Diferencia entre revisiones de «Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 152c»

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Línea 32:
:Bis endlich Eratosthenes leise auflachte und sagte:
 
:„Wir sind gleichwohl Menschen, liebe Freunde, wenn wir auch auf goldenen Wagen durch die obersten Bereiche sausen. Eben dieselben Gestirne, aus denen ich plötzlich auf die Erde zurückfiel, haben mir mitgeteilt, daß dass der Morgen nicht mehr allzufern ist. Es ist gut so. Wir haben in unsrer Weise das große Fest, dessen Lärm noch herüberweht, mitgefeiert. Aber ein kurzer Schlaf ist besser als gar keiner. Und der müde Wanderer Archimedes soll jetzt sehen, daßdass das Museion auch das kurze Vergessen des wahren Lebens schätzt.“
 
:Sie stiegen also die Treppen hinab in die Wandelhalle und verabschiedeten sich dort von Konon, dessen Wohnung in einem anderen Gebäude lag.
Línea 50:
:„Schlaf wohl, Archimedes“, sagte Eratosthenes, „wir werden gleich am Morgen den größten Schatz des Museions besichtigen.“ Damit entfernte er sich ebenso liebenswürdig und langsam, wie es hier alle taten. Es war Zeit, alles nachzuholen, was man etwa vergessen hatte zu sagen oder zu tun.
 
:Der Diener, der die letzten Reste von Schlaftrunkenheit verloren hatte, schien äußerst erfreut, daßdass die weitere Führung nunmehr ihm anvertraut war. Er hob die Öllampe aus der Erzpfanne und öffnete eine Türe, die in ein großes, auffallend kühles Gemach leitete. Dieses Gemach war ungemein vornehm und prächtig ausgestattet. Nichts fehlte. Alles war vorhanden: ein im wahrsten Sinne schwellendes Lager, ein Tisch, auf dem Schüsseln mit Obst, Backwerk und Karaffen voll Wein standen, ein Arbeitstisch nahe dem Fenster. Wiederum Gemälde und Plastiken. Schwere Vorhänge vor dem Fenster. Ein breiter Lehnstuhl. Schreibgeräte. Metallspiegel.
 
:Es war noch nicht genug, was das Museion schon in diesem Raum seinen Bewohnern bot. Ein Vorhang schob sich unter der Hand des Dieners zur Seite und in einem kleineren Zimmer glitzerte das Wasser eines in die Fliesen eingelassenen Badebeckens, an dessen Rand auf einem Tischchen Salben, Essenzen und Tücherlagen.
Línea 62:
:Nein, keine Unrast, keine Eile! Im Museion steht die Zeit still. Hier ist es Pflicht, alles zu tun, um das Werkzeug Mensch zu höchster Schärfe zu schleifen. Alles ist hier selbstverständlich. Und doch liegt ein leiser Hauch von Windstille, von Übersättigung in allem.
 
:Am Rande seiner Gedanken stand plötzlich das Mädchen Wirklichkeit, als ihn die lauen Wasser umspielten. Hinweg, Mädchen Wirklichkeit! Du selbst warst der tiefste Traum, den ich in den wenigen Stunden hier träumte. Ich werde dich nie wiedersehen. Was man hier schaut, zerrinnt zwischen den Händen wie dieses duftende, schäumende Smegma, diese weißen Wolken, die mir der Diener auf den Schultern verreibt, daßdass sie das Wasser trüben.
 
:Alles scheint hier einmalig zu sein. Auch einen Apollonios werde ich nie wieder sprechen, nie Wieder die Qualen seiner Eifersucht erblicken, nie wieder den starren Blick seines Hasses und die kalten Worte, in denen der heilige Zorn ihn um Jahrzehnte reifen ließ, fühlen. Vielleicht auch nie wieder dieses Bad, wie es mich heute umkräuselt. Ist das der letzte Sinn der Sattheit dieser Stadt, daßdass sie alles nur einmal erleben läßtlässt, obgleich sie es täglich, stündlich bietet? DaßDass sie unsre Sehn~ suchtSehnsucht steigert, je vollkommener sie Erfüllung gibt? Poros und Penia, ÜberflußÜberfluss und Mangel als die Eltern des Eros. So hat es der göttliche Platon gesehen. Hier aber erzeugt der ÜberflußÜberfluss den Mangel, der zum unauslöschlichen Eros wird.
 
:Die Schläfen pochten nicht mehr, als der Diener ihn mit kräuterduftenden Essenzen rieb und mit weichrauhen Tüchern trocknete. Eine beruhigende I-land hatte sich auf sein Denken gelegt. Es begann abzuebben und sich der Windstille zu nähern. Und er streckte sich auf das kühle Lager und hörte schon in weiten Fernen die leisen Tritte des Dieners, der sich in den Vorraum zurückzog.
Línea 81:
:Eratosthenes und Archimedes aßen nach der uralten Vorschrift der Pharaonen, wie Beta scherzend sagte, Milch, Weißbrot und frische Feigen.
 
:Sie erhoben sich, als ihr Hunger gestillt war, und wiederum ging es durch zahlreiche Höfe. Diesmal jedoch bis ans Ende des Gebäudekomplexes, der die Speisesäle und Wohnstätten umfaßteumfasste. Nach Durchschreiten des letzten Gebäudes lag eine breite und lose mit Bäumen bestandene Wiese vor ihnen, an deren jenseitiger Begrenzung ein langgestreckter, riesiger Bau wuchtete, der alle Weitere Sicht versperrte.
 
:„Mein Palast“, sagte Eratosthenes lächelnd. „Es ist die einzigartige Bibliothek, der ich vorstehe.“
Línea 89:
:„Wir haben hier nahe an sechzigtausend Rollen“, erläuterte Eratosthenes. „Drüben im Serapistempel fast noch einmal dieselbe Anzahl. Die Ausgaben und verschiedenen Lesarten Homers allein umfassen mehr als tausend Rollen. Aber wozu Zahlen? Du wirst bald sehen.“
 
:Auf dem Weg, der die Wiese durchschnitt, war ein eifriges Gehen und Kommen, und es wurde noch dichter, als sie in die Vorhalle des Riesengebäudes eintraten. Mächtige offene Türen ließen zu beiden Seiten eine Flucht von Sälen durchblicken, deren Boden mit grünem, spiegelndem Marmor belegt war und deren Decken ein glattes, stumpfes Weiß zeigten. Kein Bild, keine Verzierung. In der Mitte der Säle lange glatte Tische und an den Wänden Regale, auf denen in gedrängten Reihen die zylindrischen Kapseln der Papyrosrollen standen. An den Tischen standen und saßen Lesende und Schreibende, und Diener und Bibliothekare eilten um die gewünschten Kapseln, wobei sie manchmal hohe Treppen zu Hilfe nehmen mußtenmussten. „Wir sind nicht bloß Bibliothek“, sagte Eratosthenes,
 
:„Wir sind mehr als das. Du wirst es gleich sehen. Wirst auch in den Mittelpunkt einer Riesenschlacht des Geistes geraten, in einen Umsturz der Wissenschaft, wie ihn die Welt bisher noch nicht sah. Dieses Schlachtfeld allerdings ist selbst den Gelehrten des Museions verschlossen. Aber einmal darfst du einen Blick hinter die Bühne tun.“
Línea 97:
:Einige Beamte der Werkstätten kamen auf Eratosthenes zu. Der eine trug ein Bündel von milchweißen harten Blättern, ein anderer hatte einige beschriebene Blätter in der Hand. Alle aber waren im höchsten Maße erregt.
 
:„Das Rätsel von Pergamon ist gelöst“, sagte der erste Beamte und warf die Blätter auf einen Tisch, daßdass es hörbar klatschte.
 
:„Sieh nur, großer Beta, sie beschreiben die Blätter auf beiden Seiten und heften sie aneinander. Der Stoff ist vollkommen undurchsichtig. Und verträgt Feuchtigkeit, Fett und Biegung.“
Línea 103:
:Eratosthenes nahm eines der Blätter prüfend in die Hand. Dann sagte er zu Archimedes:
 
:„Unser König hörte, daßdass Eumenes von Pergamon die Absicht habe, unser Museion und unsere Bibliothek nachzuahmen. Philadelphos ist nicht neidisch, aber er fürchtete, daß dass eine Zersplitterung manche Gelehrte abziehen könnte und dadurch gerade den Grundgedanken und die größte Stärke des Museions, die Zusammenballung aller Geisteskräfte der Erde, vernichten würde. Da nur wir hier in Ägypten nennenswerte Mengen von Papyros haben, erließ er ein Ausfuhrverbot. Wir hörten lange nichts von Pergamon. Bis endlich die Kunde kam, der Attalide ließe besseren, dauerhafteren und schöneren Schreibstofi aus Tierhäuten herstellen und habe dadurch sogar dem Buch, ja sogar der Bibliothek, eine neue Form geschaffen, da das neue pergamenische Buch viel weniger Raum beanspruche. Hier der Beweis. Ich schenke dir zwei solche pergamenische Blätter, Archimedes.“ Und er reichte dem Archimedes zwei Tafeln, die an den Rändern wellig gezackt waren, deren Fläche jedoch beinahe glasige Glätte aufwies. „Gleichwohl fürchte ich nicht für unser Museion. So schnell wird Eumenes nicht mehr als hunderttausend Bücher auf diesem teuren Stoff herstellen. Wir haben mehr als hundert Jahre Vorsprung.“
 
:Archimedes bog die Blätter und betrachtete sie voll von Erstaunen. Dabei aber durchzuckte ihn ein Gedanke, der sich weitete und ihn zunehmend erregte, so daßdass er den Gang durch die Bibliothek selbst zwar als Ereignis empfand, dem einzelnen jedoch nicht mehr die gleiche Aufmerksamkeit schenkte wie vorher. Dies änderte sich jedoch sofort, als sie zu den Schriften der Mathematiker gelangten.
 
 
Línea 116:
:Archimedes erblickte mitten im Getriebe der Arbeitenden den großen Konon und für einen Herzschlag auch den kleinen Apollonios, der sich jedoch sofort abkehrte und mit geröteten Wangen auf seinen Arbeitstisch starrte.
 
:Diese Arbeitstische vervollständigten die Bequemlichkeit der Einrichtung. Jeder Tische war geteilt. Während aber die eine Hälfte gleichsam eine offene Schublade war, in der feiner angefeuchteter Sand es erlaubte, mit einem Elfenbeingriffel flüchtige Skizzen zu zeichnen, die man mit einer breiten Spachtel glättend wieder fortwischte, war die zweite Hälfte der Tische eine Art von Reißbrett, auf dem die endgültigen Zeichnungen auf den Papyros aufgetragen wurden. Und es war dafür gesorgt, daßdass reichlich Licht durch hohe Fenster einströmte.
 
:Konon kam sofort auf Archimedes und Eratosthenes zu. Er lächelte leicht, als er den Fieberblick wahrnahm, mit dem Archimedes diese mathematische Werkstätte musterte.
 
:„Hast du Verlangen nach irgendeiner mathematischen Schrift?“ fragte Konon scherzend. „Auch deine bisherigen Schriften stehen dort oben. Aber es wäre ja möglich, daßdass du in Syrakus noch nicht alles dir beschaffen konntest, was dich brennend interessiert. Befiehl, Archimedes. Wir werden versuchen, zu zaubern.“
 
:Wieder überkam Archimedes eine quälende Unrast und ein traumartiger Zustand. Warum wunderte er sich im Angesichte der Tatsachen über Dinge, die er doch gewußtgewusst hatte, bevor er in Syrakus das Schiff bestieg? Derentwegen er ja hierher gereist war? Plötzlich bildete er sich ein, in diesen Kapseln auf den Regalen wäre nichts oder nur Unwesentliches enthalten. Er wollte eine Probe machen, an deren Gelingen er zweifelte. Hatte er doch nach diesen Büchern seit Jahren vergeblich gefahndet, ohne mehr zu erreichen als kärgliche Auszüge. Man konnte sie also auch hier nicht besitzen.
 
:„Verschaffe mir die Bücher des Eudoxos, mein lächelnder Konon“, erwiderte er schnell. „Dann werde ich an die Zauberei glauben.“
Línea 130:
:Konon warf einen prüfenden Blick auf die Aufschriften.
 
:„Es ist alles, was Eudoxos geschrieben hat. Bist du zufrieden, Archimedes? Da du wahrscheinlich in deinem Zimmer arbeiten willst, wirst du es nachher dort finden. Es mußmuss bloß eingetragen und verbucht werden. Wir senden außerdem noch Papyros zum Zeichnen und Zeichengeräte mit. Die magst du dir ebenfalls auswählen.“
 
:„Und mich wirst du jetzt entschuldigen“, ergänzte Eratosthenes. „Ich wollte dir bloß noch eröffnen, daßdass du dir in den Kanzleien dein Gehalt beheben kannst. Man wird dich hinführen.“
 
:Archimedes sah ihn fassungslos an.
Línea 140:
:Da lachte Eratosthenes auf.
 
:„Das mußtmusst du wohl dem Urteil unsres Königs und unsrem Urteil überlassen, als was wir dich hier ansehen. Schüler sind wir schließlich alle bis ans Ende. Sonst wären wir nicht richtige Mitglieder des Museions. Der König hat es so gewünscht. Er dürfte wissen warum. Jetzt aber leb wohl, Archimedes! Wenn es dir paßtpasst, sehen wir uns bei Tisch. Wenn nicht, wird niemand fragen, wo du bist. Alexandria ist schön und groß und die Muse ist auch anderswo zu treffen als im Museion, was Sosibios als Paradoxon bezeichnen würde.“ Mit diesen Worten kehrte sich der große Beta ab und erteilte sofort Weisungen an Beamte, die ihm nachgegangen waren und ihm geschäftig Aktenstücke entgegenhielten.
 
:Archimedes aber stand noch immer angewurzelt da und sah nicht einmal die lächelnden Blicke Konons, der sich an seinem entrückten Gesicht weidete.
 
:Der Traum eines Traumes? Wer hatte das gesagt? Gleichgültig, wer es gesagt hatte. Würde dieser Traum ein Ende nehmen? Wohin waren die Bücher des Eudoxos verschwunden? Er würde sie nachher auf dem Zimmer finden. Und entrollen. Und alles würde er leiblich vor Augen haben, was er seit Jahren suchte. Er wußtewusste genau, warum er gerade nach Eudoxos fahndete. Bei Eudoxos war die erste Spur, die Wurzel, aus der sein Riesenbaum sich entfalten sollte. Dieser unheimliche Baum, dessen Früchte der kleine Apollonios wahrscheinlich für giftig hielt.
 
:Er ertrug es plötzlich nicht mehr, mitten in diesem Saal zu stehen. Alle, die da zirkelten und rechneten, lasen und kritzelten, schienen ihm Widerspruch entgegensetzen zu wollen. Es war die Schule Euklids, er fühlte den kalten Schatten des Riesen fast körperlich. Nein, nein, nein! Man sollte ihn nicht einfangen, nicht mit Gewalt bestechen, zu nichts zwingen. Er mußtemusste fliehen, bevor es zu spät war. Es gab eine Freiheit, die tödlicher war als der wildeste Zwang. Warum lächelt Konon in einem fort? Warum flüstert Apollonios jetzt mit einem grauhaarigen Mathematiker?
 
 
Línea 157:
:Archimedes aber, der die Worte nur halb verstanden hatte, wanderte wie im Traum den Weg zurück, den er mit Beta gekommen war.
 
:Er war so erregt, daßdass es ihn nicht verwunderte, als er irgendwo im Hof des Wohngebäudes seinen Diener traf, der ihn wortlos in die Kanzlei führte, da man angeblich bereits zu ihm geschickt habe. Man zahlte ihm eine Summe aus, deren Höhe ihn schwindlig machte, und fragte ihn, ob er etwa VorschußVorschuss nehmen wolle. Er schüttelte den Kopf, quittierte, bedankte sich bei dem erstaunten Kanzleischreiber, der vor Unterwürfigkeit nicht wußtewusste, was er darauf erwidern sollte, und eilte davon. Der Diener lief voran, damit der Herr den Weg nicht verfehle.
 
:Als Archimedes in sein Zimmer stürmte, galt sein erster Blick dem Tisch, auf dem bereits die Werke des Eudoxos standen.
Línea 165:
:Ja, da war es! Alles war da. Alles, von dem er bisher nur armselige Bruchstücke gekannt hatte. Wie ein weites sattes Land lag es vor ihm. Satz um Satz, Beweis um Beweis. Und unvermittelt schrak er zusammen. Wie, wenn Eudoxos schon alles geleistet hatte, nach dem er selbst strebte? Hatte er so sichere Nachricht, da er nur Auszüge und Bruchstücke bisher kannte?
 
:Seine Augen flogen über die Kolumnen, die zitternden Finger entrollten und spannten den Papyros. Jetzt mußtemusste es kommen. Jetzt und jetzt. Hier war der Weg, den er selbst gehen wollte. Nein. Die Gedanken rissen ab, liefen in andre Richtung. Aber hier wieder. Es mußtemusste jetzt kommen. Die Mathematik war doch ein zwingendes Geleise, das zum bestimmten Ziel führen mußtemusste, wenn man sich in den Beginn des Geleises begeben hatte. Nein, wieder nicht. Trotz herrlichster Anfänge ein andrer Weg. Es lagen Jahrhunderte zwischen Eudoxos und dem heutigen Tag. Von Neuentdeckung erfüllte Jahrhunderte. Und eben diese Neuentdeckungen waren weitere Bausteine, die sich erst mit den Vorläufergedanken des Eudoxos verschwistern mußtenmussten, um dorthin zu führen, wo er selbst die Ziele sah. Wozu auch die Kugel gehörte, die glatte Kugel, an der bisher die Gedanken von Jahrtausenden abgeglitten waren.
 
:War er noch ein Gefangener des Museions? Wer störte ihn? Lebte er nicht körperlich im lichten Ideenreiche Platons? In einem Elysion, das schöner war als die begeisterten Schilderungen der Dichter?
 
:Und er raste weiter und er wußtewusste nichts mehr von irgendeiner Wirklichkeit, während eine Rolle nach der anderen, durchdrungen und durchforscht, neben ihm auf den Estrich sank, wo sie aber auch wieder ins Nichts verschwand, da der Diener sie auflas und sie lautlos zurückrollte und einordnete.
 
:Plötzlich begannen sich die Schriftzüge, Zeichnungen und Buchstaben vor seinem Auge zu verwischen. Und eine mehrfach wiederholte Botschaft traf sein Ohr.
 
:Da erwachte er aus seiner Entrücktheit. Kein Wunder, daßdass seine Augen den Dienst versagten. Es dämmerte bereits. Was aber bedeutete das Gemurmel im Vorraum, das durchaus keine Sinnestäuschung gewesen war, da es unentwegt weiterging. Ohne Zweifel eine fremde Sprache. Eine härtere und schärfere Sprache als das Hellenische. Wahrscheinlich ägyptisch. Ach, sein Diener war ja ein Ägypter. Und er unterhielt sich offenbar mit anderen Leuten des Gesindes.
 
:Das Gemurmel war verstummt. Der Diener stand unvermittelt vor Archimedes und beobachtete, ob er noch in die Weisheit vertieft sei. Als er sich davon überzeugt hatte, daß dass der Herr nicht mehr las, meldete er leise:
 
:„Herr, ein Brief. Ein Sklave hat ihn abgegeben, ohne daßdass es mir gelang, herauszubringen, Werwer der Absender sei.“
 
:Archimedes blickte erstaunt auf den gefalteten und gesiegelten Papyros. Schreibstoff solcher Feinheit und Farbe hatte er noch nie gesehen. Dabei duftete das Schreiben eigentümlich. Wie nach fremdesten Blumen. Hatte er diesen Duft nicht schon gespürt?
 
:„Geh, ich werde dich rufen,wenn ich etwas brauche“, sagte er leise. Als der Diener verschwand, öffnete er den Brief, wobei ihn schon mächtige vordrängende Erinnerungsbilder umgaukelten. Er wußtewusste schon einen Teil des Geheimnisses. Der Duft hatte deutlicher gesprochen, als je Buchstaben sprechen können.
 
:Da stand es außerdem in schönen, energischen griechischen Worten:
Línea 188:
verstrickt, mein Freund. Ich weiß es. Trotzdem rufe ich Dich zu mir.
:,Rolle, o Kreisel, und zieh ins Haus mir wieder den Jüngling.‘ Diesen Vers sang Dein herrlicher bukolischer Landsmann Theokrit, durch dessen Worte sich die Wälder wieder mit Göttern belebten, die - wie der große Pan - schon tot waren. Lies die Idylle ,Die Zauberin‘, damit Du verstehst, was ich meine. Wenn Du es aber verstanden hast, dann nimm es wieder nicht zu ernst, auf daßdass Du keine Enttäuschung erlebst. Für mich aber wäre es wunderschön, wenn Du heute bei mir speistest und Dich von tiefem Denken erholtest.
 
:,Rolle, o Kreisel, und zieh ins Haus mir wieder den Jüngling.‘ Den Kreisel treibt mein Sklave, der Dich vor dem Museion auf der Kanopischen Straße erwartet. Auf Wiedersehen, mein Freund!“
 
:Als Archimedes die Zeilen überflogen hatte, wußtewusste er, daßdass ,die Wirklichkeit‘ ihm seit gestern unablässig nahe gewesen war. Andere Eindrücke, unerhört Neues hatten ihr Bild verdrängt, wie der wehende Wind das Spiegelbild im Wasser zu Farbenstreifen zerwogt, aber die Farbenstreifen waren vor ihm gewesen. Jeden Herzschlag hatte er sie gesehen. Es gab kein Leugnen. Wer aber war diese Wirklichkeit? Was konnte sie wollen? Laune? Zweck? Wirkliche geistige Anteilnahme? In Alexandria interessierte sich ja angeblich sogar der Pöbel für das Museion.
 
 
Línea 210:
:Archimedes kritzelte schnell „Idyllen des Theokrit“ auf den Papyros. Er kannte die Gedichte des großen Landsmannes nicht. Der Diener war sofort verschwunden, nachdem er den Zettel in Empfang genommen hatte.
 
:Archimedes sprang auf und durchmaß das Zimmer in schnellen Schritten. Auf und ab. Gut, er hatte bisher gelebt wie jeder Jüngling in Hellas. Auch Frauen waren schon oft in sein Erleben eingetreten. Auch Dirnen, auch Knaben. Aber heute war das kein bukolisches Idyll, kein Schäfergetändel. Auch keine Liebe. Es war mehr und weniger. Es war ein beinahe unheimliches Geschehen, so gewöhnlich die Außenseite erschien. Er sollte nicht ernst nehmen, was er las. Das war es eben. In diesem Ausgleiten lag die Überlegenheit der „Wirklichkeit“. Wenn er nun aber doch eine Buhlerin traf, die wußtewusste, daßdass neu angekommene Gelehrte im Museion sofort das große, für sie fast überflüssige Gehalt einzogen? Da lag die Gefahr. Solche Enttäuschung war tödlich. Warum wagte er jedoch das Abenteuer? Jetzt verstand er erst. Sie warnte ihn ja selbst. Daß Dass er es nicht gleich bemerkt hatte. Er solle es eben nicht ernst nehmen, wenn ihn eine Hetäre rief. Die „Wirklichkeit" war ehrlich. Er durfte nachher nicht klagen.
 
:Der Diener stellte den Bücherbehälter auf den Tisch. Archimedes fand die Schnelligkeit, mit der sein Wunsch in Erfüllung gegangen war, bereits selbstverständlich. Er entrollte das erste Buch. Gut, gleich die zweite Idylle. „Die Zauberin.“
Línea 217:
::„Auf, wo hast du den Trank? Wo, Thestylis, hast du die Lorbeeren?
::Komm und wind um den Becher die purpurne Blume des Schlafes;
::daßdass ich den Liebsten beschwöre, den Grausamen, der mich zu Tod quältl“
 
:So begann es. Und er flog die Verse durch, die vom liebeswunden Mädchen in stets steigender Erregung gesprochen wurden, das sich nicht anders zu helfen wußtewusste, als zur Zauberin zu laufen und alle avernischen Mächte zu beschwören. Und wie ein Aufschrei stets wieder der Kehrvers:
 
::„Rolle, o Kreisel, und zieh ins Haus mir wieder den Jüngling.“
:Plötzlich aber schweigt der HaßHass und die Zauberei und ein noch größerer Zauber beginnt zu wirken: die Erinnerung. Wieder der Kehrvers, in dem die anderen Verse eingebettet liegen und durch ihn stets neuen Sinn er halten:
::„Sieh, o Göttin Selene, woher mir die Liebe gekommen.“
:Bis sich die Erinnerung an genossenen Liebesrausch wieder bis zu HaßausbrüchenHassausbrüchen steigert:
::„Hat er nicht anderswo Süßes entdeckt und meiner vergessen?
::Jetzt mit Liebeszauber beschwör' ich ihn; aber wofern er länger mich kränkt - bei den Moiren! - an Hades' Tor soll er klopfen!
Línea 230:
::Ein assyrischer Gast, o Königin, lehrt' es mich mischen.“
 
:Endlich der resignierte SchlußSchluss:
::„Lebe nun wohl, und hinab zum Okeanos lenke die Rosse,
Línea 239:
:Archimedes warf die Rolle auf den Tisch. Der dionysische Inhalt des Gedichtes, die mehrschichtige Harmonie des Aufbaues mit den Kehrversen hatte ihn übermächtig erschüttert. Zugleich standen die Berge und Wälder seiner Heimat und Alexandria vor ihm. Zugleich die Geometrie und die Wirklichkeit.
 
:„Melde Eratosthenes, daßdass ich heute abends nicht in den Speisesälen sein werde. Zuvor aber begleite mich hinaus zur Straße. Vielleicht habe ich dir noch Weisungen zu geben.“ Und er eilte davon, als ob ihm ein Luftbild entschwinden könnte.
 
:Sein Diener zeigte ihm am Tor den Sklaven, der geduldig vor einer von zwei anderen Sklaven getragenen Sänfte stand.
Línea 245:
:Die Sklaven neigten sich tief vor Archimedes, als er einstieg. Dann aber begannen sie, die Kanopische Straße entlang zu laufen, die heute zwar auch belebt war, im Verhältnis zu gestern aber in ihrer Breite fast leer wirkte.
 
:Archimedes bemerkte erst jetzt, daßdass die Dämmerung noch nicht weit fortgeschritten war. Es war ein klarer, nicht allzu heißer Spätnachmittag, an dem sich das Treiben eben erst zu entfalten begann.
 
:Die Sklaven liefen in die Richtung, aus der er gestern zum Museion gekommen war. Sie machten aber vor dem Paneion nicht halt, sondern bogen erst ein gutes Stück westlicher gegen Süden ab. Das Stadtviertel, in das die Querstraße jetzt vordrang, wurde zusehends reicher und vornehmer. Hinter Mauern und Gittern funkelten inmitten feucht duftender Gärten prächtige Landhäuser, die manchmal sogar Palästen glichen. Bis sich endlich vor ihnen wuchtig die südliche Stadtmauer erhob. Hier bogen die Sklaven neuerlich gegen Westen und hasteten auf einem schmalen Pfad zwischen zwei Gärten, der plötzlich nicht weiterführte, da ihn ein hohes Bronzetor abschloßabschloss. Sie stellten die Sänfte behutsam auf das Pflaster, und einer von ihnen lief voran und öffnete mit einem mächtigen Schlüssel das Tor.
 
:Nach Durchquerung des Tores wurde das Ziel des Weges jedoch durchaus nicht deutlicher, da dieser Weg in einigen Windungen sich zwischen hohen Gebüschen durchschlängelte.
Línea 256:
 
 
:Unvermittelt bog er nach Süden ab und sie standen am Fuße der riesigen Stadtmauer, auf deren Höhe eine Holzrampe hinaufführte, der man es ansah, daßdass sie im Notfall sofort entfernt werden konnte.
 
:Archimedes wußtewusste nicht mehr, was man mit ihm vorhatte. Was waren das für seltsame Umwege und Winkel? Wollte man ihn gar in eine Falle locken? Auf der Mauer oder außerhalb der Mauer konnte „die Wirklichkeit“ doch nicht Wohnen?
 
:Geduldig schleppten ihn die Sklaven die Rampe hinauf, ohne ihren Lauf wesentlich zu verlangsamen. Auf der Höhe der Mauer stellten sie die Sänfte nieder, und der Begleiter, der bisher vorangelaufen war, trat zu Archimedes:
 
:„Die Herrin läßtlässt dich bitten“, sagte er nach tiefer Verbeugung, „du mögest hier ein wenig aussteigen und dir ihren Wohnsitz von oben betrachten.“
 
:Archimedes hatte die Worte kaum verstanden, jedoch kam er unwillkürlich der Aufforderung nach. Als er aber an den südlichen Rand der Stadtmauer getreten war, stockte ihm fast der Atem. Links von ihm lag der mächtige „Sumpfhafen“, der alle Schiffe barg, die vom Nil aus Ägypten, Arabien oder Indien herüberkamen. Oder von noch weiter her. Der Hafen aber war durch eine Mole abgeschlossen, nach deren Einmündung in die Stadtmauer diese senkrecht in den See Marcotis abfiel, so daßdass die Wellen des Sees ihren Fuß netzten. Unmittelbar nun unter ihrem Standpunkt lagerte sich vor die Stadtmauer, in den See hinein, eine kleine Halbinsel, auf der inmitten herrlicher üppigster Gärten ein Palast stand, dessen Vorderseite ihnen zugekehrt war. Sein Baustil war ein Gemenge ägyptischer, hellenischer und fremdartiger Architektur, und Goldmosaiken und Malereien flirrten an seiner pylonenartig gestalteten Fassade in der tiefstehenden Sonne. Vor dieser Fassade, unmittelbar unter ihnen, aber dehnte sich ein buntgepflasterter Vorhof.
 
:„Der Tempel der Wirklichkeit, soll ich dir sagen, o Herr, wenn du zum erstenmal hinabsiehst, hat mir die große Herrin befohlen“, murmelte der Sklave. „Jetzt aber darf ich dich bitten, wieder die Sänfte zu besteigen. Wir sind sofort am Ziele.“
Línea 278:
:Von einem Lager aus Edelholz aber erhob sich lächelnd das Mädchen Wirklichkeit und kam ungeziert und natürlich auf Archimedes zu.
 
:„Es freut mich, daßdass du mir vertrautest“, sagte sie sicher und freundlich. „Du wirst einsehen lernen, daßdass die Wirklichkeit all das ist, was nun einmal auf der Erde Dasein hat. Die Wirklichkeit schaut man, und man braucht nicht zu fragen, ob sie vorhanden ist. Man kann sie sogar durch Fragen zerstören.“ Plötzlich änderte sich ihre Stimme. „Es ist heute ein prächtiger Abend. Du brauchst die Stille, und auch ich brauche sie. Wir werden am Ufer unser kleines Mahl einnehmen.“ Sie winkte die Knaben fort und faßtefasste Archimedes an der Hand wie ein kleines Kind.
 
:Archimedes war so benommen, daßdass er sich kaum Rechenschaft gab, wie sie beide durch Gänge, über Höfe und durch Säulenhallen in einen Zaubergarten hinauskamen. Es war ein lichter Hain unmittelbar am Ufer des Mareotissees, dessen Schilf den Garten begrenzte. Flamingos standen im Schilf, Hunderte und Hunderte anderer Vögel huschten und flatterten umher. Ganz nahe am Ufer aber war ein mosaikbelegter Platz mit hohen Kandelabern herum, in dessen Mitte ein Tisch und zwei Klinen standen. Auf dem Tisch aber waren, mit feinsten Schleiern bedeckt, allerlei Speisen und Getränke vorbereitet.
 
:Jetzt erst blickte Archimedes ,die Wirklichkeit‘ an. Sie war heute weltenweit anders
Línea 291:
:„Woher weißt du davon?“ fragte Archimedes erschrocken zurück.
 
:„Es ist das Geringste, was ich weiß. Aber ich sehe, daßdass dich Eratosthenes schon eingeweiht hat. Er war unhöflich und hat mich heute ohne Nachricht gelassen.“
 
:„Dazu also?“ stieß Archimedes geärgert hervor, da ihn plötzlich Enttäuschung überkroch.
Línea 301:
 
 
:„Nein, durchaus nicht!“ lachte sie. „Das hätte ich einfacher haben können. Ich bin aber nun einmal eine alberne Person und liebe das Versteckenspielen. Der Wirklichkeit ist nie etwas genug. Ihr genügen nicht einmal Paläste. Sie will alles haben. Auch Geheimnisse. Auch rollende Kreisel, die Jünglinge herbeizaubern.“ Sie bißbiss in die roten Kerne des Granatapfels und warf sie dann den Vögeln hin, die mit gierigen Stelzschritten darauf zuschossen. Plötzlich wurde sie sehr ernst und sah ihn mit einem Blick an, dessen Tiefe und Schönheit er trotz all ihrem Liebreiz noch nicht geahnt hatte. „Ich bin gleichwohl irgendwie mit den Göttern befreundet“, setzte sie fort. „Ich rief dich um sehr, sehr ernster Dinge willen. Und bin dir dankbar, daßdass du kamst. Viel von dem, was ich dir sagen will, kann ich heute nicht zureichend erklären. Ich mußmuss es dir zeigen. Ich wollte aber heute ein wenig mit dir beisammen sein, um die Fremdheit zu verscheuchen. Hier in meinem Hause. Und ich bitte dich, in vier Tagen dich meiner Führung anzuvertrauen. Es gibt da drüben sonderbare Dinge.“ Und sie zeigte mit der Hand in unbeschreiblichcr Anmut über den See nach Südosten. Dann blickte sie zu Boden und schloßschloss: „Eratosthenes wird dir sagen, wer ich bin. Frag ihn nach der Wirklichkeit. Aber, bitte, verschmäh jetzt die Speisen nicht, die ich mit großer Sorgfalt für dich bereiten ließ.“
 
:Archimedes schwieg. Ein Wirbel von Gedanken erfaßteerfasste ihn. War sie eine Königin? Ihr Haus? Dieser Palast, dieses Reich gehörte ihr? Und die Speisen? Es waren Krebse, Fische und Dinge, die er überhaupt nicht kannte. Alles in goldenen Schüsseln mit ägyptischer Glasur. Dunkler, schwerer Wein, helle Fruchtsäfte und süße Mete.
 
:„Sieh, Archimedes“, sprach sie weiter, „du weißt, daßdass ich eine Milesierin bin, daßdass ich in Athen weilte. Das habe ich dir bereits gesagt. Auch die Mathematik ist mir nicht fremd. Ich kenne das Reich der Formen und das Reich der Zahlen. Ein wenig kann ich beurteilen, wer du bist. Ich hörte, daßdass du aus Syrakus hierherkommen würdest. Ich höre alles. Meine Leute haben am Hafen erfahren, daßdass du eintrafst. Ein Eilbote hat mich davon verständigt und einige andere haben mir fortlaufend berichtet, wohin du gingst. Unser Zusammentreffen auf der Spitze des Paneions war kein Zufall. Ich suchte dich. Als ich dich aber sah, kam zu meiner Neugierde noch anderes hinzu. Nennen wir es Freundschaft. Kurz, ich will zum Ruhm und zur Größe des Hellenentums so viel beitragen, als ich kann. Und du sollst auch nicht glauben, daßdass in Alexandrien nur Narren und Buhlerinnen wohnen. Richtiger gesagt, ist es so. Ich will aber nicht, daß dass dich diese Atmosphäre von dem abzieht, wozu du bestimmt bist. Und da war ich gestern eine Göttin, heute bin ich eine Königin, in einigen Tagen werde ich wieder anderes sein. Stets aber die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist ein Mädchen, Archimedes. Oder eine Frau. Aber auch das darfst du nicht falsch verstehen. Ich habe die Weihen des großen Dionysos, Archimedes. Ich kenne auch die Abgründe des Wirklichen.“ Unvermittelt lenkte sie ab: „Sieh, wie die Vögel plötzlich erschrocken auseinanderfahren! Sie erschrecken über das Geräusch ihres eigenen Flügelschlages.“
 
:Archimedes fühlte sich durch ihre Worte stets mehr und mehr gebannt. Er hatte es schon längst aufgegeben, ihr Rätsel zu ergründen. Gab es da überhaupt ein ergründbares Rätsel? Wer sie war, wie sie hieß, ihren Rang, Reichtum, all das würde er von Eratosthenes erfahren. Dadurch auch wahrscheinlich ihre Absichten. Was bedeutete das aber? Wie konnte das die Ruhe, den Auftrieb erklären, den sie ihm gab. Er sah sich genau. Sah sich wie einen schüchtern blöden Epheben vor ihr sitzen, der ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Entschiedenheit nicht einmal ein Wort hervorbrachte. Trotzdem war es keine Lähmung, keine Befangenheit. Er wollte gar nicht sprechen, wollte sich ihr hingeben, sich von „der Wirklichkeit“ einhüllen lassen, fühlte stets wieder das letzte Geheimnis der „Urmütter“, das sie ausstrahlte. Sie stand mit dem geheimnisvollen „Ort der Entstehung“, dem Urgrund, sichtbar in Verbindung. Deshalb auch wußtewusste er, warum er nicht sprach. Es war ihre Aufgabe, ihn schweigen zu lassen, ihn zu vereinigen, ihm letzte Ruhe zu schenken. Oder war sie doch nur ein liebendes Mädchen, das in einer vergänglichen Laune sich den Spaß leistete, einen Weisen des Museions zu verwirren? Sie hatte es jetzt schon in der Hand. Das fühlte er an seiner Angst, die sofort in ihm emporstieg, wenn er solche Gedanken auch nur ein wenig erwog.
 
:„Du spielst mit mir“, sagte er plötzlich vor sich hin. „Die Wirklichkeit ist eine große Gefahr für Menschen, denen die Götter einen unabänderlichen Weg vorgeschrieben haben. Vielleicht sollen sie eben deshalb der Wirklichkeit ausweichen.“
Línea 313:
:Sie schüttelte fast traurig den Kopf.
 
:„Ich spiele nicht mit dir, Archimedes“, antwortete sie weich und gleichwohl fest. „Ich will es eben verhindern, daßdass du die Wirklichkeit dort begegnest, wo sie dir schadet. Dein Wille auszuweichen ist ein frevelhafter Wille. Er ist die Ansicht dieses gespenstischen Museions, das du erst kennenlernen wirst, bis es dich nicht mehr blendet. Nein, bei mir ist sicherlich nicht von mir, auch nicht von Archimedes die Rede, sondern von Hellas, wenn ich das Wort Platons abwandeln darf. Du ahnst jetzt schon, daßdass ich fast alles könnte, was ich wollte. Als Göttin, als Königin, als das, was du noch erfahren wirst. Aber ich will Beschränktes, Klares, Großes. Wenn du es Spielerei nennst, dann widerspreche ich nicht. Vor den Göttern ist alle Menschentat irgendwie Spielerei. Ich werde nur das nicht tun, was bei den Menschen mit Recht als Verspieltheit bezeichnet wird. Darf ich dir jetzt von der Stadt der Städte, von diesem Alexandrien, erzählen, wie ich es sehe? Von dieser Stadt, die ich so wenig liebe, daßdass ich mir das Haus außerhalb der Stadtmauer baute? Ich halte meine Tat nicht einmal für gefährlich. Alexandrien hat keine möglichen äußeren Feinde. Ich bin hier geschützter als innerhalb der Mauer. Denn solche Träume wie Alexandrien verwirren sich nur in sich selbst.“ Sie bot ihm Speisen an und schenkte seinen Becher voll.
 
 
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:Dann erzählte sie eigentümliche und ungeahnte Dinge von dieser Stadt, die sie anscheinend bis in die letzten Zuckungen ihres Pulsschlages kannte.
 
:Längst waren die letzten purpurroten und violetten Farben, die auflodernd wie eine riesige Kuppel über dem See Mareotis und über der mächtigen Linie der Stadtmauer, über Schiffen, Schilf und Wasservögeln gestanden waren, einem kalten Perlmuttergrau gewichen. Auch dieses zerfloßzerfloss in milchiges Nichts und verwehte schließlich, so daßdass nur Dunkelheit überall lag. Lautlose Sklaven hatten die Kandelaber entzündet. Und die beiden saßen plötzlich in einem kleinen abgegrenzten Lichtkreis, der nach allen Seiten verschattende rote Zungen aussandte.
 
:Durch all diesen Wechsel aber klang weich und eindringlich der schmiegsame ionische Dialekt der Milesierin, doppelt melodisch den Ohren des korinthischen Syrakusers.
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:So erging es Archimedes. Nach kurzer Zeit begann er zu antworten, begann sein Dorisch in ihr Ionisch zu flechten. Und es gab kein Geheimnis, kein Tasten, kein Berechnen da, obgleich alles, von außen gesehen, voll von Rätseln und Unausgesprochensein war.
 
:Harmonisch wie alles andre war der Abschied. Sie wanderten schweigend zurück durch den Garten, leise knirschte der Kies unter ihrem Schreiten, und er wußtewusste es im eigentlichen Sinn des Wortes erst in der beleuchteten Pracht der Säulenhallen, als sie mit leicht gesenktem Kopf und nachlächelndem Mund neben ihm einherging, daßdass noch im Urraum tiefsten Dunkels vor dem Tore ein kurzer, gleichwohl aber verlöschender und wahnsinnsnaher KußKuss auf seinen Lippen gebrannt hatte.
 
:Unheimlich dazu wie das Siegel Salomos, von dem er heute vormittags in der Wandelhalle des Museions gehört hatte.
 
:Sie sprach halblaut, als fürchtete sie sich, die Urgewalt dieses riesigen Geschehens, das für einige zuckende Herzschläge in jedem der beiden und doch wie ein ganzer Kosmos außerhalb von ihnen sich ereignet hatte, zu profanieren oder in das Gegenteil furchtbarer Fremdheit zu verkehren. Sie wies nur ab und zu auf Bilder und Bronzen, um das Urgöttliche durch den Mittler der Kunst leise zum klaren Dasein heruntergleiten zu lassen. Und sie brachte es auch zustande, daßdass sie beide bereits unabsichtlich und unbefangen miteinander über gleichgültigere Dinge sprachen, als die ersten anderen Menschen, die Diener im Palaste, ihren Weg kreuzten.
 
:Kurz und freundlich erteilte sie Befehle, verabschiedete sich mitten in der Flucht ihrer Säle von Archimedes und üb-erließüberließ ihn der geräuschlosen Obhut der Sklaven, die ihn durch eine flackernde Sternennacht, durch zunehmenden Staub und durch das noch Wache, rücksichtslose Leben der Weltstadt ins Museion zurückgeleiteten.
 
:Am Tische des großen Beta wurde der kaum mehr erwartete Gast mit Jubel begrüßt. Man fragte nicht, beachtete nicht, daßdass Archimedes schwieg. Man diskutierte weiter und prüfte aneinander die Schärfe der Gedanken und Formulierungen. Aus dem gestrigen Kreise waren außer Eratosthenes nur der unvermeidliche Grammatiker Sosibios und der Chirurg anwesend. Die anderen waren Philosophen, Geographen und Historiker, da die Tischgesellschaften sich jeweilig gemäß dem eben diskutierten Thema zusammenfanden.
 
:Archimedes hörte nur Bruchstücke der Unterhaltung und bemerkte zu seinem Schrecken, daßdass die erste Voraussage der Wirklichkeit bereits in Erfüllung gegangen war: ihn vermochte der Zauber des Museions nicht mehr zu bannen. Im Gegenteil, vieles, was ihn umgab, erschien ihm hart, kalt und erklügelt. Es klang hohl, hatte den Ton, der aufstöhnt, wenn man zerbrochene Tongefäße mit einem Holzstab anschlägt.
 
:Doch war es durchaus kein Abrücken vom Geist, was ihn zu dieser Haltung drängte. Auch nicht der krankheitsnahe Nebel rauschgeborener Verliebtheit, der monomanisch alle Sinne abschließt und nur den einzigen Gedanken, die einzige Erinnerung als bunten Kreisel um die Achse dieser Leidenschaft herumdreht. Im Gegenteil. Wie ein brausender und doch wieder beruhigender Unterton begleitete ihn die Wirklichkeit. Nicht als Einzelwesen, sondern als Kraft. Oberhalb dieser Begleitung aber zeichnete sich stets klarer sein eigenstes Reich mit neuen, noch nie geschauten Wundergestalten, Zielen und Verwirklichungsmöglichkeiten ab.
 
:Sie waren schon längere Zeit beisammengesessen, Archimedes hatte auch ab und zu getrunken, als er bemerkte, wie das Auge des Arztes Herophilos forschend auf ihm ruhte und sich seine weißen Zähne zusammenpreßtenzusammenpressten.
 
:Archimedes hatte das feste Gefühl, der Anatom wisse um seine Seele Bescheid, zergliedere sie säuberlich mit dem Messer der Gedanken. Wozu Verlegenheit oder Umschweife? Man mußtemusste dem Wähnen trotzen, dadurch, daßdass man es zum Wissen erweiterte; weil manchmal Wahrheit verwirrender ist als Andeutung oder gar Ableugnung.
 
:Er sagte also, als eine Gesprächspause eintrat:
 
:„Ich soll dir Vorwürfe machen, Eratosthenes, daßdass du einer Frau, die ich unter dem sonderbaren Namen der Wirklichkeit kennenlernte, heute noch nichts über die pergamenischen Blätter mitteiltest.“
 
:Die Wirkung dieser knappen Worte war eine unerwartete. Alle kehrten sich ihm zu und die Augen des Herophilos weiteten sich beinahe hassend.
 
:„Ich danke dir für die Botschaft“, antwortete Eratosthenes. „Ich werde das Versäumte nachholen. Besser, ich mußmuss es. Denn der Wille und die Laune dieser Frau war in Alexandrien noch stets ein Befehl. Ich wundere mich bloß, woher du sie kennst, da sie meines Wissens noch niemals in Syrakus war.“
 
 
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:„Ich lernte sie auf dem Paneion kennen, kurz nachdem ich hier landete. Sie führte mich durch das Fest hierher“, sagte Archimedes kühl, da ihn die Angriffslust der Blicke ärgerte und er unwillkürlich sein Erleben nicht trüben lassen wollte.
 
:„Ja, wir unterschätzen sie noch“, krähte Sosibios auf. „Jetzt fängt sie uns schon die Philosophen vor der Ankunft ab, um sie gegen das Museion aufzuwiegeln. Übrigens eine lächerliche Posse, sich stets die Wirklichkeit zu nennen. Sie heißt einfach Aletheia, da sie verrückte Eltern hatte, die wahrscheinlich unter Aletheia etwas anderes verstanden als wir, wenn sie zur Täuschung den Artikel vorsetzt. Jeder würde sonst bloß Aletheia hören und sich am Klang freuen. Bei Xanthippe denkt man auch nicht an braune Pferde und bei Artemidoros nicht an das Geschenk der Artemis. Durch den Artikel aber zwingt sie uns den Begriff ihres Namens auf. Dazu tut sie dann noch recht geheimnisvoll, so daßdass schon manche Neulinge auf Grund ihres Gehabens und ihrer stets wechselnden Kostümierung gemeint haben, es wandelten noch selige Götter oder zumindest Charitinnen durch den Staub der Kanopischen Straße. Gut, sie ist nicht gerade ungebildet und hat in Athen Philosophie studiert. Aber das ist ihr zu Wenig. Sie will womöglich mehr sein als die Hetäre Diotima in Platons Gastmahl. Sie ist so weise und so launenhaft, daßdass sie schon manch einem von uns die Lust an der Arbeit gründlich genommen hat.“
 
:Sosibios dämmte seinen RedeflußRedefluss ein, da ihm der Arzt die Hand beschwörend entgegenhielt.
 
:„Ich bin zwar durchaus nicht ihr Freund, Archimedes“, sagte er gewichtig, „durchaus nicht. Ich will aber trotzdem die Schmähungen des Sosibios, die wahrscheinlich aus gekränkter Liebe . . .“
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:„Lassen wir Herophilos auch einige Worte sprechen“, sagte Eratosthenes ruhig, aber in deutlichem Befehlston.
 
:Sosibios jappte noch einmal auf. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und goßgoss ungemischten Samier in seinen Becher. Herophilos aber setzte fort:
 
:„Sie ist irgendwie unsre Todfeindin, Archimedes. Aus dem Gefühl heraus, daßdass die Wirklichkeit nur im Weiberdienst besteht oder in allen materiellen Beschäftigungen. Uns hält sie für Gespenster. Das hat sie dir sicher schon gesagt. Du kennst aber noch nicht die Grundlage ihrer Macht, die es uns überhaupt erst wichtig macht, was sie über Dinge denkt, die sie im Grunde nichts angehen. Sie kam vor einigen Jahren hierher, heiratete einen der reichsten Kaufleute Alexandriens, der sie wie toll liebte, und bewog ihn, ihr alle Wünsche zu erfüllen. Der Palast vor der Mauer ist eine dieser Launen. Nun starb der Gatte an einem Leberleiden. Er war, nebenbei bemerkt, nicht der Jüngste gewesen. Und es geschah das weitere Wunder, daßdass die Milesierin auf Grund der Fähigkeiten Milets sich im Handel noch tüchtiger erwies als der tote Gatte. Kurz, sie ist die reichste Frau Alexandriens. Reihen von Häusern, riesige Ländereien im Delta, der ganze Papyroshandel liegen in ihrer Hand. Sie besitzt Schiffe, Wagen, Herden, Bergwerke. Ihr EinflußEinfluss reicht bis Arabien und Indien. Und sie verwaltet einen Teil der Vermögenschaften, aus denen unser Museion erhalten wird. Und liefert uns den Papyros. DaßDass sie beim König aus und ein geht wie eine Prinzessin, ist klar. Vollkommen unklar aber ist es, daßdass man ihr keine Laster nachsagen kann. Sie ist Wohltätig und freundlich und scheint bloß von einer einzigen Idee besessen, die echt weiblich ist. Sie will gleichzeitig das Museion fördern und es zerstören. Wir sind ihr zu wenig ,Wirklich‘. Mit Ausnahme der Ärzte. Die sind ihr Wieder zu Wirklich. Habe ich die Wahrheit über die Wirklichkeit gesprochen, großer Beta?“
 
:In deiner Art, Herophilos“, lächelte Eratosthenes. „Die Tatsachen sind richtig. Nur bleiben sie zum Teil noch hinter der Wirklichkeit zurück. Man behauptet ja sogar, daßdass sie eine geheime Privatarmee unterhält, um Entwicklungen in Alexandrien zu unterdrücken, die ihr nicht passen. Trotzdem verschmäht sie jeden persönlichen Schutz. Das ist es auch, was ihr Philadelphos hoch anrechnet. Er hat Angst um sie, nicht Angst vor ihr. Leider hat sie uns schon durch ihre Ansichten einige zukunftsreiche Köpfe von hier vertrieben. Sei dessen eingedenk, Archimedes! Das ist alles, was ich dich im Namen des Museions bitte. Es soll deine Freiheit nicht antasten. Am Eros aber stirbt ein Hellene nicht. In welcher Form er auch an ihn herantritt. Es lebe die neueste Bundesgenossenschaft Archimedes-Aletheia, Wissenschaft und Wirklichkeit! Gut, daßdass der kleine Apollonios nicht anwesend ist! Der liebt den Einbruch der Wirklichkeit in die Wissenschaft nicht. Noch einmal, die Götter mögen diese sonderbare Freundschaft segnen!“
 
:Der Zutrunk des Eratosthenes war an alle Tischgenossen eine zwar sanfte, aber eindringliche Mahnung, den Hauptgrundsatz des Museions, den höchster Freiheit, zu achten. Auch auf die Gefahr hin, daßdass sich diese Freiheit gegen das Museion selbst kehrte.
 
:So wurden die Becher erhoben und bald wendete sich das Gespräch wieder der Weisheit und dem Allgeıneinen zu, und Archimedes nahm, zuerst noch ein wenig nachdenklich und zerstreut, daran einigen Anteil.
 
:Es wäre falsch zu glauben, daßdass er sich etwa in diesem hochgeistigen Kreise heute unwohl gefühlt hätte. Er konnte dies nicht, da jeder Augenblick neue Gesichtspunkte entschleierte. Trotzdem war der heutige Abend bloß ein schwacher Abglanz des gestrigen. Hatte sich doch inzwischen die Welt der „Wirklichkeit“ vor dem „Traum“ des Museions geschoben, der zudem heute sowohl inhaltlich als durch die Wiederholung und das Fehlen des Neuheitsprickels ungleich blasser wirken mußtemusste.
 
 
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:Als sein Geist sich aber langsam aus dem Schlafe löste, da begann er die Träume in die Ordnung des Wachseins zu übersetzen. Die Nacht hatte einen großen Gewissenszweifel endgültig entschieden und einen klaren Plan geboren.
 
:Der Diener meldete, er habe den Brief bereits bestellt und als Gegengabe einen Strauß fremdartiger Blumen für den Herrn erhalten. Die Herrin aber lasse sagen, daßdass sie sein Versprechen nicht vergessen habe, ihr in einigen Tagen wieder Gesellschaft zu leisten. Sie freue sich, daßdass er ihr dann auch schon von neuen Entdeckungen erzählen werde.
 
:Das also war der Sinn der viertägigen Pause? Seine Seele schäumte fast über in Dank zu der Befruchterin. Woher wußtewusste sie so genau, was in ihm vorging? Sie sollte nicht enttäuscht sein. Sie führte ihn traumsicher zu sich selbst, um dann dieses erhöhte Selbst lächelnd in Empfang zu nehmen und neue Wege zu ersinnen, es zu stärken und zu befeuern. Und es war trotz solcher jubelnder Freude nur natürlich, daßdass sich gleichzeitig die Angst meldete, das Wunder zu verlieren. Das war aber wieder nicht wesentlich: denn, wenn er sich ganz besitzen ließ, verlor er gerade das, um was er am meisten bangte. Sie wollte den eigentlichsten Archimedes und nicht einen Hellenen aus Syrakus, einen durch Schönerc, Stärkere und Liebenswertere vertretbaren Mann.
 
:Er ließ die dunkel gefleckten, betäubend duftenden Orchideen in eine Vase stellen, verlangte, daßdass ihm das Frühmahl ins Zimmer gebracht werde und fragte den Diener, ob er ihm eine Waage beschaffen könne. Jedoch eine möglichst feine und empfindliche. Der Diener nickte und entschwand.
 
:Archimedes aber rißriss sich endgültig von den Blumen und von den durch sie erweckten Gefühlen los. Und setzte sich in einer eigentümlich fiebrigen und aufgelockerten Stimmung zum Arbeitstisch. Sein Plan war gefaßtgefasst. Er wollte gewissen Geheimnissen durch Versuche an den Leib rücken.
 
:Die folgenden Stunden sahen ihn in scheinbar konfuser Geschäftigkeit. Er zeichnete, zirkelte, maß, trank dazwischen Milch, schritt im Zimmer auf und nieder, veranlaßteveranlasste den Diener zu mancherlei Gängen und Arbeiten, worauf er wieder lange Berechnungen auf Blätter kritzelte.
 
:Schließlich hatte er alles beisammen, was er brauchte. Er .zeichnete auf das Pergament und schnitt daraus höchst sorgfältig Figuren. Zuerst überzeugte er sich durch Abwägen zweier kongruenter, aus dem Pergament geschnittener Figuren, daßdass es überall die gleiche Dicke hatte. Dann ging er weiter und untersuchte eine Säule aus kreisrunden Pergamentblättchen, die er mit einer gleich dicken Säule aus Holz verglich. Dann wieder kamen Figuren an die Reihe, die er irgendwo auf einer Nadelspitze schweben ließ, um den Schwerpunkt zu finden. Schließlich wurden verschiedene Parabelsegmente vorgenommen und mittels der Waage mit umbeschriebnen Rechtecken und Parallelogrammen ins Verhältnis gesetzt, wobei ihn schon ein Schauer überrieselte, da er trotz zahlreicher Wiederholungen stets wieder sehr abgerundete Quadraturergebnisse fand, die mit den hartnäckig irrationalen Ergebnissen der Kreisquadratur an Einfacheit nicht zu vergleichen waren.
 
:Plötzlich, mitten in allen Arbeiten, durchzuckte ihn ein Gedanke. Ein scheinbar wahnsinniger Gedanke. Die Kugel war doch nichts anderes als ein Kegel, dessen Öffnungswinkel ein voller Kreis war? Wenn er also einmal die Größe der Kugeloberfiäche entdeckte, konnte er auf dem Umweg über die bereits bekannten Kegelformeln den Inhalt der Kugel bestimmen, oder umgekehrt, aus dem Rauminhalt der Kugel ihre Oberfläche.
 
:„Du mußtmusst mir sofort einige Kugeln aus Holz oder aus Marmor verschaffen. Meinethalben aus Glas“, sagte er hastig zum Diener. „Aber schöne, glatte, durchwegs kreisrunde Kugeln. Ist das möglich?“
 
:„Gewiß“„Gewiss“, erwiderte der Diener. „Es gibt hier einen Drechsler, der dreht sie mit einem Messer, dessen Schneide ein hohler Halbkreis ist. Wieviel dürfen die Kugeln kosten und wie groß sollen sie sein?“
 
:„Da er nicht so schnell neue Drehmesser erzeugen kann, soll er sie machen, so groß er will. Der Preis ist mir einerlei. Ich brauche keine Goldkugeln und keine Edelsteinkugeln.“
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:„Die eine der Kugeln soll aus zwei Halbkugeln bestehen“, sagte er zum Diener. „Verstehst du? Sie soll in zwei Halbkugeln zerschnitten sein. Aus demselben Material aber laßlass mir, so hoch wie diese Halbkugeln einzeln sind, einen Kegel und einen Zylinder drechseln. Der Grundkreis der Halbkugel aber soll der gleiche sein wie der des Kegels und des Zylinders. Ich gebe dir eine Zeichnung, damit kein MißverständnisMissverständnis entsteht.“ Und er nahm ein Stück Papyros und skizzierte, was er eben gefordert hatte. „Und jetzt geh und bring mir alles, so schnell du kannst.“
 
:Archimedes saß, ohne sich weiter um den Diener zu kümmern, bereits beim Arbeitstisch. Die Überlegungen folgten einander so rasend, so überstürzend, daßdass er sie mit dem Aufgebot aller Kräfte kaum zu klaren Folgen und Schlüssen ordnen konnte.
 
:Ich rücke, sprach es in ihm, der ungreifbaren Glätte der Kugel näher, sie wird plötzlich anders, wenn ich sie anders denke. Sie ist vollständig im Banne des Kreises, die Kugel. Nur im Banne des Kreises. Eudoxos und noch frühere haben die Gesetze des hellenischen Denkens und Schauens in ähnlich frevelhafter Art überschritten, wie ich es jetzt eben tue. Ich zerschneide die Kugel in zwei Halbkugeln. Eine davon betrachte ich weiter: zuerst hat sie einen Grundkreis, den Äquator, der ein größter Kreis der Kugel ist. Nehmen wir an, dieser Kreis sei eine unsäglich dünne Scheibe aus Papyros oder pergamenischem Schreibstoff. Wie sieht der nächsthöhere Schnitt aus? Er mußmuss kleiner sein, ist aber Wieder eine Kreisscheibe. Ebenso der nächste, der vierte, fünfte, sechste, siebente, hundertste, tausendste. Kreisscheiben, nichts als Kreisscheiben, deren jede kleiner ist als die vorhergegangene. Schließlich aber werden die Kreise so klein, daßdass sie ins Unsichtbare verschwinden, und am SchlußSchluss gibt es einen Kreis, der ein Punkt ist. Also ein Nichts. Das ist der Pol. Da aber die halbe Kugel, also auch die ganze Kugel, aus lauter Kreisscheiben besteht, mußmuss der Rauminhalt der Kugel mit dem Flächeninhalt des Kreises zusammenhängen. Denn selbst wenn ich alle die zusammensetzenden Kreisscheiben als unsäglich niedere Zylinder betrachte, kommt ja nur noch der linienhafte Faktor der Höhe hinzu. Alle Höhen dieser Scheiben zusammen sind aber nichts als der Halbmesser der Kugel für die Halbkugel und der Durchmesser für die ganze Kugel. Nun kann man sich Zylinder und Kegel ebenso aus Kreisscheiben aufgebaut denken. Beim Zylinder sind es lauter gleich große Scheiben, beim Kegel stets kleiner werdende, die bei der Kegelspitze ebenfalls zum Punkt einschrumpfen. Aber das Gesetz des Kleinerwerdens ist beim Kegel ein anderes als bei der Kugel. Beim Kegel werden die Scheiben gleichmäßig, bei -derbeider Kugel zunehmend kleiner. Gleich wie es Reihen von Bruchzahlen gibt, die gleichförmig, und solche, die zunehmend sich in den einzelnen Gliedern verkleinern.
 
:Nun weiß ich aber, wie groß der Rauminhalt des Kegels und der des Zylinders ist. Gesucht bleibt der Kugel- oder der Halbkugelinhalt. Ich kann jedoch die drei Körper sehr gut vergleichen, wenn sie alle die gleiche Basisfläche und die gleiche Höhe haben. Der Zylinder ist dann größer, der Kegel bestimmt kleiner als die Halbkugel. Schneide ich die drei Körper senkrecht in der Achse, dann wird aus der Halbkugel ein Halbkreis, aus dem Zylinder ein diesem Halbkreis umgeschriebenes Rechteck, dessen Grundlinie der Kugeldurchmesser und dessen Höhe der Halbmesser ist. Der Kegelschnitt aber wird ein dem Halbkreis eingeschriebenes gleichschenkeliges Dreieck mit dem Durchmesser als Basis und dem Halbmesser als Höhe.
 
:Lassen wir diesen senkrechten Schnitt. Ich weiß, daßdass er mir dereinst unabsehbare Dienste leisten wird. Jetzt aber verwirrt er nur alles. Bleiben wir bei den Kreisscheiben. Wenn sich also alle drei Körper aus Kreisscheiben zusammensetzen, dann steckt in allen drei Körpern Schicht für Schicht der Kreis. Und nichts als der Kreis. Es gibt ja keinen anderen zusammensetzenden Bestandteil als den Kreis. Daher muß immussim ganzen Körper die Eigenschaft des Kreises enthalten sein, und zwar in allen Grundflächen der als unsäglich niedere Zylinder gedachten Kreisscheiben. Da alle drei Körper die gleiche Höhe haben, die die Summe aller Scheibenhöhen ist, fällt sie bei einem Vergleich der drei Körper heraus. Aber es fällt auch die Kreiseigenschaft heraus. Übrig bleibt dann lediglich eine Vergleichszahl, die ich mit der Waage als Gewicht feststellen kann, wenn alle drei Körper aus dem gleichen Stoff bestehen. Dann aber kann ich sofort wieder aus dieser Verhältniszahl und der mir ja schon bekannten Inhaltsformel des Kegels oder des Zylinders die Kugelinhaltsformel gewinnen, wobei ich für die Höhe schließlich den Halbmesser einsetze, die sich mit dem Halbmesserquadrat der Grundfläche zu einem Kubus gestalten mußmuss. Die Formel für den Kugelrauminhalt lautet also Kubus des Kugelhalbmessers mal der Kreiseigenschaft mal irgendeiner Verhältniszahl zum Zylinder oder zum Kegel. Zylinder und Kegel stehen ja untereinander wieder im Raumverhältnis eins zu drei, wenn sie die gleiche Höhe haben und auf demselben Basiskreis ruhen.
 
:Es bleibt also eigentlich nur mehr die Aufgabe übrig, die Kreiseigenschaft möglichst genau zu berechnen, damit ich in die Lage komme, auch wirkliche Inhaltsberechnungen durchzuführen.
 
:Für die Kugeloberfläche aber habe ich schon früher den Weg gefunden. Sie ist die gedachte Grundfläche eines Kegels, dessen Höhe der Halbmesser ist. Eigentlich ist die Kugel eine Unzahl winziger Kegel, die ihre Grundflächen in der Kugelfläche und den Scheitel im Kugelmittelpunkt haben. Sie schließen aneinander wie unzählbar viele Tüten oder Wespenwaben. Nun weiß ich schon vieles. Fast alles. Denn die Kugeloberfläche mal dem Halbmesser, der ja die Höhe aller Kleinkegel bildet, mal einem Drittel, das ja aus der Kegelformel bekannt ist, mußmuss gleich sein dem Kubus des Halbmessers mal der Kreiseigenschaft mal der durch die Waage festzustellenden Verhältniszahl zum Kegel, der die Basis des Größtkreises und die Höhe des Halbmessers hat. Daraus aber folgt zwingend, daßdass die Kugeloberfläche irgendein Vielfaches dieses Größtkreises sein mußmuss.
 
 
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:Archimedes sank mit dem Kopf vor Erschöpfung schweißüberströmt auf die Blätter, die bereits mit zahllosen Zeichnungen und Formeln bedeckt waren. Seine Schläfen hämmerten, sein Puls jagte. Und das Wort Wirklichkeit, das seine Gedankenflucht abgeschlossen hatte, traf ihn als zweite, überschwemmende Gefühlswoge.
 
:War es noch Vormittag oder schon Nachmittag? Er wußtewusste es nicht. WußteWusste nur, daß dass er so schwach, so ausgehöhlt, so zerwühlt von Geistes- und Gefühlskatarakten war, daßdass er die Wirklichkeit herbeisehnte, die ihn in die Katarakte geworfen hatte. Sie würde seine Sehnsucht stillen, um sie ins Ungemessene zu steigern. Windstille und Sturm. Wo ist das helle, blaue, weißgesprenkelte Wellengekräusel in Mittagssonnenglut? Wo ist die Erfüllungslust des Aristippos?
 
:Er wußtewusste nicht, wie lange sein Kopf auf schmerzenden Armen ruhte, er fühlte nur, wie kitzelnde Schweißperlen über sein Gesicht liefen, die er zu willenlos war fortzuwischen. Und er erwachte erst, als er das unverkennbar melodische Klappern harten, trockenen Holzes hörte.
 
:Da sprang er auf, und alle Müdigkeit war plötzlich verweht. Denn es nahte die Entscheidung.
Línea 470:
:„Du wirst mir jetzt helfen“, sagte Archimedes heiser vor Erregung und nahm die Waage, während er die Gewichte der Größe nach auf den Tisch reihte. „Leg zuerst einmal den Kegel auf die Waage.“ Während er noch sprach, lief er mit der Waage in der Hand wieder zurück zum Arbeitstisch und holte sich Papyrosblätter und Schreibstifte.
 
:Der Ägypter lächelte vor Neugierde. So fein allerdings, daßdass man es kaum bemerkte. Ungeheuer behutsam stellte er den Holzkegel auf die eine Waagschale und richtete ihn sorgfältig aus.
 
:„Diese erste Zahl ist eine Zahl, sonst nichts“, murmelte Archimedes vor sich hin. „Man kann sicherlich aus ihr die Kreiszahl gewinnen, wenn man sie dreifach nimmt und durch den Kubus des Halbmessers teilt. Allerdings ist dabei noch die Schwere des Holzes zu berücksichtigen.“ Dabei legte er die Gewichte auf die andre Waagschale und vertauschte dann zur Vorsicht Kegel und Gewichte. Die Waage war äußerst genau. Ein merkbarer Unterschied der beiden Wägungen war nicht festzustellen.
 
:Er hatte bei dieser Feinarbeit fast wieder das Ziel vergessen und schrieb die gefundene Gewichtsgröße auf den Papyros. Um so stärker begann sein Herz zu pochen, als er sich bewußtbewusst ward, daßdass durch die zweite Wägung das Problem schon in aller Größe aufgerollt war.
 
:„Nun die Halbkugel. Oder, besser, wir prüfen zuerst, ob sie beide gleich schwer sind. Der Drechsler kann unregelmäßig gearbeitet haben oder das Holz kann ungleichmäßig schwer sein.“
 
:Der Ägypter machte alle Handreichungen geduldig, geschickt und zart. Man sah sofort, daßdass der Drechsler richtig gearbeitet hatte und daßdass das Holz durchwegs gleichgewichtig war.
 
:Nach einigen Proben notierte Archimedes den gefundenen Versuchswert und sah nicht auf den ersten des Kegels. Er nahm vielmehr in der gleichen Art den Zylinder vor.
Línea 484:
:Als auch dieses Gewicht bestimmt war, schickte er den Diener hinaus. Er wollte allein sein mit seiner Entdeckung oder mit seiner Enttäuschung.
 
:Als er sich zum Arbeitstisch gesetzt hatte, begann die unfehlbare Rechen- und Denkmaschine in seinem Inneren sofort zu arbeiten. Es mußmuss, sagte diese Maschine, zuerst das Gewicht des Kegels durch drei geteilt werden. Wenn ich dann das Kugelgewicht durch diese so gefundene Größe dividiere, erhalte ich den Zähler eines Bruches, dessen Nenner ebenfalls drei ist. Dieser Bruch aber ist die von mir gesuchte Vervielfältigungszahl, mit der ich den Kubus des Halbmessers der Kugel und dazu die Kreiszahl vervielfachen mußmuss, um die Inhaltsformel der Halbkugel zu besitzen. Noch einmal verdoppelt ergibt das die Kugelinhaltsformel.
 
:Er sah auf das Blatt und seine Knie zitterten. War es möglich? Eine einfache, klare, rationale Lösung? Die gesuchte Zahl war zwei. Und sofort weiter die Zahl für den Zylinder drei. Es verhielt sich also Kegel, Halbkugel und Zylinder unter den von ihm geforderten Voraussetzungen wie eins zu zwei zu drei. Und die Kugelformel lautete vier Drittel mal der Kreiszahl mal dem Kubus des Halbmessers.