Diferencia entre revisiones de «Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 108c»

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:Oresme ist aber, wenigstens als Ahnender, noch tiefer in die Geheimnisse gedrungen, die sich durch die neue Methode plötzlich zu erschließen begannen. Wäre nämlich etwa die „Figur“ ein über der „Länge“ stehender Halbkreis, dann fällt es auf, daß die „Breiten“ an den Punkten, wo der Halbkreis anzusteigen beginnt, bzw. zur „Länge“ (Abszissenachse) zurückkehrt, sehr rasch wachsen bzw. absinken. Dieses Wachstum oder, wie man sagen könnte, der Rhythmus, das Tempo des Wachstums, verzögert sich stets mehr und mehr, bis es in der Nähe des Maximums der „Breite“, also in der Umgebung des Kurvenscheitels, fast verschwindet.
:In diesem ahnenden Erkennen Oresmes tauchten erstmalig das „Tangentenproblem“ und der „Differentialquotient“ auf. Das heißt, auf unsrer vorläufigen Stufe erläutert, eine Betrachtungsweise, die den Verlauf einer Erscheinung als Kurve darstellt und sich diese Kurve gleichsam als von verschieden geneigten Tangenten umhül.lt vorstellt, so daß jeder Kurvenpunkt durch die Neigung der durch ihn laufenden Kurventangente charakterisiert ist.
:Wie gesagt, blieb es noch durch Jahrhunderte bei dieser vorläufigen Ahnung. Und auch die vollendet vorliegende Koordinatengeometrie des Descartes mußte sich erst mit ganz anderen Elementen verbinden, um wirklich zur Infinitesimalgeometrie zu werden. Wir haben also bei Oresme eher die philosophische als die mathematische Seite des Problems zu prüfen. Zuvor aber noch eine kleine Einschaltung. Es fällt uns auf, daß die Fachausdrücke „Länge“ und „Breite“ genau so gebraucht werden wie in der Geographie oder Astronomie, in denen man den Ort eines Erdoberflächenpunktes (etwa einer Stadt) oder eines Sternes durch „Länge“ und „Breite“ festlegt. Oresme hat seine „longitudines“ und „latitudines“ sicherlich aus solchen Bereichen entlehnt, denn es sind bereits aus dem zehnten nachchristlichen Jahrhundert Darstellungen von Gestirnsbahnen nachweisbar, bei denen man die Hohlkugel des Himmels zuerst auf eine Ebene projizierte und in diese Ebene dann die (scheinbare) Sternbahn nach »Lange und Breite eintrug. Diese Zwischenbemerkung aber führt uns sofort auf unsere Kernfrage zurück. Und erlaubt uns, das eigentliche Verdienst Oresmes zu würdigen. Denn es ist ein sehr großer Unterschied, ob man eine Bahn als Kurve darstellt oder den Verlauf von Intensitatsschwankungen innerhalb der Zeit. Wenn man nämlich die zweite, höchst abstrakte Überlegung noch verallgemeinert, dann gelangt man zwangsläufig zum Begriff der Funktion. Alles, was irgendwie eine Größe oder einen Grad hat, kann jetzt als zeitliche oder als räumliche Verteilung in der Form von „Breiten“ aufgetragen werden. Jeder Veranderung entspricht plötzlich eine „Figura“, eine von der Kurve und ihren Koordinaten begrenzte Fläche, und -- eine weitere Verallgemeinerung - jeder solchen „Figura“ entspricht umgekehrt wieder eine Veranderung.
:Mit dieser „latitudo formarum“ ist etwas umwalzend Neues in die abendländische Kultur eingedrungen, ein ganz neuer Zahlbegriff, wie Oswald Spengler sagt, der die Funktion als „faustische Zahl“ bezeichnet. Wir können diese verblüffende Formulierung an dieser Stelle noch nicht überprüfen, werden jedoch bald sehen, daß eben die Funktion eine Überbrückung der eleatischen und der heraklitischen Weltansicht in sich schließt. Der Begriff der Funktion ist - man verzeihe den Ausdruck - ein Umschalter, der es an jeder Stelle gestattet, Sein in Werden und Werden in Sein zu verwandeln. Er ist eine ebensowohl statische als dynamische Erkenntnishilfe, die sich, wie nichts andres vorher, als Werkzeug zur Erforschung der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten eignet. Aber zur vollen Durchdringung dieser Zusammenhänge sollte es noch Jahrhunderte währen, wenn sich auch das werdende Werkzeug in der Hand eines Mathematikers befunden hatte, der, gleich Oresme, bereits gebrochene Potenzexponenten gebrauchte und deren Bedeutung durchschaute.
:Nun kam dieses geistige Vordringen, zu dem die germanischen Völker die mystischen Schauer des Unendlichen und die romanischen die strenge ,Formphantasie der analytischen Darstellung beitrugen, auch im nächsten, dem fünfzehnten Jahrhundert noch nicht zum Stillstand. Würdig schließt sich den großen Ordensmännern der Kardinal Nicolaus von Cusa an, der, zu Cues am Ufer der Mosel als Sohn eines armen Fischers geboren, den Namen Crypffs oder Krebs führte und eine der bedeutendsten geistigen Erscheinungen seiner Zeit wurde. Der Tatmensch Cusanus, der Jurist, Theologe, Gesandter in Byzanz, Staatsmann, Feldherr, Delegierter auf dem Konzil von Basel und noch manches andre war, beschäftigte sich mit Mathematik wohl nur nebenbei, obgleich er dort, wo er hingriff, sofort Großes leistete. Uns erscheinen jedoch seine streng mathematischen Schriften weniger epochal als seine Einblicke in die Schwierigkeiten und Offenbarungen des Unendlichkeitsbegriffes. In zwei sehr merkwürdigen und undurchsichtigen, sicherlich jedoch tiefenschwangeren Schriften, der „Docta ignorantia“ und dem „De Beryllo“, setzte er seine mathematisch-philosophischen Gedanken auseinander. „Docta ignorantia“, die „gelehrte Unwissenheit“, ist ein Symboltitel, der des Cusaners Grundansicht spiegelt, daß die Vereinigung der Gegensätze Grundlage der Erkenntnis sei. Später nennt er diese Erkenntnismethode auch die „Kunst der Coincidenzen“, die darin besteht, in scheinbar Gegensätzlichem einen gemeinsamen Oberbegriff zu finden. So koinzidieren etwa das Kleinste mit dem Größten, weil bei beiden eine weitere Fortsetzung in der von jedem eingeschlagenen Richtung unmöglich sei. So koinzidiere auch eine unendliche Gerade mit dem Dreieck und dem Kreis. Denn ein Dreieck, das eine unendliche Seite besitze, müsse auch zwei andere unendliche Seiten haben, da diese zusammen ja größer sein müßten als die erste Seite. Nun sei das Unendliche schon eine Grenze und Größeres gebe es nicht. Folglich müßten in einem Dreieck mit einer unendlichen Seite alle drei Seiten in eine einzige unendliche Gerade fallen oder mit ihr koinzidieren. Dasselbe gelte für einen Kreis, der größer und größer werde, um schließlich als unendlicher Kreis keine Krümmung mehr zu besitzen. Auch er müsse mit der Geraden koinzidieren.