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:'''Siebentes Kapitel'''
:---
:'''LEONARDO VON PISA'''
:Mathematik als Anbruch
:---
Zwischen Weltbewegenden Planen, zwischen Schlachten
und Kreuzzügen, zwischen Bann und Achtung hält der
tragischeste aller Staufenkaiser, Friedrich II., Hof zu
Palermo. Es geht festlich zu, es wird getuschelt, geraunt,
als ob ein großes Ereignis bevorstande. Ist es ein großes
Ereignis? Man weiß es nicht. Weiß nur, daß der Kaiser
es dafür halt. Denn der Wettkampf, der sich abspielen
soll, ist nicht etwa ein Sangerkrieg, ist keine ritterliche
Übung, kein Erzählen von Heldensagen oder Helden-
taten, sondern der Kampf geht -- bis zur Auflösung
kubischer Gleichungen. Magister Johannes von Palermo
wird einem vornehmen Fremden die Aufgaben stellen
und der Fremde wird sie wahrscheinlich bis zum Grunde
durchleuchten. Denn der Fremde heißt Leonardo von
Pisa und ist der größte Algorithmiker der bekannten Welt.
Obgleich sein Hauptwerk die Flagge des Feindes führt:
denn es hat den Titel „Buch des Abacus“ (liber abaci).
Kein Zweifel, wir leben auch auf sizilianischem Boden
noch im Märchen. Diese Kaiserlaune führt zurück zu den
Hofgesprachen der Tyrannen von Syrakus, zurück zu
den Ptolemäern, erinnert an den indischen König, der
dem Erfinder des Schachspieles die berühmte Aufgabe
mit den Weizenkörnern stellte, gemahnt an die Sitten
am Hof der großen Abassiden Almansur, Harun al
Raschid und Almamun. Wir ahnen also, woher Fried-
rich II. die Anregung für seine etwas außergewöhnliche
Handlungsweise empfing. Wer aber ist Leonardo von
Pisa? Was ist inzwischen auf abendlandischem Boden
für die Mathematik geschehen? Denn daß viele Jahr-
hunderte so ganz ohne Mathematik ausgekommen sein
sollten, ist zumindest unwahrscheinlich.
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Bevor wir uns also dem Inhalt des Wettkampfes von
Palermo zuwenden, obliegt es uns, die äußerlichen
Stationen des Weges zu verfolgen, der zum Wieder-
erwachen der eigentlichen Mathematik führte. Wir haben
schon manches angedeutet. Wir Wollen es jetzt näher
ausführen, obgleich wir damit irgendwie unsere Aufgabe
überschreiten. Denn es handelt sich dabei gleichsam um
das Gegenteil einer Epoche, handelt sich um den tiefsten
Niedergang, den die Mathematik seit Pythagoras erlebte.
Daß die alten Römer als Mathematiker selbständig so
gut wie nichts leisteten, haben wir dadurch gekenn-
zeichnet, daß wir sie mit vollständigem Stillschweigen
übergingen. Es Waren aber gerade die Römer, deren
machtpolitisches Erbe die europäischen Völker antraten.
Und sie hinterließen, wie Zeuthen bemerkt, ihren Erben
Weniger als die alten Ägypter den Hellenen. Eine Mathe-
matik des Boëtius, eines christlichen vornehmen Römers,
der 480~524 nach Christi Geburt lebte und aus politischen
Gründen durch König Theoderich hingerichtet wurde,
war das Um und Auf des frühen Mittelalters. Sie ist
eine Bearbeitung des Nikomachos (zweites nachchrist-
liches Jahrhundert) und konnte die Mathematik durch-
aus nicht fördern, insbesondere, da man sehr vieles über-
dies vollkommen mißverstand. So etwa hielt man die
figurierten Zahlen (Dreiecks-, Pyramidenzahlen usw.),
die im Grunde nichts als Folgen oder Reihen waren, für
Flächen- und Rauminhalte der betreffenden Figuren und
Körper. Was man über Boëtius hinaus empfangen hatte,
waren praktische Rechenbehelfe römischer Agrimensoren
(Feldmesser), die zudem noch zum Teil falsch abge-
schrieben waren und eine Befruchtung der Wissenschaft
durchaus nicht ermöglichten. Das große Erbe des alten
Griechentums aber lag an zwei politisch und räumlich
voneinander getrennten Stellen, die es in sehr verschie-
dener Weise verwalteten: in Byzanz und in Bagdad.
Während die Byzantiner fast alle mathematischen
Bücher der alten Griechen besaßen und aufbewahrten,
fiel es ihnen nur sehr bedingt ein, diese Werke Wirklich
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zu studieren, geschweige denn, auf ihnen weiterzubauen.
Sie ließen die Schätze liegen, das Verständnis für Mathe-
matik nahm von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr ab
und ihre Mathematiker verloren sich in Spielereien, wenn
sie nicht sogar unbegreiflichen Rückschritt predigten;
wie etwa die Behauptung, daß die Kreiszahl az unter-
halb von 3 liege.
Ganz anders die Araber. Wir wissen von ihnen bereits,
daß sie mit dem Hunger eines jungen Volkes das griechi-
sche Wissen suchten, es in mancher Art erleichterten und
mit indischer Weisheit verbanden. Epochale Fortschritte
machten arabische Gelehrte späterer Zeit. So erweiterte
im zehnten nachchristlichen Jahrhundert der Arith-
metiker Alkarchi die diophantische Notation und wagte
den umstürzlerischen Schritt, auch irrationale Größen
als Zahlen aufzufassen. In derselben, wir möchten fast
sagen, modernen Linie bewegt sich im zwölften Jahr-
hundert Alchaijami weiter. Ihm wird zum ersten Male
die Trennung der arithmetischen und der geometrischen
Auffassung von Gleichungen ganz klar bewußt. Er
durchschaut es auch, daß aus Dimensionsgründen die
direkte geometrische Darstellung des Irrationalen bis zur
dritten Potenz möglich ist, während höhere Irrationali-
täten nur durch zusammengesetzte Verhältnisse aus-
drückbar sind. Im gleichen Jahrhundert aber wirkt in
„Westarabien“, d. h. auf spanischem Boden, in Sevilla
der große Dschabir ibn Aflah, genannt Geber, der die
sphärische Trigonometrie mächtig fördert und hierbei
einen kongenialen Geist in Abul Wafa findet, der in
seinen trigonometrischen Tafeln (Tangententafeln) weit
über Ptolemäus hinausgeht, indem er wirkliche Winkel-
funktionen von 10 zu 10 Minuten mit einem Fehler von
weniger als -6%; schafft. Bei dieser Sachlage war es nur
eine Frage des Interesses und nicht der Möglichkeit, die
Mathematik auf abendländischem Boden wieder zum
Leben zu erwecken. Denn ihre bisherigen Leistungen
lagen, wie schon ausgeführt, in Byzanz gleichsam als
140
Mumien und bei den Arabern als fortgebildete Wissen-
schaft bereit. Wenn aber auch der große Scotus Erigena
nach einer tieferen Beschäftigung mit Mathematik rief,
so tönten solche Worte gleichsam noch an die Ohren von
Kindern. Und insbesondere das zauberhaft Magische,
das über der Mathematik der Araber lag, mag eine nähere
Erforschung der mathematischen Geheimnisse ebensosehr
gefördert als auch gehemmt haben.
Schließlich gab die äußere Berührung der Völker den
Ausschlag. Die Araber, Mauren, oder Wie man sie immer
nennen Will, Waren in Spanien, Sizilien und an anderen
Stellen in das Abendland rein physisch eingedrungen.
Ihre hohen Schulen pflegten die Mathematik in Toledo,
Sevilla, Cordoba. Und zwei Gegenbewegungen des
Abendlandes brachten neuerliche Berührung und Durch-
dringung. Nämlich der Orienthandel der drei mächtigen
italienischen Republiken Venedig, Genua und Pisa und
die Kreuzzüge.
An diesem historischen Schnittpunkt ereignete es sich,
daß der Pisaner Leonardo, genannt Sohn des Bonacci
(des „Gutchens“), oder zusammengezogen Leonardo
Fibonacci, durch den Beruf des Vaters, der eine Art
Konsularbeamter War, viel in der Mittelmeerwelt herum-
kam und schon als Jüngling ein Schüler der Araber
Wurde. Als er zudem noch, gleich einem Pythagoras,
durch Reisen, die ihn nach Ägypten, Sizilien, Syrien,
Griechenland und in die Provence führten, seinen Ge-
sichtskreis mächtig erweitert hatte, War er befähigt,
gleichsam das Sinnbild des Wiedererwachens der Mathe-
matik in der abendländischen Kultur zu Werden. Dies
ganz unabhängig davon, ob er selbst schon zu epochaler
Weiterbildung der Mathematik vordrang.
Bevor Wir jedoch diese Frage erörtern, obliegt es uns,
den Kampf der Abazisten und Algorithmiker zu er-
wähnen, der die Beschäftigung mit Mathematik auf
unserem Kulturboden einleitete. Es handelte sich bei
diesem Kampf oder Meinungsstreit um zwei Systeme
des Rechnens, um das Rechnen „auf den Linien“ und
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„auf der Feder“, Wie man später sagte. In den Extrem-
fällen ist der Abakus, die „Linie“ oder das Rechenbrett,
das sich auch bei uns noch in der „Rechenmaschine“
erhalten hat, mit der die Kinder ihren ersten Unterricht
erhalten, indem sie Kügelchen auf Drähten verschieben
-- im Extremfall also ist der Abakus eine Tafel, auf der
die sKolumnen für die Zehnerpotenzen durch Linien ab-
geteilt sind. Eine Null Wird hierbei nicht verwendet,
sondern die Kolumne leer gelassen, Wenn sie, wie etwa
bei 750 und 3009 an einer oder mehreren Stellen nicht
besetzt ist. Gerechnet aber Wird mit Marken. Ursprüng-
lich Wurden so viele Marken in die betreffende Kolumne
gelegt, als der Koeffizient der Zehnerpotenz ausmachte.
Also in obigen Fällen 7 für die Hunderter, 5 für die
Zehner und keine für die Einer, oder bei 3009 Wieder
3 für die Tausender und 9 für die Einer bei Leerbleiben
der Zehner- und der Hunderterkolumne. Da diese primi-
tivste Art des Abakusrechnens, insbesondere bei der
Addition vieler Zahlen, sehr unübersichtlich Wurde, be-
gann man als Vereinfachung Wertverschiedene Marken
einzuführen, die mit einer der Zahlen von 1 bis 9 be-
schriftet Waren. Dadurch näherte sich der Abakus schon
ein Wenig dem Algorithmus, was auf der dritten Stufe,
in der man Ziffern in die Kolumnen schrieb, also die
Marken ganz abschaffte, noch deutlicher Wurde. Wir
Wollen uns aber auch hier nicht in Einzelheiten verlieren,
sondern feststellen, daß beide Schulen, die Abazisten und
die Algorithmiker, gute Köpfe zu ihren Vertretern
zählten. Ein großer Abazist etwa War Gerbert, der
spätere Papst Sylvester II.
Gesiegt haben die Algorithmiker. Der Widerstreit der
beiden „Parteien“ (Wie man fast sagen könnte), die jede
für sich neben der Hauptdoktrin noch ein Weiteres
„Parteiprogramm“ hatten, das sich auf Wurzelziehen
und anderes erstreckte, brachte sehr viel Rechnerisches
zur Diskussion und bereitete eine formale Gelenkigkeit
der abendländischen Mathematiker vor, die nicht mehr
verschwand. Eine der Haltung des Griechentums ähn-
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liche Verachtung des Arithmetischen gab es im Mittel-
alter von vornherein nicht, da gleich zu Anbeginn des
Forschens nach spätarabischem Muster Arithmetik und
Geometrie gleichberechtigt auftraten. Diese Behauptung
wird dadurch nicht widerlegt, daß der Arithmetik sogar
eine gewisse logische Priorität zuerkannt wurde.
Wir warfen nun oben die Frage auf, ob Leonardo von
Pisa den großen bahnbrechenden Mathematikern zu-
zuzählen ist. Hat er neue Kategorien des mathematischen
Denkens und Forschens entdeckt? Diese Frage müssen
wir verneinen. Er war aber gleichwohl persönlich ein
außerordentlich begabter, vielleicht sogar ein großer
Mathematiker, in dessen Werk an einzelnen Stellen neue
Erkenntnis aufblitzt, so etwa, wenn er die negative
Lösung einer Gleichung als Lösung gelten läßt und dazu
bemerkt, die Lösung wäre als „Vermögen“ betrachtet
sinnlos, als Ausdruck von „Schulden“ hätte sie jedoch
einen guten Sinn. Wir sind auch erstaunt, zu hören, daß
bei jenem „Wettkampf“ in Palermo der Magister
Johannes ihm die kubische Gleichung 2:3 -|- 22:2 + 102: =
= 20 vorgelegt haben soll, deren Lösung Leonardo
näherungsweise als x = 1° 22' 7" 42"' 331V 4V 40“ angibt,
allerdings ohne zu verraten, wie er zu diesem Werte kam.
Dabei bedeuten 1° die Eins als Ganze, 22' den Bruch šås,
7" den Bruch ~3-67í0- usf. in Sexagesimalbrüchen. Die
neuesten und genauesten N achprüfungen dieser Lö-
sung haben ergeben, daß der N äherungswert des
1 ._ .
Leonardo nur um 31.l04,O00_000 großer ist als der nach
heutigen Methoden gewonnene. Daß Leonardo weiters
gelegentlich der Behandlung seiner „Kaninchenaufgabe“
die erste rekurrente Reihe in der Geschichte der Mathe-
matik bildet, soll auch nur angedeutet werden. Es wird
dabei nämlich gefragt, wieviel Paare von Kaninchen im
Laufe eines Jahres unter der Voraussetzung entstehen,
daß jedes Paar allmonatlich ein neues Paar zeugt, das
selbst vom zweiten Monat an zeugungsfähig wird. Todes-
143
fälle sollen sich nicht ereignen. Es ist also am Schluß
des ersten Monats das erste und das von ihm erzeugte
Paar vorhanden, am Schluß des zweiten Monats ist ein
drittes Paar hinzugekommen. Am Ende des dritten
Monats aber sind außer den bereits erwähnten Kaninchen
noch zwei weitere Paare vorhanden, da jetzt auch das
zweite Paar bereits zeugungsfahig ist usf. Daraus er-
gibt sich fiir ein Jahr die Folge 1, 2,' 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55,
89, 144, 233, 377, bei der jede folgende Zahl nach dem
Gesetz a.,.+1 = ar -|- a,.__1 gebildet wird. Also ware etwa
das Glied 5 als a3+1 zu bilden aus der Summe von
as und a2, also aus 3 + 2. Oder 21 als siebentes Glied
aus 13 + 8 usw.
Wenn nun auch Leonardo von Pisa neben diesen an-
geführten Aufgaben noch weit verwickeltere löste, wenn
er sich auch als Meister der bestimmten und unbestimmten
Gleichungen, des einfachen und doppelten falschen An-
satzes, der Ausziehung von Wurzeln und zahlreicher
anderer arithmetischer und geometrischer Kenntnisse
bewies, so ist es doch in erster Linie seine historische
Stellung, die uns bewegt, ihn als Epoche zu betrachten.
Er ist gleichsam der erste vollwertige Mathematiker der
neueren Zeit, ist das erste Beispiel einer Widerspiegelung
des vor ihm Geleisteten in der anders strukturierten Seele
des spätmittelalterlichen Abendlandes. Erist repräsent-ativ
für alle diese Völker, wenn er sich auch in seinem Werke
an die „lateinischen Völker“ wendet und ihnen die ver-
schüttete Kunst der Mathematik wiederbringen will.
Achtes Kapitel
NICOLE VON ORESME
Mathematik und Natur
Bevor wir weiterschreiten, ist eine grundlegende Be-
merkung notwendig, die für das ganze Mittelalter und
fur den Beginn der Neuzeit gilt. Der Niederschlag der
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Tatsache, von der wir sprechen wollen, findet sich fast
in allen Geschichtswerken der Mathematik, und auch eine
Epochengeschichte kann nicht stillschweigend über das
Neue hinweggehen, das konstellationsmäßig in die abend-
landische Welt gekommen ist.
Wir haben gesehen, daß die hellenische Mathematik,
gleich ihrer Schutzgöttin Pallas Athene, voll gewappnet
aus dem Haupte des Zeus sprang und sich weiterhin,
als eine gehütete Kunst, fast vollständig rein hielt.
Dadurch wurde sie stark und groß, dadurch aber verlor
sie den Zusammenhang mit dem Leben, erstarrte und
ging unter. Dadurch aber auch ward sie völlig individua-
listisch und ihr Wesen knüpfte sich eindeutig an die
Namen der Bahnbrecher, die ihr priesterlich dienten.
Wir werden auch in der Neuzeit ahnliche Erscheinungen,
gleichsam ein klassisches Zeitalter der Mathematik, beob-
achten können.. Es bleiben aber doch wesentliche Unter-
schiede zwischen einer Entwicklung, die aus dem Nichts eine
Wissenschaft aufbaut, und einer Weiterentwicklung, die
auf einem schon einmal aufgetürmten Kosmos fußt und
diesen nur einer vollständig andersgearteten Seele anpaßt.
Es ist natürlich zuzugeben, daß sich rein gestaltmäßig
viel von dem wiederholte, was sich bereits auf dem Boden
des klassischen Altertums abgespielt hatte. Es wieder-
holte sich aber zum Teil unter dem direkten Einfluß
dieser vorhergegangenen Entwicklung. Und dann war
es auch von vornherein anders bedingt. Vier große
Kulturkreise, Italiener, Deutsche, Franzosen, Engländer,
arbeiteten unter sehr verschiedenen inneren und
äußeren Antrieben und Bedingungen an der Neugestal-
tung unserer Wissenschaft, und über allem stand ver-
bindend zuerst der Einfluß der römischen Kirche, dann
aber trennend die Antithese zwischen katholischem und
protestantischem Denken, wenn man vorläufig vom Ein-
fluß der Philosophie noch absieht, der sich spater mächtig
geltend machte. Dazu aber kam außerdem noch ein sehr
intensives Schulwesen, das von der religiösen und sozialen
Struktur beeinflußt war.
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Wir wollen mit all demffandeuten, daß wir unsere
Weitere Darstellung zunehmend mehr auf die Epochen
als auf deren Baumeister abstellen müssen. Denn es
waren oft nicht die größten Mathematiker, die das Neue
brachten. Insbesondere nicht in der „Vorbereitungs-
zeit“, die etwa bis zum Auftreten des Descartes währte.
Diese Verwahrung muß eingelegt werden, damit im
Leser kein schiefes Bild der Entwicklung entsteht. Und
es muß verhütet werden, daß man sich wundert, Namen
besten Klanges, wie etwa die eines Regiomontanus oder
Peuerbach, nur nebenbei erwähnt zu finden, während weit
weniger universelle Mathematiker zu Sinnbildern von
Epochen gestempelt Werden. Sie sind aber, bis auf
Descartes, weniger als Repräsentanten denn als Beispiele
und Streiflichter aufzufassen. Denn von unserem momen-
tanen Standort bis zu Cartesius arbeiteten gleichsam
nicht einzelne, sondern es schuf eine ganze Zeit. Und
die Mathematik entwuchs einer Reihe von Triebkräften,
die bei den wichtigsten Völkern mit verschiedenem An-
teil mitwirkten.
Es ist also schon hier am Platze, die Kräfte zu unter-
suchen, die als Paten die neue Zeit begleiteten und an-
trieben. Auf italienischem Boden war es, wie wir schon
bei Leonardo von Pisa sahen, das Handelswesen, das in
doppelter Weise auf die Mathematik wirkte. Es war ja
nicht nur durch seine rein äußerliche Beweglichkeit,
durch den Reiseverkehr und durch die Völkerberührung
ein Anlaß und eine Unterstützung für mathematische
Bemühungen gewesen; sondern es stellte darüber hinaus
in seiner eigensten Sphäre Problem über Problem. Buch-
führung, Münzumrechnung, Zinsenrechnung, Geographie
und Astronomie waren ohne arithmetische Kenntnisse
kaum zu bewältigen, insbesondere dann nicht, wenn man
guten Rechnern, wie den Arabern, gegenüberstand und
die Probleme an sich selbst stets verwickelter Wurden.
Der äußerlichsten Triebkraft des Handels aber stellte
sich bald als zweite die innerlichste tiefster Philosophie
an die Seite, die nicht zuletzt aus religiösen Gedanken-
146
kreisen gespeist- w~urde.- »Durch die Gründung der Uni-
versitäten von Oxford, Paris und Bologna, die zur Zeit
Leonardos von Pisa schon in hohem Ansehen standen,
war eine neue Geisteskultur erwacht, die später von den
Humanisten, halb herabsetzend, die Scholastik genannt
wurde. Wir werden aber gleich zeigen, daß eben aus
diesen philosophischen Bereichen vielleicht die ent-
scheidendsten Einflüsse für den Weiterbau der Mathe-
matik entspringen. Und es wird sich herausstellen, daß
die Naturwissenschaft, die sich über kurz oder lang
geradezu als Antipodin der Scholastik fühlte, ihre mäch-
tigste Waffe halb unbewußt durch die Scholastik empfing.
Es handelt sich dabei um die ganze Problemgruppe,
die wir schon bei Archimedes angetroffen haben. Um die
Begriffe der Stetigkeit, der Unendlichkeit und um einen
neuen Begriff, der erst auf „faustischem“ Boden wuchs,
um den Begriff der Funktion.
Wir kehren also in die Zeit des Leonardo von Pisa, in
den Beginn des d reizehnten nachclıristlichen Jahrhunderts,
zurück. Noch zu Lebzeiten erwuchs dem Pisaner in
J ordanus N emorarius, einem Deutschen, ein mächtiger
N ebenbuhler. J ordanus war Dominikaner. Auf Einzel-
heiten seines umfassenden mathematischen Werkes, das
nach allen Seiten großen Einfluß übte, wollen wir nicht
eingehen. Wir wollen bloß einige Einleitungssätze seiner
Schrift über die Dreiecke (de triangulis) unter die Lupe
nehmen, die uns in verblüffender Art zeigen, wie weit
sich schon der „faustische“ Geist von seinen arabischen
und griechischen Vorbildern entfernt und selbständig
gemacht hatte. Wir lesen dort Definitionen, von denen
wir glauben würden, sie stammten aus dem neunzehnten
Jahrhundert und seien Untersuchungen von Dedekind
oder Bolzano. So definiert J ordanus folgendermaßen:
„Stetigkeit ist Nichtunterscheidbarkeit von Grenzstellen,
verbunden mit der Möglichkeit, abzugrenzen.“ „Der
Punkt ist die Festlegung der einfachen Stetigkeit.“ „Ein
Winkel entsteht durch das Zusammentreffen zweier
stetiger Gebilde an einem Endpunkt ihrer Stetigkeit.“
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Was man auch immer einwenden mag, sind derartige
Definitionen zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts
einigermaßen verblüffend, da sie zeigen, wie sehr sich
schon der infinitesimale Gedanke mit all seinen Gegen-
gesetzlichkeiten und Schwierigkeiten bei den Scholasti-
kern vorbereitete. Und ein solcher war J ordanus. Er soll
ja an der Pariser Universität gelehrt haben.
Unsere Verwunderung wird nicht geringer, wenn wir
einem Franziskaner lauschen, der nur wenige Jahrzehnte
später in England (in Oxford) wirkte. Wir meinen damit
Thomas de Bradwardina (Bredwardin), dessen Name ge-
wöhnlich Bradwardinus lautet und der in der Reihe der
mächtigsten Doktoren als „Doctor profundus“ erscheint.
Wir erinnern uns bei diesen großen Doktoren fast an
die sieben Weisen Griechenlands. Und wollen daher
einige anführen, die mehr oder weniger zu unserer Er-
örterung in Beziehung stehen. So hieß Roger Baco
„Doctor mirabilis“, Thomas von Aquino „Doctor an-
gelicus oder universalis“, Duns Scotus „Doctor subtilis“,
Raimundus Lullus „Doctor illuminatus“, Wilhelm von
Occam „Doctor invincibilis“ oder „singularis“.
Unser „tiefgründiger“ Doktor Bradwardinus also, der
als Erzbischof von Canterbury im Jahre 1349 an der
Pest starb, verfaßte unter anderem ein Werk über die
Stetigkeit, einen „tractatus de continuo“, in dem zahl-
reiche Sätze stehen, von denen man glauben könnte, sie
seien der allermodernsten Mengenlehre entnommen. So
scheidet er das Stetige in das beharrende Stetige (con-
tinuum permanens), das sich etwa in Linien, Flächen und
Körpern manifestiert, während das fortschreitend Stetige
(continuum successivum) durch Zeit oder Bewegung ver-
wirklicht wird. Wir finden weiters Sätze wie: „Indivi-
sibile est, quod nunquam dividi potest. Punctus est
indivisibile situatum.“ Also etwa: „Das Unteilbare ist
das, was niemals geteilt werden kann. Der Punkt ist das
lagemäßig fixierte Unteilbare.“ Weiters: „Das Unteil-
bare der Zeit aber ist der Augenblick.“ „Die Bewegung
ist das aufeinanderfolgende Stetige, das in der Zeit ge-
148
messen wird.“ Nun untersucht der „Doctor profundus“
das Problem des Anfangs und des Aufhörens. Dadurch
kommt er naturnotwendig zu Unendlichkeitsüberlegun-
gen, die in einer unglaubwürdig scharfsinnigen Antithese
ihre Krönung finden. Er unterscheidet nämlich zwischen
kathetischer und synkathetischer Unendlichkeit. Kathe-
tisch oder einfach unendlich ist eine Größe, die kein Ende
hat. Synkathetisch dagegen ist das Unendliche dann,
wenn es zu jedem Endlichen stets ein größeres Endliches
gibt, ohne daß dieses Wachsen je aufhört. In der neuesten
Zeit hat man für diesen Unterschied die Ausdrücke
„transfinit“ und „infinit“ geprägt, insbesondere in der
Mengenlehre, in der die Mächtigkeiten unendlicher Mengen
kurz transfinite Kardinalzahlen heißen. Nun erklärt Brad-
wardinus weiter, daß das Stetige sich nicht aus einer end-
lichen Anzahl von unteilbaren Größen, ebensowenig aber
aus einer unendlichen Anzahl von Unteilbaren zusammen-
setzen könne. Es enthalte bloß unendlich viele Unteilbare
in sich. Jedes Stetige sei zusammengesetzt aus einer un-
endlichen Anzahl von stetigen Elementen derselben Art
und habe unendlich viele arteigene Atome. Also bestehe
etwa eine Strecke aus unendlich vielen Strecken, eine
Fläche aus unendlich vielen Flächen, ein Körper aus un-
endlich vielen Körpern. In der gleichen unteilbaren Lage
aber könnten nicht mehrere Unteilbare ihren Ort be-
sitzen (Punkte in Punkten), was nichts anderes bedeutet
als eine mathematisch-philosophische Formulierung des
Gesetzes der Undurchdringlichkeit.
Jeder Mathematiker wird zugeben müssen, daß diese
Erörterungen, die an Zeno und Aristoteles erinnern, viel-
leicht sogar an diese hellenischen Philosophen anknüpfen,
durchaus nicht scholastischer Unfug sind, wie es denk-
faule Empiristen stets gerne wahrhaben wollen. Denn
selbst ein praktischer Ingenieur kommt manchmal über
eine genaue Festlegung infinitesimaler Paradoxien und
Gültigkeiten nicht hinweg, wenn er nicht Gefahr laufen
will, daß ihm irgendwo einmal eine Hängebrücke aus
Nichtbeachtung „scholastischer Tüfteleien“ einstürzt.
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Es ist überhaupt ein tragisches Gesetz der Wissen-
schaftsgeschichte, daß man „die Spione gern benutzt, sie
jedoch verachtet“. Wozu dieser ewige Rivalitätsstreit
um den Vorrang des Deduktiven und des Induktiven?
Gerade die folgende Zeit wird uns zeigen, daß beide
Zonen erst zusammen die ungeheure Fortschrittskurve
ermöglichten, auf der sich der „faustische“ Geist der
europäischen Völker in den nächsten Jahrhunderten
aufwärtsbewegte, bis er der Welt tatsächlich in bisher
noch nie geahntem Ausmaß auch rein äußerlich sein
Antlitz aufprägen konnte.
Wir haben also zu zeigen versucht, daß Handel und
Philosophie die neuabendländische Mathematik vor-
Wärtstrieben. Aus der Seele der christlichen Völker aber
stieg noch ein uraltes, vielleicht aus Indien überkom-
menes Erbe mächtig empor. Es War die tiefe Sehnsucht,
die Natur zu erkennen, gepaart mit dem vielleicht erst
jetzt entstandenen trotzigen Willen, diese Natur zu
meistern und zu bezwingen.
Es ist allbekannt, daß Aristoteles, als „der Philosoph“
schlechtweg, das Denken aller dieser Jahrhunderte, von
denen Wir sprachen, nicht bloß beeinflußte, sondern
gleichsam überschattete. Dieser Einfluß des Stagiriten
blieb jedoch nicht allein auf Logik und Philosophie be-
schränkt. Er griff auch auf Viele andere Gebiete über,
nicht zuletzt auf das Gebiet der Naturwissenschaften.
Nun deuteten Wir schon an, daß in der damaligen Welt
leidenschaftliche Sehnsucht nach vertiefter N aturerkennt-
nis erwacht War, die auch durch die folgenden Jahr-
hunderte nicht mehr versiegen sollte. Es War also nur
natürlich, daß man zur Befriedigung dieser Sehnsucht
dort Aufklärung suchte, Wo man größte und endgültigste
Autorität vermutete. Und dies War eben bei Aristoteles
der Fall. Wir können nur andeuten, daß hierbei der
Formbegriff, die „forma“, eine ungeheure Rolle spielte,
daß eine lebhafte Diskussion über das Wesen dieses Be-
griffes zwischen Franziskanern und Dominikanern aus-
brach, 'deren größte Exponenten 'wieder Duns Scotus
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