bei einem Vergleich der drei Körper heraus. Aber es fällt auch die Kreiseigenschaft heraus. Übrig bleibt dann lediglich eine Vergleichszahl, die ich mit der Waage als Gewicht feststellen kann, wenn alle drei Körper aus dem gleichen Stoff bestehen. Dann aber kann ich sofort wieder aus dieser Verhältniszahl und der mir ja schon bekannten Inhaltsformel des Kegels oder des Zylinders die Kugelinhaltsformel gewinnen, wobei ich für die Höhe schließlich den Halbmesser einsetze, die sich mit dem Halbmesserquadrat der Grundfläche zu einem Kubus gestalten muss. Die Formel für den Kugelrauminhalt lautet also Kubus des Kugelhalbmessers mal der Kreiseigenschaft mal irgendeiner Verhältniszahl zum Zylinder oder zum Kegel. Zylinder und Kegel stehen ja untereinander wieder im Raumverhältnis eins zu drei, wenn sie die gleiche Höhe haben und auf demselben Basiskreis ruhen.
 
:Es bleibt also eigentlich nur mehr die Aufgabe übrig, die Kreiseigenschaft möglichst genau zu berechnen, damit ich in die Lage komme, auch wirkliche Inhaltsberechnungen durchzuführen.
 
:Für die Kugeloberfläche aber habe ich schon früher den Weg gefunden. Sie ist die gedachte Grundfläche eines Kegels, dessen Höhe der Halbmesser ist. Eigentlich ist die Kugel eine Unzahl winziger Kegel, die ihre Grundflächen in der Kugelfläche und den Scheitel im Kugelmittelpunkt haben. Sie schließen aneinander wie unzählbar viele Tüten oder Wespenwaben. Nun weiß ich schon vieles. Fast alles. Denn die Kugeloberfläche mal dem Halbmesser, der ja die Höhe aller Kleinkegel bildet, mal einem Drittel, das ja aus der Kegelformel bekannt ist, muss gleich sein dem Kubus des Halbmessers mal der Kreiseigenschaft mal der durch die Waage festzustellenden Verhältniszahl zum Kegel, der die Basis des Größtkreises und die Höhe des Halbmessers hat. Daraus aber folgt zwingend, dass die Kugeloberfläche irgendein Vielfaches dieses Größtkreises sein muss.
 
 
 
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:Ich werde jetzt die Kreiseigenschaft, die unzugängliche Zahl der Zahlen, jenes irrationale Gespenst, aufsuchen oder mich an seine Ungreifbarkeit nach der Methode des Eudoxos heranpürschen. Dann habe ich die Kugel ebenso überwunden, wie wir bisher schon den Kreis überwanden oder wenigstens ahnend erforschten. Die Kreiszahl gibt erst allen For- meln des Kegels, des Zylinders und der Kugel die Wirklichkeit.
 
:Archimedes sank mit dem Kopf vor Erschöpfung schweißüberströmt auf die Blätter, die bereits mit zahllosen Zeichnungen und Formeln bedeckt waren. Seine Schläfen hämmerten, sein Puls jagte. Und das Wort Wirklichkeit, das seine Gedankenflucht abgeschlossen hatte, traf ihn als zweite, überschwemmende Gefühlswoge.
 
:War es noch Vormittag oder schon Nachmittag? Er wusste es nicht. Wusste nur, dass er so schwach, so ausgehöhlt, so zerwühlt von Geistes- und Gefühlskatarakten war, dass er die Wirklichkeit herbeisehnte, die ihn in die Katarakte geworfen hatte. Sie würde seine Sehnsucht stillen, um sie ins Ungemessene zu steigern. Windstille und Sturm. Wo ist das helle, blaue, weißgesprenkelte Wellengekräusel in Mittagssonnenglut? Wo ist die Erfüllungslust des Aristippos?
 
:Er wusste nicht, wie lange sein Kopf auf schmerzenden Armen ruhte, er fühlte nur, wie kitzelnde Schweißperlen über sein Gesicht liefen, die er zu willenlos war fortzuwischen. Und er erwachte erst, als er das unverkennbar melodische Klappern harten, trockenen Holzes hörte.
 
:Da sprang er auf, und alle Müdigkeit war plötzlich verweht. Denn es nahte die Entscheidung.
 
:Er sah, wie der Diener die frisch gedrehten Holzmodelle auf den zweiten Tisch legte. Und er fürchtete nur noch, der Ägypter könne etwas vergessen haben. Nein, er hatte nichts vergessen. Die Kugel war da, die sich in zwei Halbkugeln spalten ließ, der Zylinder, der eher einem plumpen Klotz glich, und der Kegel war da. Und noch andere Kugeln verschiedener Größe.
 
:„Du wirst mir jetzt helfen“, sagte Archimedes heiser vor Erregung und nahm die Waage, während er die Gewichte der Größe nach auf den Tisch reihte. „Leg zuerst einmal den Kegel auf die Waage.“ Während er noch sprach, lief er mit der Waage in der Hand wieder zurück zum Arbeitstisch und holte sich Papyrosblätter und Schreibstifte.
 
:Der Ägypter lächelte vor Neugierde. So fein allerdings, dass man es kaum bemerkte. Ungeheuer behutsam stellte er den Holzkegel auf die eine Waagschale und richtete ihn sorgfältig aus.
 
:„Diese erste Zahl ist eine Zahl, sonst nichts“, murmelte Archimedes vor sich hin. „Man kann sicherlich aus ihr die Kreiszahl gewinnen, wenn man sie dreifach nimmt und durch den Kubus des Halbmessers teilt. Allerdings ist dabei noch die Schwere des Holzes zu berücksichtigen.“ Dabei legte er die Gewichte auf die andre Waagschale und vertauschte dann zur Vorsicht Kegel und Gewichte. Die Waage war äußerst genau. Ein merkbarer Unterschied der beiden Wägungen war nicht festzustellen.
 
:Er hatte bei dieser Feinarbeit fast wieder das Ziel vergessen und schrieb die gefundene Gewichtsgröße auf den Papyros. Um so stärker begann sein Herz zu pochen, als er sich bewusst ward, dass durch die zweite Wägung das Problem schon in aller Größe aufgerollt war.
 
:„Nun die Halbkugel. Oder, besser, wir prüfen zuerst, ob sie beide gleich schwer sind. Der Drechsler kann unregelmäßig gearbeitet haben oder das Holz kann ungleichmäßig schwer sein.“
 
:Der Ägypter machte alle Handreichungen geduldig, geschickt und zart. Man sah sofort, dass der Drechsler richtig gearbeitet hatte und dass das Holz durchwegs gleichgewichtig war.
 
:Nach einigen Proben notierte Archimedes den gefundenen Versuchswert und sah nicht auf den ersten des Kegels. Er nahm vielmehr in der gleichen Art den Zylinder vor.
 
:Als auch dieses Gewicht bestimmt war, schickte er den Diener hinaus. Er wollte allein sein mit seiner Entdeckung oder mit seiner Enttäuschung.
 
:Als er sich zum Arbeitstisch gesetzt hatte, begann die unfehlbare Rechen- und Denkmaschine in seinem Inneren sofort zu arbeiten. Es muss, sagte diese Maschine, zuerst das Gewicht des Kegels durch drei geteilt werden. Wenn ich dann das Kugelgewicht durch diese so gefundene Größe dividiere, erhalte ich den Zähler eines Bruches, dessen Nenner ebenfalls drei ist. Dieser Bruch aber ist die von mir gesuchte Vervielfältigungszahl, mit der ich den Kubus des Halbmessers der Kugel und dazu die Kreiszahl vervielfachen muss, um die Inhaltsformel der Halbkugel zu besitzen. Noch einmal verdoppelt ergibt das die Kugelinhaltsformel.
 
:Er sah auf das Blatt und seine Knie zitterten. War es möglich? Eine einfache, klare, rationale Lösung? Die gesuchte Zahl war zwei. Und sofort weiter die Zahl für den Zylinder drei. Es verhielt sich also Kegel, Halbkugel und Zylinder unter den von ihm geforderten Voraussetzungen wie eins zu zwei zu drei. Und die Kugelformel lautete vier Drittel mal der Kreiszahl mal dem Kubus des Halbmessers.
 
:Er hatte als erster auf dieser Erde den Inhalt der bisher unzugänglichen Kugel entdeckt. Wenn der Versuch nicht trog. Doch es gab sofort eine weitere Prüfungsmöglichkeit.
 
:Die folgenden Stunden waren ausgefüllt von angespanntestem Ringen un-d toller Angst, ob nicht doch alles am Ende nur Täuschung sei. Es war zu einfach, zu harmonisch, zu von Gott geschaffen, was sich zeigte. Er maß auf verschiedenste Arten die anderen Holzkugeln, rechnete nach der neuen Formel am Inhalt, wobei er das Gewicht der ersten Kugel mit den Gewichten der anderen Kugeln verglich. Da er die Kreiszahl nicht genau kannte, arbeitete er mit Proportionen.
 
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