Diferencia entre revisiones de «Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 102c»

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strömt ihnen geheimnislos und willig zu. Und in den Hallen ruhen Tausende und Abertausende von Papyrosrollen, auf denen flinke Abschreiber das gesamte Wissen der bisherigen Weltentwicklung aller Zonen aufgezeichnet haben.
:Durch diese Hallen nun wandelt etwa um 300 vor Christi Geburt ein stiller Mann. Woher er kam, wissen
wir nicht. Wir wissen nicht einmal, wann er geboren wurde und wann er starb. Nur einmal hat er als Person in seinem Leben etwas gesagt, das allen Höflingen die Haare zu Berge trieb. Als ihn nämlich sein König Ptolemäus Philadelphus fragte, ob es für den Unterricht oder die Aneignung der Mathematik keinen bequemeren Weg gebe als den der „Elemente“, hat er stolz geantwortet: „Für die Mathematik gibt es keinen Königsweg.“ Ptolemäus Philadelphus dürfte nicht verstimmt gewesen sein. Wahrscheinlich hat er gelacht. Nicht aber aus Gutmütigkeit. Denn die ersten Ptolemäer zeichneten sich in gleicher Art durch skrupelloseste Genußsucht, Verwandtenmorde und ähnliches, doch auch wieder durch ein überschwengliches Mäzenatentum aus. Sie suchten eben ihre Macht sowohl in der Zeitlichkeit als gegenüber der Ewigkeit zu befestigen und gebrauchten auf dem ewigkeitsgewohnten Boden Ägyptens zu diesem Zweck nicht die althergebrachten Pyramiden, sondern die weniger kostspieligen Künstler, Philosophen und Mathe-Mathematiker. Mit Euklid ist ihnen diese Absicht vortrefflich gelungen. Die schon erwähnten „Elemente“ sind außer der
Bibel das meistvervielfältigte Buch des abendländischen Kulturkreises und erlebten nach vorsichtiger Schätzung allein durch Druck über 1500 verschiedene Ausgaben, von denen einige schwindelnd hohe Auflageziffern erreichten.
 
 
 
== 3 ==
 
 
 
 
 
 
 
:Wir sprechen von Büchern. Auch in dieser Beziehung
ist seit den Anfängen der hellenischen Mathematik ein
großer Wandel eingetreten. Während ein Thales oder
ein Pythagoras keinerlei mathematische Schriften hinter-
ließen, wimmelt es jetzt, wenige Jahrhunderte später,
von solchen Aufzeichnungen. Ja, es soll sogar eine ganze
Reihe von „Elementen“ der Geometrie schon vor Euklid
gegeben haben. Wir besitzen aber keine einzige derartige
Sammlung. Ist also alles nur ein rein antiquarisch-
historischer Zufall? War Euklid nur einer von vielen, dem
es ein günstiges Geschick gab, durch innerlich und sach-
lich gar nicht gerechtfertigte Erhaltung seiner Schriften
die Ewigkeit zu erschleichen? Nein, so war dem durchaus
nicht! Wieder, wie bei Pythagoras, sprang aus dem Haupt
des Zeus eine Pallas Athene in voller Rüstung. Die
„Elemente“ Waren so neu, so umfassend, so endgültig,
so unangreifbar, daß sie, wie wir heute sagen würden, un-
mittelbar nach ihrem Erscheinen die größte Sensation
erregten. Darum wurden sie überverhältnismäßig ver-
vielfältigt und darum wurden sie so sehr Grundlage des
Studiums und Gemeingut aller Gebildeten, daß sie nicht
mehr aus dem Geistesleben verschwanden, wenn auch
der Erdkreis wankte und neue Völker das Erbe des klas-
sischen Altertums antraten. Euklids Elemente waren
eben ein Hauptaktivum dieser Erbschaft.
 
 
:Nun haben wir aber bisher bloß äußere Dinge berichtet:
eine Biographie Euklids, die aus einer einzigen Anekdote
und aus einer vagen Jahreszahl besteht. Und einen Buch-
erfolg, dessen innere Begründung wir zwar behaupteten,
der aber durchaus nicht auf Treu und Glauben als be-
gründet hingenommen werden muß. Daher ist es höchste
Zeit, zum Kern der ganzen Angelegenheit vorzustoßen.
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Nicht ohne sehr überlegte Absicht haben wir den Streit
der griechischen Philosophen so stark in den Vordergrund
gerückt. Die durch all diese unheimlich temperament-
vollen und erbitterten Geistesfehden geklärte, gereinigte
und doch wieder gewitterschwangere Kulturatmosphäre
hellenischen Bereiches verlangte zu Beginn der alexan-
drinischen Epoche etwas anderes von der „sichersten
Wissenschaft“ als gelegentliche verblüffende Problem-
stellungen und ebenso verblüffende Rätsellösungen. Sie
verlangte aber auch eine Beseitigung des „Skandals der
Mathematik“, die durch Angriffe von der Art Zenonischer
Paradoxien im Ansehen der durch Komödiendichter zum
Lachen gereizten Volksmassen nicht gerade gestiegen
war. Dies aber um so mehr, als es sich bei der Mathe-
matik um ein N ationalheiligtum handelte, um einen Be-
weis des Menschseins, der höheren Kultur und Zivilisation.
Wodurch nun sollte diese Riesenaufgabe bewältigt
werden? Es gab hierzu wohl nur den durch die Logik des
Aristoteles vorgezeichneten Weg. Und dieser hieß: Ge-
samtaufbau einer echten Wissenschaft durch strengste
Systematik. Nicht etwa durch die künstliche Bemühung
originalitätslüsterner Sammler und Gelehrten, die Mathe-
matik so behandeln würden wie ein Raritätenkabinett
mit äußerlich aufgepfropfter Einteilung. Nein, aus den
tiefsten ersten Wurzeln, aus den Sockelquadern mußte
alles Schritt für Schritt sich vor dem Weisheitsliebenden
aufbauen und eine Wahrheit mußte zwingend aus der
anderen folgen. Zur Analysis im Sinne Platons blieb
später Zeit. Zuerst mußte, rein deduktiv, die Synthesis,
das stufenweise Aufeinandertürmen der mathematischen
Erkenntnisse geleistet werden.
Euklid hat diese allen früheren aussichtslos schei-
nende Riesenaufgabe in einer Art bewältigt, daß sein
Bau durch Jahrtausende aller Kritik standhielt, sofern
sie nicht bloß schlechter Laune entsprang wie die Ein-
würfe Schopenhauers und zudem noch, wie alle solche
Einwürfe, an tiefem Mißverständnis der eigentlichen
mathematischen Zielsetzung krankte. Und Euklid hat
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diese Aufgabe derart bewältigt, daß ihn erst die geistige
Entwicklung der letzten Jahrzehnte des neunzehnten
Jahrhunderts erreichte und sein Werk verallgemeinern
konnte, wobei sie ihn durch diese Verallgemeinerung eher
rechtfertigte als angriff. Kurz, man könnte als Motto
über die Elemente Euklids einen Buchtitel schreiben, den
Pater Saccheri, der Vorreiter der nichteuklidischen Geo-
metrien, allerdings in etwas anderem Sinne, seinem Buche
gab: „Euclides ab omni naevo vindicatus.“ Zu deutsch:
„Euk1id, von allem Makel gereinigt.“
Dabei sei nur nebenhin erwähnt, daß Euklid Gründer
und erstes Schulhaupt der großen Mathematikerschule
Alexandrias war; daß er noch andere großartige Werke,
wie die Porismen und die Data, außerdem ein Buch über
Kegelschnitte und anderes mehr verfaßte; und daß ihm
unstreitig der Rang eines ganz großen Mathematikers
gebührt, auch was seine höchstpersönlichen Entdecker-
leistungen betrifft. Es soll nämlich durchaus nicht den
Anschein haben, als ob er bloß Sammler und Systematiker
gewesen Wäre, obgleich ihn auch diese Leistung allein
unsterblich machen müßte, da sie die Konzeption der
gesamten Mathematik betrifft.
Nun wollen wir aber doch des lebendigeren Einblicks
wegen die „Elemente“ flüchtig durchblättern. Sie
heißen in griechischer Sprache „Stoicheia“ und sind in
dreizehn Bücher eingeteilt. An ihrer Spitze steht das
weltberühmte euklidische „AXiomensystem“, die Zu-
sammenfassung der sogenannten Erklärungen, Forde-
rungen und Grundsätze. Man hat diese einzelnen Grup-
pen auch als Definitionen, Postulate und Axiome be-
zeichnet und viel darüber diskutiert, wodurch sie sich
voneinander unterscheiden. Sicherlich sind die Axiome
oder Grundsätze nichts anderes als allgemeine oder all-
gemeingültige oder allen Menschen gemeinsame Ein-
sichten, die nicht bewiesen zu werden brauchen, auch
gar nicht bewiesen werden können. Jeder, auch der ver-
wickeltste Beweis muß endlich bei diesen Axiomen als
letzten Beweisgründen landen, muß auf sie als letzte
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Instanzen stoßen. Daß das Ganze größer als sein Teil
sei (Axiom 9) oder daß zwei gerade Linien niemals einen
Raum (Fläche) einschließen könnten (Axiom 12), muß
ebenso jeder mathematischen oder geometrischen Be-
mühung irgendwie zugrunde liegen Wie etwa die For-
derung 2, daß man eine begrenzte gerade Linie stetig
gerade verlängern könne und daß es möglich sei, aus
jedem Mittelpunkt, mit welchem Radius immer, einen
Kreis zu konstruieren (Postulat 3). Ebenso setzt die
ganze Geometrie rein definitorisch voraus, daß ein Punkt
keine Teile (Definition 1) und eine Linie nur eine Länge
ohne Breite besitze (Definition 2) oder daß ein mit seinem
Nebenwinkel spiegelbildlich gleicher Winkel ein rechter
Winkel sei (Definition 10).
Aus diesem Minimum von 35 Definitionen, 3 Postulaten
und 12 Axiomen*) nun baut Euklid, wie schon erwähnt,
die ganze Mathematik auf, wobei er im späteren
Verlauf der Darstellung noch eine große Anzahl von
Definitionen, jedoch keine Postulate und Axiome mehr
hinzufügt.
Das erste Buch nun handelt von Dreiecken, Parallel-
linien und Parallelogrammen und schließt mit dem
klassischen euklidischen Beweis des Pythagoreischen
Lehrsatzes. Dazu wollen wir bemerken, daß die noch
heute übliche Beweisform, bestehend aus Behauptung,
Beweis und Schlußformel („was zu beweisen war“) bei
Euklid erstmalig konsequent auftritt. Bei Konstruk-
tionen heißt es am Schluß: „Was zu konstruieren war.“
Das zweite Buch wendet den „Magister Matheseos“ (wie
der Lehrsatz des Pythagoras spater genannt wurde) in
ausgedehntester Weise an und enthalt durch seine zahl-
reichen Verwandlungsaufgaben eigentlich eine „geo-
metrische Algebra“, wie wir sie bereits bei den Pytha-
goreern kennenlernten. Die weiteren planimetrischen
Bücher ,drei und vier behandeln die Kreislehre, die
*)_ Nach neuester Lesart gibt es 23 Definitionen, 5 Po-
stulate und 8 Axıome, ohne daß diese Verschiebung der
Einteilung das Wesen der 'Sache ändert. ~
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Sehnen- und die Tangentenvielecke und schließen mit
dem fünften Buch, das die Proportionenlehre bringt,
und dem sechsten, das die Ähnlichkeit der Figuren er-
örtert, den ersten Teil des Werkes ab. Hervorzuheben ist
die ungeheure Verallgemeinerung, die alle bisherigen
Lehrsatze durch Euklid erfahren haben. Wir können uns
nicht in Einzelheiten verlieren, wollen es aber doch nicht
unterlassen, auf den 31. Satz des sechsten Buches zu ver-
weisen, der ganz allgemein die Behauptung aufstellt, daß
die Summe ähnlicher Gebilde über den beiden Katheten
stets gleich sei einer analogen ähnlichen Figur über der
Hypotenuse. Dieser ganz allgemeine, bei Euklid auf
zwei Wegen bewíesene Satz ist wohl eine sehr um-
fassende Folgerung, die aus dem Pythagorassatz her-
vorgeht. Es war damit etwa bewiesen, daß die Summe
zweier aus Kreisen gebildeten „Möndchen“*) über den
Katheten flachengleich sei dem Möndchen über der
Hypotenuse.
Ist nun diese Verbreiterung des planimetrischen Wissens
bei Euklid erstaunlich, so setzen uns die folgenden Bücher
sieben bis zehn vielleicht in noch größere Verwunderung.
Was sich da vor uns aufbaut, ist nichts weniger als eine
umfassende Zahlentheorie, begonnen vom Unterschied
der Primzahlen und zusammengesetzten Zahlen über ge-
meinsames Maß und gemeinsames Vielfaches, über einen
Beweis von der unendlichen Menge der Primzahlen bis
zu einer durchgebildeten Theorie des Irrationalen und
des Inkommensurablen. Ein neuerer Forscher, Nessel-
mann, erklart, daß man über das in den Elementen be-
züglich höherer Irrationalitaten Erreichte durch volle
achtzehnhundert Jahre nicht hinauskommen konnte,
was begreiflich ist, wenn man bedenkt, daß Euklid mit
Ausdrücken vom Typus 1/ÃıV;;Tb_( V/dl ± 1/5-) allerlei
Umformungen ohne eigentliche algebraische Schreib-
*) Siehe des Verfassers Buch „Vom Einmaleins zum
Integral“, S. 279, Figur 43, wo eine der „Möndchenkon-
struktıonen“ des Hippokrates von Chios dargestellt ist.
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weise, also vorwiegend geometrisch, vornehmen mußte.
Dieses Zeugnis Nesselmanns diene zur schlagenden
Widerlegung des weitverbreiteten Irrtums, daß Spitzen-
geister früherer Epochen etwa naiv waren, nur
weil sie einige Jahrtausende vor uns lebten oder weil
sie vielleicht ganz andere Dinge wollten als wir Heu-
tigen.
Nachdem nun Euklid die Zahlentheorie erledigt hat,
begibt er sich in den Büchern elf bis dreizehn auf das
Gebiet der räumlichen Geometrie und baut sie ebenfalls
in synthetischer Art auf. Er hat sie allerdings nicht so
erschöpfend behandelt wie die ebene Geometrie, ein Um-
stand, der bis in den Unterricht der Gegenwart nach-
wirkt. Gleichwohl sind auch auf stereometrischem Ge-
biet seine Leistungen erstaunlich genug, und er ver-
wendet bei krummflächigen Gebilden, wie bei der Kugel,
bereits Methoden der Rechnung mit dem Unendlichen
(Infinitesimalmathematik) in Form des sogenannten
Exhaustionsbeweises. Doch darüber wollen wir im
nächsten Kapitel sprechen. Daß nach Ansicht einiger
Kompilatoren des Altertums der Endzweck und die
Krönung des Euklidischen Werkes die Untersuchung der
kosmischen Körper (der regelmäßigen Polyeder) gewesen
sei, mag nebenbei erwähnt werden. Tatsache ist es, daß
bei Euklid schon ein zwingender Beweis dafür auftritt,
daß es nur fünf reguläre Vielflache geben könne (als
Anmerkung zum 18. Satz des dreizehnten Buches), was
in sehr eleganter Art demonstriert wird. Nun sagt der-
selbe uıis schon sattsam bekannte Proklos, der aus der
angeblichen Zugehörigkeit Euklids zur Platonischen
Philosophie auf das Endziel der Elemente (die platoni-
schen Vielflache) geschlossen hat, an einer andern
Stelle viel plausibler, daß „Elemente“ alle Dinge ge-
nannt würden, „deren Theorie hindurchdringt zum Ver-
stehen der andern Dinge und von denen aus uns die
Lösung der Schwierigkeiten dieser andern Dinge gelingen
würde“. Kurz gesagt, wir sollen durch die Elemente
befähigt werden, alle andern Dinge der Mathematik zu
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meistern. Die Elemente sind somit nicht ein „KönigsWeg“,
wohl aber die einzige breite Heeresstraße, die über Berg
und Tal zur Mathematik führt. Und es ergibt sich nach
Euklid der dreistufige Aufbau der Mathematik als Axio-
matik, als Untersuchung der Elementarsatze und als
weitere Mathematik, deren Gebiet einleuchtenderweise
weder begrenzt noch eingeengt werden kann. Somit
wäre also durch Euklid der Unterbau der Mathematik
für alle Ewigkeit gelegt worden und wir dürften kon-
sequenterweise sein Werk nur ausweiten, niemals jedoch
auf andere Fundamente stellen. So dachte noch ein
Immanuel Kant in seiner berühmten Vorrede zur zweiten
Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ vom Jahre 1787.
Es war die Herrschaft der „euklidischen“ Welt, der
„euklidischen“ Mathematik, die bis zum Beginn des
19. Jahrhunderts nicht angezweifelt wurde, wenn auch
eines der Axiome (je nach Lesart Axiom 11 oder Postu-
lat 5) selbst den alten Griechen viel Kopfzerbrechen
verursachte. Moderne Mathematiker hohen Ranges, die
einzigen sicherlich, die sich in die Psyche Euklids voll
hineindenken können, behaupten sogar, daß Euklid
selbst dieses Axiom nur unter großen Gewissensbissen
hingeschrieben haben dürfte. Es lautet: „Wenn eine
Gerade zwei andere Gerade trifft und mit ihnen auf
derselben Seite innere Winkel bildet, die zusammen
kleiner als zwei Rechte sind, sollen jene beiden Geraden,
ins Unendliche verlängert, auf der Seite zusammentreffen,
auf der die Winkel liegen, die kleiner als zwei Rechte
sind.“
Wir wissen aus der Schule, daß der größte Teil unserer
Geometrie mit diesem Grundsatz steht und fallt. Denn
etwa die Tatsache, daß die Winkel eines Dreiecks die
Summe von 180 Graden oder zwei Rechten haben, ist
ohne das Parallelenaxiom schlechterdings unbeweisbar.
Und es hätten schon die alten Griechen, die mit Kugel-
dreiecken sehr geschickt umgingen, bemerken können,
daß .tatsächlich auf der Kugel, auf der es nur einander
schneidende „Gerade“ (die Größtkreise) gibt, dieWinkel-'
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summe stets von 180 Graden verschieden ist, wobei sie
diese 180 Grade ausnahmslos übertrifft*).
Aber zurück in die euklidische Welt! Für unsren
Standpunkt in Raum und Zeit -- das Alexandria des
4. und 3. vorchristlichen Jahrhunderts - ist Mathematik
zum erstenmal durch Euklid vollgültig gegen alle Ge-
fahren philosophischer Zersetzung gesichert worden. Neu-
geboren steht unsre Wissenschaft vor den erstaunten
Augen der Welt schlackenlos da. Der Weg unbegrenzten
Aufstieges ist geebnet, der Bau wolkenhoher Tíirme
ermöglicht, da die Fundamente tief verwurzelt sind im
unentrinnbaren Urgesetz des Denkens, der Logik, und
zugleich im Gesetz der reinen Anschauung, im drei-
dimensionalen „euklidischen“ Raum.
Drittes Kapitel.
ARCHIMEDES
Mathematik und Wirklichkeit
Eine neue werdende Weltmacht tritt auf den Plan, als
das Hellenentum nach den Alexanderzügen eben den
letzten großen Traum eines Weltimperialismus ausge-
träumt hat. Im Jahre 216 sind bei Cannae 50.000 tapfere
römische Legionare von Hannibal zusammengehauen
worden. Es ist der Wendepunkt der römischen Geschichte,
einer jener Wendepunkte, an denen über Sieg oder
Untergang einer Nation nicht mehr ihre physische,
sondern ausschließlich nur noch ihre moralische Möglich-
keit entscheidet. Alles scheint für Rom verloren. Doch
es rafft die letzten Waffenfahigen zusammen, bewaffnet
sie mit alten Beutestücken aus den Tempeln, und schon
*) Unter „Gerader“ auf der Kugel muß man die kürzeste
Verbindung zweier Punkte, also den Größtkreis verstehen,
falls man die Kugelfläche nicht verläßt. Zu solcher Verall-
gemeinerung sind die alten Griechen jedoch nicht vorge-
drungen.
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zwei Jahre später steht der Consul M. Claudius Marcellus
mit den Resten des bei Cannae fast gänzlich vernichteten
Heeres vor Syrakus, um den Verbündeten Karthagos zu
züchtigen. Doch die Römer sind vom Unglück verfolgt,
auch hier ereignet sich ein negatives Wunder. Als Mar-
cellus Syrakus von der Seeseite angreift, senken sich
eiserne Hände und Schnäbel von den Mauern, krallen
sich in die Schiffe und heben sie hoch, um sie Wieder
fallen zu lassen. Und auf die zerschmetterten Planken,
an die sich Ertrinkende klammern, saust ein furchtbarer
Hagel riesiger Steinblöcke, __Wie er von Menschenkraft
noch niemals erregt Wurde. Alteste Veteranen erblassen.
Wo sich über den Mauern von Syrakus ein Tauende oder
ein Stückchen Holz zeigt, dort fliehen die Legionäre in
unhemmbarem Entsetzen. Denn sie Wollten gegen
Menschen kämpfen, oder, Wenn es sein müßte, gegen
die Kriegselefanten Hannibals, nicht mehr aber gegen
feindlich gesinnte Götter und hundertarmige Riesen.
Ihr Führer aber, der große Consul Marcellus, sorgt dafür,
daß sie eine Erklärung des schrecklichen Wunders er-
halten. Und da erfahren sie, daß ein einzelner gegen sie
alle streitet, ein einsamer zweiundsiebzigjähriger Greis.
Er heißt Archimedes und ist der größte aller hellenischen
Mathematiker, einer jener skurrilen, Weltabgewandten
Männer, deren Wesen der harte, Wirklichkeitsverwurzelte
Römer noch Weniger versteht als seine ihm ebenfalls un-
klare Beschäftigung mit Linien und Buchstaben. Ist das
Zauberei? Hat man über diese Tröpfe bisher fälschlich
gespöttelt und gelacht? Jetzt, da es ernst geworden ist,
hat man”s. Jetzt recken sich die eisernen Zauberkrallen
über die Mauern und die Steine hageln, als ob Vesuv und
Atna zugleich das Innere der Erde ausspieen.
Und zu allem soll dieser Archimedes, gerade dieser
Archimedes, der schnurrigste aller Geometer sein, den
die Hellenen hervorbrachten. Man erfährt alles von
gefangenen Syrakusanern, die sich durch Geschwätzig-
keit Erleichterung ihres Gefangenenloses erkaufen Wollen.
Archimedes sei mit dem Königshause verwandt, seine
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Familie sei reich gewesen. Er aber habe durch Ver-
träumtheit alles vor die Hunde gebracht. Sei es ein
Wunder, daß ein Mann abwirtschaften müsse, den die
Verwandten mit sanfter Gewalt zum Bad schleppten,
weil er es ebenso vergaß wie die Mahlzeiten? Und wenn
er endlich badete, dann zeichne er während der Salbung
ununterbrochen Linien in den Sand und murmle unver-
ständliche Worte. Ja, einmal sei er sogar splitternackt
durch die Straßen von Syrakus gelaufen und habe in
einem fort „Heureka, heureka!“ geschrien. Was habe
er da „gefullden“? Daß der Goldschmied den König be-
trogen und den Goldkranz nicht aus reinem Gold an-
gefertigt habe? Angeblich sei Archimedes dies dadurch
zum Bewußtsein gekommen, daß das Bad überlief, als
er sich hineinsetzte. Das sei doch, bei den Göttern, keine
große Entdeckung. Auf jeden Fall sei dieser Archimedes
ein Narr oder ein Dämon oder beides.
Die römischen Bauern, aus denen sich ja die Legionen
zusammensetzen, sind durch diese Erzählungen auf-
geregter Syrakusaner nicht getröstet. Im Gegenteil.
Jetzt glauben sie erst recht an Zauber und schwärzesten
Spuk. Und als endlich nach zwei grauenvollen Jahren
Syrakus ihnen durch List und Überrumplung in die
Hände fällt, da stürmen sie mordend und plündernd
durch die Gassen der eroberten Stadt und sind noch
wilder als sonst, da sie an jeder Straßenbiegung
das Auftauchen neuer archimedischer Gespenster be-
fürchten.
Dabei betritt ein Legionär ein anscheinend unbe-
wohntes Haus. Im Garten sitzt ein Greis und zeichnet
Figuren in den Sand. Warum soll er sie nicht zeichnen?
Gewiß, heute ist viel Lärm in der Stadt. Aber solchen
Lärm gab es oft in den vergangenen zwei Jahren. Und
das Problem leidet keinen Aufschub. Archimedes blickt
kaum auf. Er merkt nur, daß ein Fuß in seine Linien
tritt. „Störe mir meine Kreise nicht! “ sagt er sanft.
Doch fast im gleichen Augenblick macht das Schwert
des Legionärs seinem Leben ein Ende.
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Hat der Soldat gewußt, daß er Archimedes tötete?
Wollte er den „Zauberer“ beseitigen, um die Legionen
und Rom zu retten? Trotz des strengen Befehls des
Consuls Marcellus, Archimedes zu schonen?
Marcellus war erbittert, als er von der Tat hörte. Er
ließ Archimedes mit allen Ehren bestatten und setzte
ihm ein Grabmal, das allerdings durch Jahrhunderte
vergessen war und von Hecken und Dornen überwuchert
wurde. Erst Cicero hat es wieder aufgespürt, fand darauf
die in den Zylinder einbeschriebene Kugel und bewies der
Welt damit, daß Archimedes nicht nur eine Sage, sondern
ein lebendiger Mensch gewesen war. Ein Mensch --
fügen wir hinzu -, dessen innere Damonie kaum je in
der Geschichte des Geistes übertroffen wurde. So um-
walzend, so neu, so zukunftsschwanger war alles, was
er unternahm und schuf.
Wir aber müssen nun mit unserem Zauberteppich in
die Zeit zurückfliegen, in der wir schon einmal Weilten,
müssen die geistigen Ahnen dieses unheimlichen Ge-
stalters feststellen, da er für uns sonst noch viel mehr in
die Zonen des nicht mehr zu Verstehenden gerückt würde.
Von den Eleaten, der Philosophenschule, die der
Riesengeist Parmenides gegründet hatte, haben wir
schon gehört. Es war jene Schule, die das ewige Sein,
das Ruhende, als oberstes Weltprinzip erklärte und alles
Werden zu bloßem Schein degradierte. Es war jene
Schule, deren, fast möchte man sagen, karikaturistischen
Ausklang der Eleate Zenon mit seinen sophistischen Para-
doxien bildete. Wenn nun auch das Mißverständnis, das
in diesen geistigen Luftsprüngen lag, von gründlicheren
Geistern bald aufgeklärt und auf sein richtiges Maß
zurückgeführt wurde, so blieb der echte Kern eleatischer
Weisheit doch tief in der hellenischen Philosophie ver-
wurzelt, da er dem Grundcharakter des zeitlosen Volkes
der Harmonie sehr angemessen war. Und die echte
eleatische Auffassung setzt sich fort in der platonischen
Lehre von den ewig seienden Ideen, von den Urbildern
alles Daseins, aller schattenhaften, verunreinigten Wirk-
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lichkeit. Von dort pflanzt sich diese Grundstimmung der
in sich ruhenden Ewigkeit weiter über Aristoteles fort, bis
sie in der rein statischen, klaren und bewegungslosen
Mathematik Euklids ihren vollendeten Ausdruck auf
geometrischem Gebiet findet. Für Euklid etwa ist ein
Kreis durchaus nicht das Ergebnis eines Zirkelum-
schwunges, auch nicht das schon abstraktere Resultat
der Bewegung eines Halbmessers, einer um einen der
Endpunkte wieder in sich selbst zurückgedrehten Strecke,
sondern die Gesamtheit oder der Inbegriff aller Punkte,
für die der Abstand von einem bevorzugten Punkt (dem
sogenannten Mittelpunkt) gleich ist. Es wird also, rein
eleatisch, nicht das Werden des Kreises, sondern das
Sein des Kreises ausgedrückt. Noch augenfälliger wird
dieser Wesensunterschied bei verwickelteren Kurven. So
bemerkt der Archimedesforscher A. Czwalina treffend,
daß Archimedes die von ihm entdeckte und nach ihm
benannte Spirale folgendermaßen beschreibt: „Wenn
sich ein Halbstrahl um seinen Anfangspunkt mit gleich-
förmiger Geschwindigkeit dreht, nach einer beliebigen
Anzahl von Drehungen wieder in seine Anfangslage zu-
rückkehrt, und sich auf dem Halbstrahl ein Punkt mit
gleichförmiger Geschwindigkeit, im Anfangspunkt des
Halbstrahls beginnend, bewegt, so beschreibt dieser
Punkt eine Spirale.“ Dagegen, so sagt Czwalina, hätte
Euklid, ohne sich selbst untreu zu werden, dieselbe Kurve
in seiner statischen Art so beschreiben müssen: „Es ist
gegeben ein Halbstrahl und außerhalb desselben ein
Punkt. Es sei die Gesamtheit aller der Punkte betrachtet,
für die sich der Abstand des gegebenen Punktes zum
Anfangspunkt des Halbstrahls verhält wie der Winkel,
den jener Halbstrahl bildet, zu dem Winkel, den dieser
Abstand bildet.“
An diesem Beispiel ist die Grenze der euklidischen Dar-
stellungsart klar ersichtlich. Die logisch und Weltan-
schaulich begründete Ausschließung alles Werdenden,
aller Bewegung, erzeugt zunehmend eine Starrheit und
Undurchsichtigkeit der Darstellung, Wenn es sich um
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verwickeltere Probleme oder Definitionen handelt. Doch
darin lag der Unterschied durchaus nicht allein. Wir
müssen ihn also tiefer und verhüllter suchen. Zu diesem
Zweck muß uns aber der Zauberteppich neuerdings bis
zu Parmenides zurücktragen.
Wir sagten schon, daß die Philosophie des Seins dem
der Harmonie zugewandten Geist der Hellenen durchaus
gemäß War. Die Griechen haßten das Uferlose, Unbe-
grenzte, Formlose. Und sie wollten nicht an Dinge
rühren, die, über das Menschenmaß hinausreichend,
eigentlich den Göttern gehörten. So wurde auch Pro-
metheus, der Übermenschliches erstrebt hatte, mit Ketten
an den Kaukasus geschmiedet und die Adler des Zeus
fraßen an der Leber des hilflos gemachten Titanen.
War es sinnbildhaft, daß, fast zu gleicher Zeit mit dem
Ruhespender Parmenides, am entgegengesetzten Ende
hellenischen Gebietes, in Ephesos, ein Mann zu lehren
begann, der nicht bloß äußerlich dem Kaukasus näher
war? Der all das prometheische Feuer in Hellas ent-
fesselte oder zumindest solcher Entfesselung die geistige
Unterlage lieh? Er hieß Heraklit und wurde schon im
Altertum der „dunkle Heraklit“ genannt, was wohl nicht
bloß allein wegen der epigrammatischen Kürze seiner
Weisheiten, sondern mindestens ebenso wegen des In-
halts seiner Lehren geschah, die jenes zweite Wesen des
Griechengeistes spiegelte, der sich manchmal eruptiv
Luft machte und den mühsam errungenen Kosmos, die
schwer erkämpfte Harmonie wieder ins Wanken brachte.
Heraklit stellte dem Sein der Eleaten das ewige Werden
entgegen. „Alles fließt“ und „Der Widerstreit ist Vater
des Allgeschehens“ sind seine obersten Grundsätze, die
sofort aus dem ewig Ruhenden das unterbrechungslos
Veränderliche machen und das Sein zu einem ungreifbaren
schattenhaften Übergangspunkt zwischen Vergangenheit
und Zukunft degradieren. Diese Lehre wirkt aber, ebenso
wie die eleatische, bestimmend auf das Reich der Mathe-
matik ein. Denn schon die Linie ist, heraklitisch ge-
sehen, nicht mehr eine Perlenschnur von einander be-
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nachbarten, gleichwohl aber getrennten Punkten, sondern
sie wird zur Bewegungsspur eines fortschreitenden Punk-
tes und wird damit stetig oder kontinuierlich. Damit
aber ist in irgendeiner Form auch das streng verpönte,
nur den Göttern erfaßbare Unendliche in die Geometrie
gebracht, da ein Kontinuum, um wirklich stetig zu sein,
aus unzähligen Punkten*) bestehen muß.
Aber nicht die Lehre des Heraklit allein begleitete
jene Zeit, deren Vorwärtssturm zu euklidischer Form-
vollendung wir bereits geschildert haben. Außer der
dunklen Mahnung des Irrationalen wurden in diesen
Jahrhunderten, insbesondere im fünften vorchristlichen
Jahrhundert, die drei sogenannten klassischen Probleme
aufgestellt, die durch ihre Lösungsschwierigkeit das Ge-
heimnis aller mathematischen Bemühung so recht offen-
barten; und die an der Möglichkeit voller und end-
gültiger Harmonie zweifeln und verzweifeln ließen. Zu-
erst das Problem der Winkeldreiteilung und das delische
Problem oder die Würfelverdoppelung, das zudem noch
sakrale, mystische Schauer auslöste. In ihrer, Not, be-
drängt von Ungemach und Seuchen, hatten sich die
Delier an das Orakel zu Delphi um Hilfe gewandt und
dort die Auskunft erhalten, der Zorn des Gottes könne
nur dadurch versöhnt werden, daß sein Altar in Delos
verdoppelt würde. Nun hatte aber dieser Altar die
Gestalt eines Würfels, und man mußte nach mancher
Bemühung erkennen, daß die Problemlösung mit den
konstruktiven Mitteln von Zirkel und Lineal nicht gelang,
was uns Heutigen sofort erklärlich ist, weil es sich bei
der Würfelverdoppelung um Auflösung der drittgradigen
(kubischen) Gleichung :v3 = 2a3 handelt und mit Zirkel
und Lineal höchstens quadratische Gleichungen be-
handelt werden können. Das dritte der Probleme aber
war die Quadratur des Kreises, mit der sich, wie schon
erwähnt, bereits Anaxagoras beschäftigt haben soll.
_ *) Von den verschiedenen „Mächtigkeiten“ der unend-
lichen Mengen im Sinne der Mengentheorie sprechen wir
auf dieser Stufe noch nicht.
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Wir sind außerstande, all die mannigfaltigen und
genialen Versuche zur Lösung dieser drei Probleme
auszuführen, die, wie festgestellt werden soll, wirkliche
und ernst zu nehmende Lösungen ergaben. Wir wollen
nur erwähnen, daß sich gelegentlich dieser Problem-
lösungen eine „Bewegungsgeometrie“ entwickelte, die
stets neue und stets kompliziertere Kurven*) ent-
deckte. Die sogenannte „Einschiebung“ war auch
nichts anderes als die Hinzufügung einer Bewegungs-
konstruktion zu den bisherigen Hilfsmitteln von Zirkel
und Lineal.
Nun trat aber ein neues Geheimnis hinzu, das bei der
versuchten Quadratur des Kreises offenbar wurde.
Während nämlich ein Teil der Mathematiker fest davon
überzeugt war, die Flächen- oder Raumausmessung
krummlinig begrenzter Gebilde müsse naturnotwendig zu
irrationalen, also stets nur zu angenähert richtigen Er-
gebnissen führen, glaubte der andere Teil der Geometer
bloß an die Unvollkommenheit der bisherigen Methoden.
Eine tiefere Erkenntnis müßte rationale Ergebnisse er-
möglichen. Der Zufall wollte es, daß die zweite Ansicht
in augenfälliger Weise durch die Mönd chenkonstruktionen
des Hippokrates von Chios Stütze und Bestätigung er-
hielt. Dem Hippokrates war es nämlich unwiderleglich
gelungen, seine Möndchen, also allseitig krummlinig be-
grenzte Figuren, mit einem rechtwinkligen Dreieck in
ein streng rationales Verhältnis zu setzen. Der damaligen
Geometrie war es bereits ein Leichtes, dieses Dreieck in
ein flächengleiches Quadrat zu verwandeln, wodurch die
erste glatte Quadratur einer krummlinig begrenzten
Figur geleistet war. Es konnte also niemand mehr be-
haupten, der Flächeninhalt derartiger Gebilde sei seinem
Wesen nach nur durch irrationale Inhaltszahlen aus-
drückbar.
*) So etwa die berühmte „Quad.ratrix“ (auf griechisch
„Tetragonizousa“), die von Hippias als Ergebnis einer
drehenden und einer fortschreitenden Bewegung kon-
struiert wurde.
65
Die große Hoffnung, die Hippokrates bei allen, die
sich um die Quadratur bemühten, erweckt hatte, wollte
sich aber durchaus nicht erfüllen, und so mußte man
wieder zu einer Methode seine Zuflucht nehmen, der
allerdings der Makel des verpönten „Unendlichen“ un-
tilgbar anhaftete. Wir erwähnten schon, daß der
Atomistiker Demokrit als erster den Inhalt der Pyramide
und des Kegels als ein Dritteil des gleich hohen Prismas
bzw. Zylinders gleicher Grundfläche festgestellt hatte,
indem er die Gebilde in dünne Scheiben zerschnitt. Das
war, sollte sie taugen, unleugbar eine Operation mit un-
endlich kleinen Größen. Man hatte aber für die Quadra-
tur und Kubatur noch eine zweite Methode, die darin
bestand, daß man die krummlinige Figur durch gerad-
linig begrenzte Figuren stets mehr und mehr ausfüllte
und schließlich sämtliche geradlinig begrenzten Figuren
aufzusummieren trachtete. Sollte diese Methode nicht
ein bloßer N äherungsprozeß sein, dann mußte man wohl
oder übel eine Summe ımendlich vieler Summanden
bilden. Wie machte man aber das? Vor allem: würde
eine derartige Summe nicht notwendigerweise als Er-
gebnis eine unendliche Größe liefern müssen, selbst wenn
die Summanden noch so klein waren? Also Problem über
Problem und Widerspruch über Widerspruch. Aber
zeigte nicht wieder das Ergebnis des Hippokrates bei
seinen „Möndchen“, daß derartiges möglich sein mußte?
Ein rationales Quadraturergebnis war ohne solche Mög-
lichkeiten undenkbar.
In diesem Schwanken der Begriffe stand nun wieder
ein Riesengeist auf, dessen Tat nicht hoch genug an-
geschlagen werden kann, da sie bis auf den heutigen Tag
zureichend und gültig geblieben ist. Eudoxos, ein Zeit-
genosse des Platon, beseitigte nämlich das Dilemma
zwischen „unendlich“ und „endlich“ mit einem Schlage
dadurch, daß er den Begriff des „beliebig Kleinen“ ein-
führte und den sogenannten Grenzübergang logisch
sicherstellte. Er erklärte nämlich: „Wenn man von
einer Größe die Hälfte oder mehr als die Hälfte weg-
66
nimmt und diesen Vorgang hinreichend oft wiederholt,
dann kann man stets zu einer Größe gelangen, die kleiner
ist als irgendeine gegebene Größe derselben Art“. Wir
können also nach Eudoxos ins beliebig Kleine so weit
vorstoßen, als wir wollen. Die Folge der Größen strebt
unter der angegebenen Bedingung, die wir heute eine
Konvergenzbedingung nennen, stets weiter und weiter
gegen Null. Wir schreiben für den Satz des Eudoxos
heute lim owß-y. -0 für oc, ß, y ä å und wissen,
daß diese Folge tatsächlich konvergent ist. Ihre voll-
standige Aufsummierung muß also ein endliches Resultat
liefern, weil die zunehmende Anzahl der Summanden
durch ihre zunehmende Kleinheit entsprechend aufge-
Wogen wird. Die Folge und die aus der Folge gebildete
Reihe hat einen angebbaren Grenzwert, der bei der
Folge 0 und bei der Reihe eine endliche Zahl ist. Nun
war die Forderung des Eudoxos alles eher denn graue
Theorie. Wir sehen aus den Elementen des Euklid an
mehreren Stellen, wie die Methode des Eudoxos gehand-
habt wurde. Euklid beweist namlich den Satz, daß sich
zwei Kreise zueinander wie die Quadrate ihrer Durch-
messer verhalten, dadurch, daß er die Kreise als Polygone
beliebig großer Seitenanzahl ansieht. Denn er hat eben
bewiesen, daß sich einbeschriebene ähnliche Polygone ver-
halten wie die Quadrate der Durchmesser des Kreises,
in den sie einbeschrieben sind. Um nun zu zeigen, daß
der Kreis wirklich als Polygon mit beliebig großer Seiten-
anzahl betrachtet werden kann, werden die Segmente,
die zwischen Polygon und Kreis bleiben, durch Dreiecke
gefüllt, die fortschreitend der Forderung des Eudoxos
entsprechen, deren Größe also unter jedes beliebige Maß
gebracht werden kann. Dadurch ist der Kreis „ausge-
schöpft“. Und da ausschöpfen auf lateinisch exhaurire
heißt, nannte man diesen Beweis im siebzehnten Jahr-
hundert den „EXhaustionsbeweis“. An einer zweiten
Stelle führt Euklid den Exhaustionsbeweis, um zu zeigen,
daß zwei dreiseitige Pyramiden gleicher Höhe sich im
67
Volumen zueinander verhielten Wie die Flächeninhalte
ihrer Grundflächen. Es wird außerdem über Eudoxos
berichtet, daß er die Entdeckung Demokrits betreffend
das Volumen von Pyramide und Kegel durch den „EX-
haustionsbeweis“ sichergestellt habe.
Wenn nun die Hellenen auch durch die Methode des
Eudoxos in den Besitz einer logisch vollgültig gesicherten
Infinitesimalmethode gelangt waren, so fiel es ihnen
gleichwohl durchaus nicht ein, diese Methode zu Verall-
gemeinern. Sie führten vielmehr, wie wir an Euklid
gezeigt haben, den Exhaustionsbeweis in jedem Fall
gesondert durch und suchten im übrigen die Quadraturen
und Kubaturen nach Methoden zu bewältigen, die ihnen
dem Wesen echter Geometrie angemessener erschienen.
Wir müssen aber jetzt zum Helden dieses Kapitels
zurückkehren, von dem wir zuletzt berichteten, er sei im
Jahre 212 v. Christi Geburt durch die blindwütige Roheit
eines römischen Solaten als Vierundsiebzigjähriger ge-
tötet worden. Sein letzter Kampf für die Polis, die
Vaterstadt, ist tief symbolisch. Er zeigt, daß sich die
hellenische Mathematik in ihrer stolzen Vereinsamung
erst dann der Wirklichkeit zuwandte, als es bereits zu
spät war. „Gebt mir einen Punkt außerhalb der Erde,
und ich werde sie aus ihrer Bahn rücken“, hat derselbe
Archimedes stolz gesagt, der zwar noch einige römische
Kriegsschiffe zerschmettern, sich selbst aber und sein
Volk nicht mehr vom Untergang erretten konnte. Was
ist nun diese „Wirklichkeit“, der die Mathematik das
eine Mal ferner, das andere Mal näher stehen kann? Das
müssen wir jetzt untersuchen.
Unser Geist hat zwei formale Möglichkeiten, aus dem
ursprünglichen Chaos den Kosmos zu gewinnen. Diese
Möglichkeiten oder Anschauungsformen sind nach Kant
der Raum und die Zeit. Beide vereint aber ergeben die
Bewegung. Und das Lebendige hat an beiden teil. Die
alten Hellenen neigten dazu, die Erforschung des for-
malen Raumes, der ja die eigentliche Welt des Auges
ist, in den Vordergrund zu schieben. Sie versuchten ver-
68
zweifelt, in heutiger Sprache gesprochen, stets nur
„Momentbilder“ der Welt zu gewinnen und diese dann
auf ihre Beziehungen zu untersuchen. Oder diese Be-
ziehungen zu erzeugen. Architektonik und Plastik sind
die künstlerischen Ausdrucksformen solcher Geistes-
struktur. Die Anhänger Heraklits aber, die Fanatiker
des „Panta rhei“ (alles fließt), Wollten Wieder bloß den
„Film“ des Geschehens betrachten und alles Gewordene
aus dem Gesichtswinkel des Werdens heraus begreifen.
Ihre Grundveranlagung ist eine dynamische und histori-
sche. Historisch allerdings nicht im Sinne der Geschichts-
forschung, sondern im Sinne entwicklungsgeschichtlicher
Weltbetrachtung. Nun führt die Überbetonung des
eleatischen Standpunktes von der Wirklichkeit Weg zu
einer Art von Nirwana, Während der konsequent pro-
metheische Zug der Heraklitschule dem Fortschritts-
Wahn und der Veräußerlichung verfällt. Dem Leben
selbst aber, dessen Gesetz nach den Worten der Pytha-
goreer gerade das Ungesetz des Irrationalen ist, kann
man mit keiner der beiden Weltansichten voll deckend
genügen. Dem Glück, der „Euousia“, mag das Sein mehr
entsprechen. Dem Widerstreit im Lebendigen eher das
rasende Werden.
Aus dieser Geistesverfassung heraus hat es die griechi-
sche Mathematik bis auf Archimedes versäumt, über die
Brücke der Mechanik zur Wirklichkeit einer Technik
vorzustoßen, die der Möglichkeit nach stets in ihr lag.
Jahrhundertelang konnte dieser Mangel durch die kör-
perliche und moralische Tüchtigkeit der Menschen Wett-
gemacht Werden. Als aber Hellas ınit der überlegenen
Organisationsfähigkeit und der Weit höheren Gemein-
schaftsmoral Roms zusammenstieß, da zeigte es sich bei
der Belagerung von Syrakus, daß das Hellenentum sich
als Ganzes für das Ideal euklidischer Formreinheit ge-
opfert hatte. Es War jetzt zu spät, der einzelne, Wie ein
Archimedes, konnte die Katastrophe nicht mehr auf-
halten. Denn von nun an begann Rom, Wenn auch
langsam und mißverstehend, den griechischen Geist, der
69
im Sterben zur Wirklichkeit erwacht war, für die Zwecke
seiner Weltherrschaft zu benutzen.
Wir wollen aber nicht ungerecht sein. Denn einem
Archimedes war es trotz allem nur darum möglich, die
Mathematik in letzter Konsequenz zu „verwirklichen“,
weil er auf dem sicheren Fundament euklidischer Un-
angreifbarkeit weiterzubauen vermochte.
Wodurch also unterschied sich Archimedes von den
meisten seiner Vorgänger? Wodurch mutet uns sein
ganzes Denken und Schaffen so neuzeitlich an? Es ist
wohl auf allen Linien und Gebieten seine prometheische
Art, die diesen Eindruck erzeugt. Er setzte sich über alle
Vorurteile hinweg, um die „Wirklichkeit“ zu bezwingen.
Diese „Wirklichkeit“ aber wieder trieb ihn weiter und
weiter. Denn sie duldet kein beschauliches Verweilen bei
reinen Formen und Proportionen. Es gibt in der Natur
sehr selten auch nur halbwegs angenäherte geometrische
Figuren. Alles ist körperlich, und die Körper sind un-
regelmäßig. Man muß dieser Unform mit allerlei Schlichen
an den Leib rücken, muß vor allem die Methode des
Unregelmäßigen ausbilden, das heißt, man muß Wege
finden, das Gekrümmte und das Formlose zu beherr-
schen. Solche Probleme aber treiben den Geist zwangs-
läufig zum Irrationalen oder zum Infinitesimalen, da
das Maß stets von der Geraden ausgeht, jede Kurve
somit rektifiziert (gerade gestreckt), jede krummlinig be-
grenzte Fläche quadriert und jeder derart gebaute Körper
kubiert werden muß. Dabei aber gibt es keine stolze
Abkehr vom Rechnerischen, wenn man die Dinge bis auf
den Grund durchforschen will.
Archimedes entzog sich keiner dieser Forderungen.
Er war einer der blendendsten Rechenkünstler aller
Zeiten. Die Tatsache, daß die Kreiszahl az zwischen
1137 1335
33379 und fššàíí betrage (was er dann abgekürzt als
3 -äl und 3 1%- in die Mathematik einführte), ist ihm eben-
so geläufig wie Quadratwurzelausziehungen 1/349540 ~
70
~591 -g oder 1/3 ~ -ßí ~-,T6-, wobeı ur uns das
Zeichen ~ bedeuten soll, daß der gefundene Wert nur
ungefähr stimmt.
Nun wurde am Hofe des Königssohnes Gelon von
Syrakus einmal darüber gesprochen, daß sich das grie-
chische System der Zahlenschreibung durchaus nicht
gut zur Darstellung sehr großer Zahlen eigne, und man
mag sich, wissenschaftlich ästhetisierend, in die Un-
endlichkeit der Größe nach oben und unten verloren
haben. Wobei Archimedes vielleicht für das Unendlich-
kleine die Exhaustion oder eine fallende geometrische
Reihe als Beispiel anführte, die ja, wie etwa 1, â-, -å,
6i4, . . . sehr bald in das Dunkel ununterscheidbarer
Winzigkeit verschwindet. Wie aber steht es mit dem
unendlich Großen? Kann man das auch an Figuren, an
kleiner werdenden Dreiecken aufzeigen? Nein, man kann
es nicht. Man kann, so rief wohl einer aus, solche Größen
wohl nur an der Natur demonstrieren. Die Anzahl der
Sandkörner an den Strandküsten Siziliens sei sicherlich
unzahlbar, unendlich.
Einige Tage später erhielt Kronprinz Gelon eine
Schrift, deren Anfangssätze lauteten: „Manche Leute,
mein Kronprinz Gelon, glauben, die Zahl des Sandes sei
von unbegrenzter Größe. Ich meine nicht die Zahl des
um Syrakus und sonst noch in Sizilien befindlichen
Sandes, sondern auch des Sandes auf dem ganzen festen
Lande, dem bewohnten und unbewohnten. Andere gibt
es wieder, die diese Zahl zwar nicht als unbegrenzt an-
nehmen; sondern sie meinen, es sei noch niemals eine so
große Zahl genannt worden, daß sie die Sandzahl über-
trifft. Wenn sich nun diese Leute einen so großen Sand-
haufen dachten wie die Masse der ganzen Erde, dabei
sämtliche Meere ausgefüllt und alle Vertiefungen der
Erde so hoch wie die höchsten Berge zugeschüttet, so
würden sie gewiß um so mehr glauben, daß keine Zahl
71
zur Hand sei, die Menge dieses Sandes noch zu über-
bieten. Ich aber will nun mittels geometrischer Beweise,
denen Ihr, o Prinz, beipflichten werdet, zu zeigen ver-
suchen, daß unter den von mir benannten Zahlen, die
sich in meiner Schrift an Zeuxippos befinden, einige
nicht nur die Körnerzahl eines Sandhaufens übertreffen,
dessen Größe der Erde gleichkommt, wenn sie nach
meiner obigen Erklarung ausgefüllt wäre, sondern auch die
einer Sandmenge, deren Größe dem Weltall gleich ist.“
Archimedes hat dieses Wort eingelöst. Er zeigt, daß es
leicht möglich sei, sogenannte „Oktaden“ zu bilden, das
sind Zahlengruppen des Zehnersystems, deren erste die
Myriade zur zweiten Potenz, also 103 oder 100,000.000
betragt. Die zweite Oktade reicht von (108 + 1) bis 1016,
die dritte von (1016 + 1) bis 1024, und so fort bis
108°“ 00° 00°, d. i. eine Zahl mit 800,000.000 Nullen. Damit
aber ist erst die „erste Periode“ zu Ende, auf die man
auch weiter bauen kann oder die man sogar durch Wahl
und Erfindung eines eigenen Wortes zur neuen Einheit
machen könnte, und so fort ins Grenzenlose. Wenn
man nun weiter annimmt, daß ein Sandkorn der zehn-
tausendste Teil eines Mohnkornes ist, von dem wieder
40 auf eine Fingerbreite gehen; wenn man weiter fordert,
der Erdumfang sei 55.000 km (in Wirklichkeit ist er
40.000 km) und die Sonne sei von der Erde 925 Millionen
Kilometer entfernt (richtig 150 Millionen Kilometer);
wenn man schließlich das Sonnensystem nur als winzigen
Teil der Weltkugel (Fixsterngewölbe) ansetzt, deren
Durchmesser sich zum Bahnkreise der Erde wie dieser
zum Zentrum verhalten möge: dann erhalt man als
Durchmesser des Weltalls 91/4 Billionen Kilometer oder
fast ein Lichtjahr, wie wir heute sagen. Nun ist diese
Kugel schon durch 1063 Sandkörner, also durch eine ganz
am Beginn der „ersten Periode“ liegende Zahl, durch
eine Zahl der siebenten „Oktade“ erfüllt.
fs Wir müssen bei diesem Ausblick ins unendlich Große
noch etwas verweilen. Zuerst fallt es uns auf, daß der
prometheisch-revolutionäre Geist des Archimedes nicht
72
davor zurückschreckt, die „bewohnte Erde“ seines
Freundes Eratosthenes, des großen Bibliothekars von
Alexandria, des „Herrn Beta“*) zu verlassen und sich
mit Aristarch von Samos in die weiten Sternenraume
hinauszuwagen. Aristarch hatte ja bereits das geozentrische
System verlassen und war zum heliozentrischen System
übergegangen, ohne allerdings innerhalb der antiken Welt
damit durchzudringen. Erst Kopernikus und Galilei bau-
ten auf dem System des Aristarch weiter. Archimedes
selbst war Geozentriker. Aber er lehnte das System
Aristarchs anscheinend nicht ab, da er wahrscheinlich
schon die Relativität aller Bewegung voll durchschaute.
Weiters frappiert uns bei dieser „Sandrechnung“ die
Ähnlichkeit des Zahlenrausches mit indischen Vorbildern.
Tatsächlich kehren derartige Zahlenüberschwenglich-
keiten an keiner Stelle der antiken Mathematik wieder.
Die Rechenkunst des Archimedes erschöpfte sich
durchaus nicht in dieser Sandrechnung. Auch nicht in
der Rektifikation und Quadratur des Kreises, deren
Ergebnisse (sie sind auf weniger als 0'6 Promille genaul)
wir schon erwähnt haben. Es traten nämlich bei andern
Gelegenheiten allgemeinere Rechenprobleme auf, die
man als algebraisch bezeichnen muß. So etwa bei der
Quadratur der Spirale die Summierung einer arithme-
tischen Reihe zweiter Ordnung. Popular gesagt, handelt
es sich dabei um beliebig fortgesetzte Addierung
von Quadratzahlen, etwa 1 -If 4 + 9 ›| 16 + 25 ~l- 36 +
-l- . . . + nz. In unglaublich scharfsinnigen Beweisketten
findet Archimedes hierfür Ergebnisse, die, umgeformt,
unserer Formel 12 + 22 + 32 + . . . -{- 11,2 =_- ån (n +1)
(2 n + 1) entsprechen. Ebenso, ist es ihm ein Leichtes,
°'_“) Angeblich hieß Eratosthenes so mit einer Art von
Spitznamen, weil er auf allen Gebieten der zweitgrößte
Geist des Altertums war. Den ersten Rang fx reservierte
man aus Ehrfurcht den Geistern der Vergangenheit. Es ist
derselbe Eratosthenes, von dem das „Zahlensieb“, die bis
heute einzig anwendbare Methode zur Auszählung der Prim-
zahlen, herrührt.
73
die gelegentlich der Quadratur der Parabel auftretende
fallende geometrische Reihe 1 elf â ».1 116 -|~ 614 »le . . .
zu summieren. Ob Archimedes bei dieser letzteren
Summierung bereits das volle Bewußtsein einer Summe
unendlich vieler Glieder einer offensichtlich konvergenten
Reihe vorschwebte, wie wir sie heute nach der Formel
sw = -1-§1;-q~ leisten, wodurch sich für 1 gj- â -le 116 + . . .
die Summe sw = --}_í~ = ergäbe, ist zweifelhaft. Der
1
4
Exhaustionsbeweis arbeitet ja seit Eudoxos absichtlich
nicht mit dem unendlich Kleinen. Man sagt vielmehr,
daß sich die „Ausschöpfung“ des Parabelsegments durch
Dreiecke, von denen die folgenden an Flächeninhalt
stets ein Viertel der vorherigen ausmachten, weiter und
weiter fortsetzen lasse. Stets werde man zu jeder noch
so kleinen Größe durch Fortsetzung des Verfahrens noch
kleinere Dreiecke finden. Und zwar sagt Archimedes,
daß die Summe obiger Reihe (also die endliche Summe
von n Gliedern) stets um den dritten Teil des jeweils
kleinsten Gliedes kleiner sei als Das heißt also
4 1 l W« .
sn == :__:---§(~š-). Da nun aber trotzdem stets ein
Unterschied, wenn auch ein beliebig kleiner, zurück-
bleibt, folgt die Unmöglichkeit, daß die Aufsummierung
der Dreiecke größer sei als das Parabelsegment. Da aber
weiters dieser Unterschied unter jede beliebige Größe
gebracht werden kann, darf man apagogisch schließen,
daß das Parabelsegment auch nicht kleiner sein kann
4 . .
als í des Ausgangsdreıecks. Oder scharfer: keine der
beiden Flachen kann größer sein als die andere. Daher
sind die beiden Flachen gleich. Folglich ist die Fläche des
Segments gleich â des Ausgangsdreiecks.
Archimedes ist aber nicht bei Kreis, Parabel und Spi-
rale stehengeblieben. In weiteren kühnen und genialen
74
Exhaustionsbeweisen bestimmte er als erster in der
Wissenschaftsgeschichte die Oberfläche und den Raum-
inhalt der Kugel als -4 rzfc bzw. å T3 :/z. Die Zahl az wird
natürlich in seinen Schriften nicht so genannt, wie wir
es heute zu tun gewohnt sind. Wir bedienen uns nur der
Verständlichkeit halber der modernen Schreibweise. Dies
halten wir auch fest, wenn wir sagen, der besondere Stolz
des Archimedes sei die Aufstellung des Verhältnisses
4 2
V1: V2: V3 =-~r3n::21^3az:¬r3az:==2:3:1 gewesen,
3 3
womit er das Kubikinhaltsverhältnis von Kugel, Zylinder
und Kegel angab, wenn die Grundfläche von Zylinder
und Kegel den Flächeninhalt des Größtkreises der Kugel
und die beiden Körper als Höhe den Kegeldurchmesser
besitzen.
Aber auch dabei blieb er nicht stehen. Er bestimmte,
ebenfalls als erster, den Flächeninhalt der Ellipse als
F = a b az, wobei a und b die beiden Halbachsen sind. In
einer Schrift über die Konoide und Sphäroide fand er
zudem noch den Rauminhalt des Rotationsparaboloids
(Konoide) und des Rotationsellipsoids und Hyperboloids
(Sphäroide). Also eine auf alle zugänglichen Kurven und
von Kurven erzeugten Umdrehungskörper angewendete
Infinitesimalgeometrie, deren vollste Bewußtheit und
Planmäßigkeit nur ein doktrinärer Tor bestreiten
könnte.
Eine andere Frage ist es, auf welchem Weg Archimedes
zu seinen ungeheuren Entdeckungen gelangte. Darüber
hat uns ein glücklicher Fund aufgeklärt, den der dänische
Gelehrte und Archimedesforscher J. L. Heiberg im
Jahre 1906 machte. In diesem von Heiberg und Zeuthen
entzifferten Palimpsest sagt nämlich Archimedes selbst
ganz unbefangen in einem Schreiben an Eratosthenes:
„Manches, was mir vorher durch die Mechanik klar
geworden, wurde nachher bewiesen durch die Geometrie,
weil die Behandlung durch jene Methode noch nicht
durch Beweis begründet war; es ist nämlich leichter,
75
wenn man durch diese Methode*) vorher eine Vorstellung
von den Fragen gewonnen hat, den Beweis herzustellen,
als ihn ohne eine vorläufige Vorstellung zu erfinden.“
Über dieses Zeugnis von Archimedes selbst ist nicht hin-
wegzukommen. Und es ist zugleich ein Generalzeugnis
für den mathematischen Zeugungsakt überhaupt. Syn-
thetisch, aus Axiomen, Definitionen und Forderungen
aufbauend, ist wohl, entwicklungsgeschichtlich betrach-
tet, nur die nachträgliche systematische Darstellung
der Mathematik. Das Auffinden einzelner Wahrheiten
geschieht eher auf analytischem oder mechanischem Wege
oder gar durch das „mathematische Experiment“, wie
es ja schon dem Pythagoras zugeschrieben wird. Und
es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß der Mechaniker
Archimedes bei Inhaltsbestimmungen vorher mit der
Waage gearbeitet und den geometrischen Beweis nachher
ersonnen hat, was seine Verdienste nicht schmalert, da
seine geometrischen Beweise als Musterbeispiele von
synthetischer Strenge und Ausführlichkeit auf die Zu-
kunft übergingen. Allerdings gibt es noch eine andere
Art, mathematische Entdeckungen zu machen, die
Oswald Spengler die magische nennen würde. Leibniz
hat sie als „cabbala vera“, als wahre Kabbalistik oder
als lullische Kunst bezeichnet. Doch es ist hier noch
nicht der Ort, darüber zu sprechen, da sie bei Archimedes
und auf hellenischem Boden nicht auftritt. Hier ist erst
die Mechanik und die Bewegungsgeometrie (Spirale,
Rotationskörper usw.) in den Bereich der streng euklidi-
schen „ruhenden“ Mathematik eingebrochen.
Ein Kapitel der Mechanik aber war es, das sich seit
Archimedes dauernd als eigentümliche Zwischenform
zwischen Mathematik und Physik erhielt und das auch
heute noch eine ungeheure Rolle spielt. Wir meinen die
so recht eigentlich durch Archimedes begründete und
durch ihn bereits zu großer Vollendung getriebene Statik,
die Lehre vom Gleichgewicht ruhender Körper. Es kann
nicht deutlich genug gesagt werden, daß eine mathe-
*)l D. h. die mechanische i
76
matische Statik ohne Unendlichkeitsüberlegungen kaum
denkbar ist. Schon der Schwerpunkt an und für sich
ist nicht bloß ein möglicher Unterstützungspunkt eines
Körpers, sondern die Fiktion, daß das ganze Gewicht
des betrachteten Gebildes in diesem einen, durchaus
ausdehnungslosem Punkt vereinigt sei. Darüber hinaus
aber kann es ein Gleichgewicht sicherlich nur geben,
wenn ein Gewicht existiert. Schon Archimedes setzt
sich über diese selbstverständlich scheinende Forderung
mit einem einzigen Gewaltstreich hinweg. Er vindiziert
alle Eigenschaften von Gebilden, die der Schwere unter-
worfen sind, wie Gleichgewicht, Schwerpunkt, Schwer-
linien usw. für geometrische Figuren. Da ausdehnungs-
lose Gebilde keine Masse, also kein Gewicht haben
können, ist dieser Gewaltstreich größer und kühner, als
wir es heute fühlen. Wir sind durch Jahrtausende an
diese Darstellungsart gewöhnt, die voraussetzt, daß man
ein wirkliches, etwa aus Holz angefertigtes Dreieck (das
natürlich eigentlich ein sehr niedriges Prisma ist), stets
dünner werden läßt, bis es, sagen wir Papierdicke erhalt.
Nun läßt man seine Dicke weiter und weiter schwinden
und sieht zu, welche statischen Eigenschaften unab-
hängig von der Dicke erhalten bleiben. Gut, der Schwer-
punkt bleibt derselbe, bzw. er bleibt in der Draufsicht
am gleichen Fleck, wie sehr ich auch die Dicke verringere.
Dasselbe gilt für die Schwerlinien. Dasselbe für Be-
ziehungen des Gewichtes und der Gewichtsverteilung
zu anderen Flächengebilden jeweils gleicher Dicke. Wenn
sich nun Schwere und Körperlichkeit vollständig ver-
flüchtigt haben, wenn die Figur zum geometrischen
Schemen geworden ist, dann behalte ich diese Beziehun-
gen als Rest in der Hand. Obwohl im tiefsten Sinn eine
ungeheure Abstraktionskraft erforderlich ist, vom
„Schwer“punkt schwereloser Schatten und vom Gleich-
„gewicht“ gewichtsloser Dinge zu sprechen. Wie man
auch die Sache wenden mag, bleibt ohne vollste in-
finitesimale Überlegung der Widerspruch bestehen, und
auch die Analogie mit den geometrischen Figuren, die
77
ja in „Wirklichkeit“ ebensowenig existieren, ist sehr
brüchig. Denn geometrische Figuren sind Gestaltformen,
sind Größengesetze, während statische Betrachtungen
außerhalb gravitierender Massen, also außerhalb eines
körperlichen Bereiches, überhaupt jeden Sinn verlieren.
Wie dem nun auch sei, hat Archimedes mit kühnsten
Griffen diesen Teil der Mechanik durchforscht. Er war
sich klar über die Hebelgesetze, handhabte in doppelt
infinitesimaler Art die Flachenvergleichung von im
Gleichgewicht befindlichen Figuren, die er in beliebig
(unendlich) dünne Streifen zerlegte, und leistete zudem
in der Hydrostatik durch Entdeckung des „archimedi-
schen Prinzips“*) Bahnbrechendes, wobei er zudem noch
den Begriff des spezifischen Gewichtes der Körper und
die Gesetze der Schwimmlage und Schwinımstabilitàict
(metazentrische Höhe) feststellte. Und seine Mechanik
war so umfassend, daß er nicht bloß die „Schraube ohne
Ende“ zur Wasserfö1°derung verwendete und seinem
König Hiero die Sensation verschaffte, als einzelner ein
schweres Schiff von Stapel zu lassen, sondern daß er,
wie schon erwähnt, seine Vaterstadt durch zwei Jahre
gegen die Römer verteidigte.
Das alles aber würde ihn zwar zum Genie, noch niclıt
aber zum größten Mathematiker des Altertums stempeln.
Als solcher ist seine Produktivität schier unerschöpflich
gewesen. Und vor allem seine ungeheure Gelenkigkeit,
wen11 man so sagen darf. Daß der Kreisinhalt gleich ist
einem Dreieck mit der Kreisperipherie als Grundlinie
und dem Radius als Höhe, ist ebenso einzigartig meister-
haft wie die Aufstellung neuer Axiome, etwa, daß die
Gerade stets die kürzeste Verbindung zwischen zwei
Punkten sei. Und erst in neuester Zeit wurde eine
weitere axiomatische Feststellung des Archimedes in
ihrer vollen Bedeutung gewürdigt, die Aussage namlich,
daß all unsrem Messen der Grundsatz vorangehen müsse,
es sei stets möglich, jede beliebige Strecke AB durch
__ MMM
_*) Gleichheit des Gewichts der verdrängten Wasserrnenge
mit dem Gewicht des schwimmenden Körpers
78
entsprechende Vervielfachung einer kleineren Strecke A C
zu übertreffen. Das sieht wie ein Scherz aus oder wie
eine Binsenwahrheit. Es hat sich aber herausgestellt,
daß dieses und eben dieses Axiom unsre ganze Geometrie
zum Typus einer „archimedischen“ macht, wobei andre
„nichtarchimedische“ Typen weder unmöglich noch in
sich widersprechend sind. Schließlich hat Archimedes
auch die Stereometrie durch die Feststellung und Durch-
forschung der 13 archimedischen oder halbregelmäßigen
Körper (Polyeder) mächtig gefördert. Deren Flächen
sind 3-, 4-, 5-, 6-, 8-, 10- und 12-Ecke, und zwar bestehen
zehn dieser Vielflache aus je zweierlei und die übrigen drei
aus je dreierlei der angeführten regelmäßigen Vielecke.
Es zeigt sich bei Archimedes nach Ablauf von Jahr-
tausenden das Gesetz wirklicher menschlicher Geistes-
größe. Er selbst war der Großmeister der Exhaustion.
Sein Werk aber, so klein es verhältnismäßig rein äußer-
lich und an Seitenanzahl erscheint, ist kaum „auszu-
schöpfen“. Noch weniger ist das Wunder zu erfassen, daß
sich stets wieder innerhalb streng geschlossener Kulturen
Menschen erheben, die durch ihre Taten weit in die Zu-
kunft noch nicht gewordener Kulturen hineinreichen. Das
ist aber der dynamischeste und aktuellste Begriff des
Erschaffens „ewiger“ Werte, der potentiellen „Unsterb-
lichkeit“ echtester Leistung. Denn erst beinahe achtzehn
Jahrhunderte später sollte der faustische Geist der abend-
ländischen Völker dort anknüpfen, wo der römische Soldat
blindwütig die Kreise des Titanen gestört hatte.
Viertes Kapitel
APOLLONIOS VON PERGÄ
Mathematik als Virtuosität
Zwei Typen von Schaffenden beherrschen sowohl die
Entwicklung der Wissenschaft als die der Kunst. Sie
sind streng voneinander getrennt, liegen oft miteinander
79
im Streit, scharen gleichsam Parteien um sich, die
einander manchmal bis aufs Messer befehden, und geben
darüber hinaus Anlaß, sehr kluge und sehr überspitzte
Theoreme aufzustellen, worin das Wesen „wahrer“
Wissenschaft und „wahrer“ Kunst liege.
Es ist ungeheuer schwierig, festzustellen, wodurch
diese Typen sich voneinander unterscheiden, da, wie
bei allem Lebendigen, zahllose Übergänge und Halb-
schatten von einem Typus zum andern überleiten. Jede
krasse Formulierung ist daher falsch. Wir müssen aber
gleichwohl versuchen, diese polaren Erscheinungsformen
des Genialen irgendwie zu deuten, da wir im andern
Falle die wichtigsten Bahnbrecher der geistigen und der
künstlerischen Menschheitsentwicklung nicht erfassen
könnten.
Auf jeden Fall -- und das ist der erste Unterschied --
versucht ein Typus wie Archimedes, obgleich er den
Zauber reinster Formgebung kennt, die Wirklichkeit
nicht bloß durch Formzauber, sondern auch durch
Inhalte zu bändigen und zu überwinden. Er will er-
kennen. Bis zu den letzten Tiefen. Und ruht nicht einen
Augenblick im Werk. Er stürmt vielmehr mit einer Art
von trotziger Ungeduld von einer Erkenntnis zur andern,
wobei sein Werk mehr als einmal den Stempel des
Unvollendeten, Sprunghaften, Unzusammenhangenden
trägt. Der andre Typus manifestiert sich dagegen oft
an einem einzigen Werk, das bis zu vollkommen un-
angreifbarer Vollendung vorgetrieben ist, sich von
seinem Schöpfer löst, als sei es ein eigenlebendiges Wesen,
und das eben dadurch eine gleichsam dem Werk selbst
innewohnende Ewigkeit erringt.
Mag man nun, wie es spater geschah, von klassischer
und romantischer Haltung sprechen, mag man den
Unterschied mit venezianischen Kunstausdrücken als
Furia und Morbidezza, also sozusagen als rasenden Vor-
wärtssturm oder verrauchende, beinahe krankliche
Weichheit charakterisieren, mag man von Inhalt und
Form, von Dynamik und Statik, von Sein und Werden,
80
von Harmonie und Formauflösung, von göttlicher Ruhe
und Titanentrotz, von euklidischer und faustischer Seele,
von apollinischer und dionysischer Veranlagung sprechen:
so bleibt stets als Wirklichkeitsrest das Bestehen dieser
zwei Typen in allen Kulturen. Um zu verdeutlichen: so
wie sich Archimedes und Apollonios zueinander ver-
halten, so verhalten sich etwa Leibniz zu Euler, oder
Richard Wagner zu Mozart und Leonardo da Vinci zu
Raffael oder Tintoretto zu Tizian.
Es ist kein Relativismus, wenn behauptet wird, daß
beide Typen für die Entwicklung notwendig sind und
beide, jeder auf seinem Platze, gleichen Ewigkeitsgehalt
erzeugen und gleicherweise neue Kategorien des Welt-
verstehens erschließen können, was nach Georg Simmel
das wahre Genie charakterisiert. Daher ist es auch sehr
anfechtbar, zu behaupten, nur die Form sei ewig. Was
heißt ewig? Ist ewig das, was unverändert die Zeit über-
dauert, oder das, was sich als Bestandteil und Stufe des
Weiterkommens spater herausstellt oder sich bereits so
tief in den Kulturbesitz, bis in die Sprache und ins
Denken hinein, durchgesenkt hat, daß wir sein Vor-
handensein kaum noch bemerken? Die Formalisten
werden die erste, die Inhaltsbringer die zweite Wirkung
erzielen, wobei natürlich weder den ersten der Inhalt noch
den zweiten irgendeine Form abgesprochen werden soll.
Wir reden ja hier von den obersten Gipfelleistungen.
Nun wollten wir dies alles bloß festlegen, um das Genie
eines Archimedes vom Genie des Apollonios abgrenzen
zu können. Archimedes heißt allenthalben der größte
Mathematiker des Altertums, manchmal sogar der größte
Mathematiker aller Zeiten. Apollonios aber wurde bereits
in der späteren Antike der „große Geometer“ genannt, ein
Beiname, den er durch die Jahrtausende ungeschmälert
beibehielt. War also der eine bloß ein großer, der andre
dagegen ein größter Bahnbrecher? Oder war Apollonios
gar nur ein mittelmäßiger Abschreiber, ein Zusammen-
fasser, ein Kompilator? Während Archimedes ein origi-
naler Entdecker von viel umfassenderem Horizont war?
81
Wir werden später die Wirkung beider Epochenbringer
bei der Geburt unsrer gegenwärtigen Mathematik sehen.
Sie haben beide mitgewirkt. Und es wird behauptet, daß
Archimedes gleichsam das Unendlichkeitsdenken, Apol-
lonios dagegen den Koordinatenbegriff eingeführt habe,
beides unerläßliche Voraussetzungen für die Entstehung
und den Ausbau unserer „höheren Mathematik“.
Wo Urteile und Wertungen nicht eindeutig sind, dort
ist es sicherlich am besten, dem Problem tiefer nachzu-
spüren, da von vornherein ein Wust von Mißverständ-
nissen und kulturkritischen Parteistandpunkten zu er-
warten ist. Wir werden also in unsrer bisherigen Art
zuerst die historische Lage des Apollonios ansehen, um
zu seinem Werk irgendeine Stellung gewinnen zu können.
Apollonios war ein jüngerer Zeitgenosse des Archi-
medes. Er dürfte etwa 40 Jahre alt gewesen sein, als
Archimedes dem Mordstahl zum Opfer fiel. Und er soll
um diese Zeit schon eine sehr bedeutende Leistung hinter
sich gehabt haben. Apollonios war typischer Alexan-
driner, war ein Schüler der ersten Euklidschüler und
verbrachte auch einen großen Teil seines Lebens im
Museion zu Alexandria. Nur in späten Jahren dürfte er
nach Pergamon übersiedelt sein. Er hat, wie viele der
rein formalen Virtuosen, eigentlich keine Biographie und
kein Schicksal, das uns aufrütteln oder ergreifen würde.
Er lebte, schuf und starb. Und über die inneren Kämpfe,
Peripetien und Stürme derartiger Menschen sind wir
gewöhnlich nicht unterrichtet. Es mag da, ebenso wie
bei Euklid, bei Raffael, bei Tizian, bei Euler, bei Aristo-
teles ein geheimes Gesetz walten. Dieser Formtypus ist
angesehen, geehrt, führt ein ruhiges, geklärtes, manchmal
allerdings auch bescheidenes Leben, und die Menschen
bemächtigen sich in erster Reihe des Werkes und ver-
gessen darüber den Schöpfer; ohne daß der Schöpfer sich
wesentlich bemüht, diese Einstellımg der Mitwelt zu
korrigieren. Er tritt allenfalls nur hervor, um die Stören-
friede der Form, die Männer des dynamisch-promethef
schen.Typs, selbst oder unter Mithilfe pedantischer und
82
puritanischer Verehrer in die Schranken zu weisen. Oder
aber er ist so sanften Gemütes, daß er auch dies unter-
laßt und ganz in seiner Formwelt vergraben bleibt.
Auf jeden Fall setzte sich der Himmelssturm eines
Archimedes bei Apollonios nicht fort. Wir hören bloß,
daß Apollonios in leiser, aber doch irgendwie verletzender
Art die Archimedischen Forschungen angriff, worauf
Archimedes in seiner „Rinderaufgabe“ ebenso leise und
beinahe ironisch geantwortet haben soll. Apollonios hatte
nämlich einen besseren N aherungswert für az als Archi-
medes gefunden und hatte auch nach Bekanntwerden
der „Sandzahl“ eine Schrift über große Zahlen verfaßt,
die das Periodensystem des Archimedes kritisierte. Nun
habe Archimedes, so vermutet Fr. Hultsch in der „Real-
Enzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft“*),
durch Aufstellung des Rinderproblems zeigen wollen,
daß es auch Aufgaben gebe, die selbst einem Apollonios
große Schwierigkeiten machen müßten. Die Lösung
dieses Gleichungssystems ergibt namlich nach neuesten
Forschungen Zahlen mit über 200.000 Stellen in dezimaler
Schreibung.
Wir erwähnten, daß Apollonios die eigentliche Archi-
medische Mathematik nicht fortsetzte. Dies muß mit
aller Schärfe betont werden. Apollonios kümmerte sich
nicht darum, daß ringsum der Erdkreis wankte, daß
während seiner Lebenszeit die Entscheidungskämpfe um
die Weltherrschaft der Römer stattfanden und die äußere
Macht des Hellenentums zerbrach. Er wurde durch das
Flammenzeichen von Syrakus nicht aufgeschreckt, wurde
durch die Erfindertätigkeit des Archimedes nicht wach-
gerüttelt, sondern er setzte die hellenische Mathematik,
die eleatisch-euklidische Geometrie fort und hob sie zu
endgültiger Vollendung. Wobei er sich durchaus nicht
allen Neuerungen verschloß, sondern im Gegenteil etwa
in der Zahlenlehre zu Erkenntnissen vordrang, die
einer starken Annäherung an unser Stellenwertsystem
gleichen.
*) Artikel „Archimedes“, Bd. 2, 1896
83
Seine eigentlichste epochale Virtuosenleistung aber
sind die berühmten acht Bücher über die Kegelschnitte,
die uns fast vollständig erhalten sind und die eine der-
artig staunenswerte Vollständigkeit zeigen, daß unser
letzter Wahnglaube an die Naivität der griechischen
Mathematiker schwinden muß. Der Begriff eines „Alex-
andriners“ ist ein Kulturbegriff merkwürdiger Prägung.
Es genügen Gestalten Wie Euklid, Eratosthenes und
Apollonios, um ihn aufzustellen. Diese glasklare Ruhe
des Forschers, dieser Überblick über die eigene Welt und
diese Vollendung innerhalb des gegebenen Kosmos wurde
kaum jemals Wieder erreicht. Das Werk der Alexan-
driner mußte den Anschein erwecken, daß der Gipfel
des Wissens erreicht sei und daß nichts mehr zu leisten
übrig bleibe. Gerade aber solche Leistung ist neben ihrer
Größe ungeheuer gefährlich für den Weiteren Aufstieg
der Kultur. Denn wie sehr der alexandrinische Voll-
endungsglaube trügerisch War, stellte sich später deut-
lich heraus. Allerdings erst nach einer Schaffenspause
der Menschheit, die sich höchst verschwenderisch über
zahlreiche Jahrhunderte und mehrere Kulturkreise er-
streckte, bis plötzlich aus Regionen, die man bisher für
abwegig gehalten hatte, die neue Entwicklung in un-
erwartetster Form emporschoß.
Apollonios also knüpfte, Wie Wir sagten, mit einigen
nebensächlichen Konzessionen an die große hellenisch-
euklidische Tradition der Mathematik nicht nur äußerlich,
sondern tiefinnerlich an und führte das Spezialgebiet der
Kurven zweiter Ordnung oder der Kegelschnitte zu einer
durch Jahrtausende nicht mehr übertroffenen Vollendung.
Gewiß, die Kegelschnitte Waren bereits innerhalb der
platonischen Akademie als Hilfsmittel der Würfelver-
dopplung entdeckt worden und Wurden auch bereits durclı
Euklid in einer uns verlorengegangenen Schrift behandelt.
Doch zeigte die Tatsache, daß noch Archimedes die alten
Bezeichnungen des Menaechmos (viertes vorchristliches
Jahrhundert) verwendet, ganz deutlich, daß auch Euklid
durchaus nicht auf der Höhe der Erkenntnisse des
84
Apollonios gestanden haben kann. Menaechmos und mit
ihm alle Nachfolger bis einschließlich Archimedes Waren
sich über das Zustandekommen und die Beziehungen der
Kegelschnitte noch nicht ganz klar und definierten dem-
gemäß die Parabel als einen Schnitt einer Ebene senk-
recht zur Seitenlinie eines Kegels, dessen Seiten im
Scheitel einen rechten Winkel bildeten. Ein in gleicher
Art geführter Schnitt an einem stumpfwinkligen Kegel
dagegen ergebe eine Hyperbel, an einem spitzwinkligen
Kegel eine Ellipse. Dabei Wurden die Ausdrücke Parabel,
Hyperbel und Ellipse nicht gebraucht, sondern man
sprach vom „Schnitt des rechtwinkligen Kegels“ usf.
Dies alles, obgleich man viele Eigenschaften der Kegel-
schnittlinien kannte und sogar schon zur Zeit Platons
mechanische Vorrichtungen zur Erzeugung von solchen
Kurven (insbesondere der Parabel) besaß. Es gab also
Parabelzirkel und man wußte über manches Verhaltnis
innerhalb dieser Kurven genau Bescheid.
Apollonios verallgemeinert gleich am Beginn seines
Buches die Lehre von den Kegelschnitten, soweit es
damals überhaupt möglich War. Er laßt eine Gerade,
die in einem fixen Punkt festgehalten Wird und beliebig
nach beiden Seiten verlängert werden kann, den Um-
fang eines Kreises entlang gleiten, bis sie Wieder in ihre
Ausgangslage zurückkehrt. Dadurch erzeugt er einen
Rotationskegel, allenfalls sogar einen Doppelkegel, und
zeigt nun sofort, daß sich vier Arten von Schnitten aus
einem und demselben spitzwinkligen Kegel gewinnen
lassen: der Kreis, die Ellipse, die Parabel und die
Hyperbel. Die Art der Kurve hänge lediglich von der
Neigung der Schnittebene zur Kegelseite ab. Damit ist
die auch heute noch gültige Erzeugung der Kegelschnitte
als Schnitte durch einen und denselben Kegel fest-
gestellt. N un ist diese, man könnte sagen, sinnfällige Art
der Kurvenerzeugung durchaus nicht die allein denkbare.
Ganz unabhängig von einem wirklichen Kegel stehen
hinter diesen Kurven verschiedene Erzeugungsmöglich-
keiten als sogenannte geometrische Örter, die sich, rein
85
planimetrisch, aus den Eigenschaften der erwähnten
Kurven ergeben und die auf uralte Aufgaben der geo-
metrischen Algebra bis zu Pythagoras zurückführen.
Zum Verständnis des Begriffes „geometrischer Ort“ sei
angemerkt, daß dieses Forschungsziel schon lange in der
hellenischen Geometrie bekannt war und einen Inbegriff
von Abständen oder Verhältnissen bedeutet. Die Auf-
fassung eines Gebildes als „geometrischer Ort“ entspringt
der eleatisch-statischen Betrachtungsweise. So ist etwa
ein Kreis der „geometrische Ort“ aller Punkte, die von
einem und demselben Punkt (dem Mittelpunkt) einen
gleich großen Abstand haben. Und eine Winkelhalbie-
rende ist der geometrische Ort aller Punkte, die
jederzeit von beiden Schenkeln des Winkels gleich weit
abstehen, usf.
Natürlich gibt es viel kompliziertere Bedingungen für
geometrische Örter, wie wir es schon bei der archimedi-
schen Spirale gezeigt haben, als wir mit Czwalina ihre
Definition in euklidischer Sprache Wiederzugeben ver-
suchten. Damit sind wir so weit, ausführen zu können,
daß die Kegelschnittskurven erst durch Apollonios ihre
heutigen Namen erhielten und warum ihnen gerade
diese Namen beigelegt wurden. Darüber hinaus aber
werden wir zu erörtern haben, wieso man behaupten
konnte, Apollonios von Pergä sei gleichsam der erste
Entdecker der Koordinatengeometrie gewesen.
Zu diesem Zweck müssen wir auf die drei Arten der
Flächenanlegung zurückgreifen, die schon dem Pytha-
goras bekannt gewesen bzw. von ihm entdeckt worden
sein sollen. Die erste Aufgabe, die parabolische Flächen-
anlegung, verlangt, daß an die gegebene Strecke A B
ein Rechteck so angelegt werde, daß sein Flächeninhalt
einer gegebenen Fläche, etwa dem Quadrat über ED,
gleich ist. Es besteht also die Flächenbeziehung E†D2 =
= A B~AD. Wemı wir nun Strecke A B als q bezeichnen
und konstant halten, während wir ED sich beliebig ver-
ändern lassen, dann muß sich naturgemäß auch AD
verändern, um unsrer eingangs aufgestellten Bedingung
86
zu genügen. Nennen wir nun die Strecke AD = x und
DE = y, dann drückt sich unsre Bedingung als yz = q x
aus, was mit der heute gebräuchlichen „Scheitelgleichung“
einer Parabel bei rechtwinkligen Koordinaten genau
übereinstimmt. Wir Heutigen setzen allerdings aus ge-
wissen Gründen für q die Größe 2 p, was aber am Wesen
der Sache gar nichts ändert, da es sich dabei um eine
konstante Größe handelt.
 
 
Fig. 3/4
 
 
Es sei aber schon an dieser Stelle, um jedes Mißver-
standnis auszuschließen, festgestellt, daß bei Apollonios
durchaus nicht allgemeine Koordinaten gebraucht werden,
die als Achsenkreuz oder als Bezugssystem, unabhangig
von jeder Figur, vorhanden sind und in die dann spater
behufs analytischer Untersuchung Kurven hineingelegt
Werden. Apollonios geht vielmehr genau in entgegen-
gesetzter Art vor. Bei ihm ist die Figur das Primäre, und
bloß gewisse, innerhalb der Figur gelegene oder zu-
mindest mit ihr in unlösbarem Zusammenhang stehende
Hilfslinien ergeben, rein planimetrisch, gewisse Pro-
portionen und die ganze Figur unterliegt gewissen
87
Flächeneigenschaften. Als Ergebnis ist dann die Figur
durch diese inneren Beziehungen definiert. Also noch
einmal: Apollonios gebraucht durchaus keine Koordinaten
im cartesischen Sinne, er definiert vielmehr die Kegel-
schnittkurven durch Flachenbeziehungen, Wobei er die
ausführlich durch Euklid behandelten Aufgaben der
„Anlegung“ als identisch mit den Kegelschnitten er-
kennt. Dies War sein unvergangliches Verdienst. Denn
es zeigt sich, daß der „geometrische Ort“, der dieser
Definitionsbedingung entspricht, die Kurve also, die
durch den Punkt E beschrieben Wird, in unserem ersten
Fall eine Parabel ist, Wenn DE von Null bis zu einem
beliebigen Streckenlängenbetrag Wachst.
Der Vollständigkeit halber zeigen Wir noch die beiden
anderen Flachenanlegungen. Wiederum ist eine Strecke
A1 B1 und das Quadrat über E1 D1 gegeben. Dazu
kommt noch eine gegebene Strecke A1 F1, die mit A1 B1
das Rechteck A1 B1 G1 F1 bildet. Es soll nun ein Recht-
eck A1 B1 C1 D1 gefunden Werden, das erst um ein dem
Rechteck A1 B1 G1 F1 ähnliches Rechteck B1 O1 H1 J 1
vermindert (elleipsis, defectus) Werden muß, um ein dem
Quadrat über D1 E1 flachengleiches Rechteck A1 D1 H1 J 1
zu liefern. Da nun die Ähnlichkeit von B1 C1 H1 J 1 mit
A1 F1 B1 G1 dadurch gegeben ist, daß Punkt J 1 auf der
Diagonale B1 F1 liegt, so besteht die Proportion
C1J1:B1C1 =F1G1: B1G1,
daher ist A
O1 '__' e _"`”*> -
gs
5° P
.51 §1
9
3.
Hs P
.P1 :1›
50
Nach der Voraussetzung muß also sein
E1 D12 = A1 B1-A1 D, -_ A1 1), A1 12 '1j§1B1-_
1 1
Wenn Wir nun A1 B1 Wieder mit q, A1 D1 mit x und
D1 E1 mit y und schließlich A1 F1 mit s bezeichnen, dann
ergibt sich y2 = q x - x xsq, Was sich für uns als Schei-
telgleichung der Ellipse enthüllt.
88
Untersucht man endlich die als hyperbolische (über-
schießende) Flächenanlegung bekannte Aufgabe, bei der
zu einem Rechteck A2 B2 C2 D2 ein diesem Reøhteßk
ähnliches Stück B2 O2 H2 J 2 hinzugefügt (Hyperbole)
werden muß, damit ein dem Quadrat E2 D22 flächen-
gleiches Rechteck A2 H2 J 2 D2 entsteht, dann ändert sich
gegenüber der vorhergegangenen Aufgabe nur das Vor-
zeichen und wir erhalten
E2 D22 = A2 B2-A2 D2 + .42 D2
3'
„E“ »Ü
.P1 hl
„eu
Dieses „Überschießen“ (Hyperbole, excessus) ergibt
die Definition der Hyperbel, wenn wir wieder unsere
festen Linien durch variable Größen ersetzen und die
konstanten Größen g und s nennen. Wir erhalten dann
die Scheitelgleichung der Hyperbel als yz = q cv + x' wsq
die wir, ebenso wie die Ellipsengleichung, durch ge-
eignete Umformungen auf die uns heute geläufigen
analytischen Funktionen für Ellipse und I-Iyperbel
bringen können.
Diese Tat ist aber, wie erwähnt, bloß der Beginn der
Untersuchung der Kegelschnitte durch Apollonios. Dar-
über hinaus findet er fast alle wichtigen Eigenschaften
dieser Kurven, kennt bereits den zweiten Ast der Hy-
perbel (den „Gegenschnitt“), erforscht Durchmesser,
Brennpunkte und Tangenten und weiß über den Schnitt
mehrerer Kurven, über ihre Ähnlichkeit usf., genau
Bescheid. Ja, er nimmt sogar gewisse Erkenntnisse der
projektiven oder „neuen“ Geometrie vorweg, die eines
der reifsten Geistesprodukte des neunzehnten Jahr-
hunderts ist.
Bei solcher Leistungsfülle kann es uns nicht in Er-
staunen setzen, daß er auch die Asymptoten der Hyperbel
kennt und ihre Eigenschaften erörtert. Bekanntlich sind
Asymptoten gerade Linien, die sich einer andern Linie
stets zunehmend nähern, ohne sie aber je zu berühren
oder zu schneiden.
89
Wir müssen nun, abgesehen von der speziellen Leistung
des Apollonios, auf die wir, dem Charakter unsrer Epochen-
geschichte entsprechend, nicht näher eingehen können,
erörtern, warum die Behandlung der Kegelschnittskurven
an und für sich für die Mathematik von einer so weit-
reichenden Bedeutung ist, daß sie überhaupt als Epoche
bezeichnet werden kann. Dazu aber müssen wir über
Kurven im allgemeinen und über den Kegel im besonderen
sprechen.
Dem oberflächlichen und über tiefere Zusammenhänge
nicht aufgeklärten Betrachter wird es wohl einleuchten,
daß man sich eingehend mit einer Kurve wie dem Kreis
befaßt. Er ist schließlich gleichsam das Ideal der Regel-
mäßigkeit und ist außerdem in hundert Spielarten tief
in der Natur verwurzelt. Insbesondere für Forscher, die
überzeugt waren, daß sowohl alle Himmelskörper Kugel-
gestalt hätten und sich zudem noch in Kreisbahnen
bewegten. Aber auch Technik und Architektur stießen
bei jeder Gelegenheit auf Kreisfornien. Achsen, Räder,
Schiffsmasten, Säulen, Sitzanordnungen von Theatern*),
um nur allereinfachste Tatsachen anzuführen. Dazu kam
noch der Zirkel als solcher. Viel von dem, was praktisch
ausgeführt werden sollte, wurde vorher gezeichnet. Und
für die Zeichnung benutzte man Lineal und Zirkel, so daß
durch diese Art des Konstruierens allein schon fast
überall die Kreisform offen oder verdeckt auftreten mußte.
Und es kann an dieser Stelle die Frage nicht unterdrückt
werden, ob nicht noch heute sowohl die Konstruktione-
zeichnung als die spätere Ausführung durch kreisende
Werkzeugmaschinen die Formgebung in der Technik
wesentlich beeinflußt und viele darüber hinausreichende
Formen unterdrückt oder übersehen läßt, die sowohl
praktischer als wirksamer wären.
_*) Man befaßte sich im Altertum sehr eingehend mit
diesem_ Problem, analysierte es geometrisch und entdeckte
angeblich dabei die Gleichheit sämtlicher über einer Sehne
stehenden Peripheriewinkel, woraus folgt, daß alle in einem
kreisförmigen Theater Sitzenden die Bühne unter gleich-
geöffnetem Sehwinkel erblicken.
90
Das also ist klar. Warum aber setzte ein so heißes
Bemühen ein, auch andre Kurven zu erforschen? War
dies etwa nichts andres als geometrische Expansionslust
hellenischer Mathematiker? Oder gibt es da tiefere Zu-
sammenhange? Wir antworten sofort, daß es mehrere
derartige Zusammenhange gibt, von denen wir einige
schon aufgezeigt haben. In einer eigentümlich konver-
genten Entwicklung trafen gerade bei Apollonios zwei
rein mathematische Überlegungsreihen in der Lehre von
den Kegelschnitten zusammen. Nämlich das Problem
der Auflösung quadratischer Gleichungen, wie es sich
seit Pythagoras alS „geometrische Algebra“ durch die
Methode der Flachenanlegung entwickelt hatte, und die
Gruppe der drei „klassischen Probleme“, die zu ihrer
Auflösung höhere als quadratische Gleichungen erforder-
lich machten, die man wieder seit der platonischen
Schule durch den Schnitt mehrerer Kegelschnitte gewann
und die in letzter Linie die Entdeckung der Kegelschnitts-
kurven veranlaßt hatten. Dazu war aber noch die Lehre
von den stetigen Proportionen und von den geometrischen
Örtern getreten, in welch letzterer unausgesprochen eine
vorläufig noch statische Auffassung des Funktions-
begriffes lag. Denn eine Kurve, die diesen oder jenen
algebraischen Bedingungen entspricht, und umgekehrt
wieder eine algebraische Bedingung, der jederzeit dieser
oder jener geometrische Ort entsprechen muß, ist im
Wesen nichts andres als eine Funktion und ihre Bild-
kurve, insbesondere dann, wenn man nur eine Größe als
veränderlich ansieht und eine andre von ihr abhängen
laßt.
Um nicht falsche Vorstellungen zu erwecken, sei be-
tont, daß es noch einiger grundlegender Riesenschritte
bedurfte, um das Bewußtsein dieser tiefen Zusammen-
hänge ins volle Licht der Klarheit zu stellen. Es ist aber
unleugbar, daß das Werk des Apollonios all diese Dinge
im Keim bereits enthielt und daß es tatsachlich eine
Verbindung, Zuordnung oder Koordinierung zwischen
Algebra und Geometrie durchführte, die sich allerdings
91
deshalb nicht voll äußern konnte, weil die hellenische
Algebra ebenfalls in Geometrie gehüllt war. Dadurch
aber ergab sich der eigentümliche Zustand, daß zwischen
der Algebra geometrischer Prägung und der eigentlichen
Geometrie noch eine weitere Schicht rein geometrischer
Beziehungen sich herausstellte, die oft zu überraschenden
Entdeckungen führte. Es ist nämlich ein großer Unter-
schied zwischen der geometrischen Analysis der Gegen-
wart und der der Griechen. Wir Heutigen - das werden
wir noch ausführlich erörtern -~ stellen in unsrer al-
gebraischen Buchstabendarstellung symbolisch eine
Funktion auf und gewinnen in der scheinbar Weltenweit
hiervon verschiedenen Form geometrischer Abbildung
dazu das koordinierte Gebilde. Apollonios dagegen, um
konkret zu sprechen, zeichnete eine Ellipse und ver-
schmolz mit dieser Ellipse die algebraisch-geometrische
Zeichnung der betreffenden Anlegungsaufgabe, wobei die
erste Zeichnung Geometrie, die zweite aber Algebra be-
deutete. Dadurch hatte er allerdings nicht die Vorteile
des algebraischen Algorithmus, der algebraischen Denk-
maschine, konnte aber anderseits das Geometrische des
einen Gebildes mit dem Geometrischen des andern
Gebildes zwanglos verbinden und dadurch neue Zu-
sammenhänge gewinnen.
Nun ist diese Tatsache aber für die Kegelschnitte
an und für sich nicht charakteristisch. Denn die
gleiche Methode ware, allerdings mit schwer über-
Windlichen Komplikationen, auch für höhere Kurven
denkmöglich.
Worin also liegt das Hauptmoment, das gerade den
Kegelschnitten ihren epochalen und bevorzugten Platz
unter allen möglichen Kurven einraumt? Gut, wir wissen,
daß sie gleichsam den ganzen Bereich der zweitgradigen
Gleichungen abbildmäßig erschöpfen. Das hat Apollonios
schon in seinen Definitionen dieser Kurven festgestellt.
Wir fügen auch bei, daß sie viel später in ihrer kosmischen
Bedeutung als Bahnen von Planeten und Kometen, als
Rotationsform von Himmelskörpern und als Bahn des
92
Wurfes schwerer Körper erkannt Wurden. Das aber ist
noch nicht alles. Die bisher noch unausgesprochene
Hauptwichtigkeit der Kegelschnittskurven liegt tief im
Sinnesapparat des Menschen selbst begründet. Die Er-
fahrungsmöglichkeit des Menschen ist vor allem durch
sein Auge beeinflußt. Er ist ein Augengeschöpf kat-
exoohen. Und die Lichtstrahlen, die in das Auge ein-
dringen oder nach der andern Richtung als Sehstrahlen
das Auge verlassen, um die Welt des Auges zu kon-
stituieren, also all das zu apperzipieren, Was Wir sehen,
bilden nach den Gesetzen der Brechung und Strahlen-
Vereinigung in einer bikonvexen Linse einen Kegel. Jedes
Abbild der für uns nur durch diesen Strahlenkegel ver-
mittelten optischen Wirklichkeit stellt sich für uns als
ein Kegelschnitt dar, aller Perspektive und Projektion
muß die Beziehung von Kegel und Schnittebene unent-
rinnbar zugrunde liegen. Und es ist keine Übertreibung,
Wenn unsre ganze sichtbare Welt als „Kegelschnitts-
Welt“ bezeichnet Wurde.
Die Ansatze solcher Erkenntnis, die uns erst im neun-
zehnten Jahrhundert durch die „neue“ oder „projektive“
Geometrie bis zu den letzten Konsequenzen vermittelt
Wurde, finden sich schon bei Apollonios von Perga, indem
er bereits mit Strahlenbüscheln operiert und ihren Zu-
sammenhang mit den Kegelschnitten erörtert.
Es ist also durchaus unangebracht, die Kegelschnitts-
lehre des Apollonios als „Spezialuntersuchung“, die
gleichsam nur nebensachliche Bedeutung oder artistischen
Reiz hätte, abzutun. Gewiß, sie ist eine artistische,
geradezu eine Virtuosenleistung. Dieses Werk ist auch
die erste und bis zu ihrer Zeit umfassendste Spezial-
untersuchung der Mathematik, soweit wir unterrichtet
sind. Aber ihr Gegenstand ist darüber hinaus, wie wir
darzulegen versuchten, von geradezu ungeheurer und
einschneidender Wichtigkeit. Dies alles ganz abgesehen
von den Folgen, die sich für die Entwicklung der Mathe-
matik aus den methodischen Entdeckungen und Ahnun-
gen des Apollonios ganz allgemein ergaben.
93
Noch ein sehr wichtiger Punkt darf nicht unberührt
gelassen werden. Er betrifft die Erforschung der
Asymptoten. Wie bekannt, sind Asymptoten in der
Kegelschnittslehre die geraden Linien, die sich unter
gewissen Bedingungen den beiden Asten der Hyperbel
bis in die Unendlichkeit zunehmend nähern, ohne sie
jedoch irgend einmal als Tangente zu berühren oder sie
als Schnittlinie zu schneiden. Die bloße Existenz solcher
Linien, ob sie nun erst durch Apollonios entdeckt wurden
oder ob sie schon vor ihm bekannt waren, brachte neuer-
lich von zwei Seiten her das ganze Gebäude euklidischer
Geisteskultur ins Schwanken. Erstens war damit der
im Hellenentum so streng Verpönte und stets zurück-
geschobene Begriff des Unendlichen wieder auf die Tages-
ordnung gekommen. Gut, man konnte auch hier be-
schönigend von „beliebiger“ Annäherung sprechen. Wo
aber nahm diese beliebige Annäherung schließlich ihr
Ende? Und es wurde dem Geometer erst so recht be-
wußt, daß die Parabel und die Hyperbel offene Kurven
waren, die sich irgendwohin ins Grenzenlose verloren,
von denen man also wohl an jeder beliebigen Stelle das
Gesetz ihrer Gestalt, jedoch niemals die Gestalt selbst
kannte. Es tauchte aber noch ein zweites gefährliches
Bedenken auf. Und dieses Bedenken betraf das Postulat
der Parallelen. Es hatte sich nämlich plötzlich zwischen
die Linien, die einander schnitten und solche, die von-
einander stets gleichen Abstand hielten, einander also
nicht schnitten, eine dritte beunruhigende Gattung von
Linien eingeschoben, die einander weder schnitten noch
aber auch voneinander stets den gleichen Abstand
hielten. In der euklidischen Fassung des Parallelen-
postulats war das Charakteristikum für einen in Sicher-
heit zu erwartenden Schnitt zweier Linien ihre gegen-
seitige Annäherung, der gleichbleibende Abstand dagegen
war die Bedingung des Nichtschneidens oder des Par-
allelismus. Durch die Asymptoten stellte es sich aber
plötzlich heraus, daß auch bei Annäherung durchaus
nicht unter allen Umständen irgendwann ein Schnitt-
94
punkt erfolgen mußte. Gut, man konnte einwenden, es
handle sich bei Euklid um zwei Gerade, bei den Asym-
ptoten dagegen um eine Kurve und um eine Gerade, die
also recht wohl anderen Gesetzen folgen konnten als
zwei Gerade. Aber es war trotzdem durch die Asym-
ptoten eine schwere Beunruhigung eingetreten, die über-
haupt durch weitere Jahrtausende gerade das Parallelen-
postulat stets wieder zur Diskussion stellten sollte. Denn
dieses Postulat -- und hier liegt wieder ein sehr ver-
borgener Zusammenhang -- widerspricht irgendwie, ohne
daß man sich gewöhnlich darüber Rechenschaft ablegt,
dem Augenschein. Die Welt des Auges, die Kegelwelt,
wie wir sie früher nannten, kennt keine Parallelen.
Niemand, der durch Augen die Welt erfaßt, hat, so sonder-
bar das klingen mag, Parallelen in „Wirklichkeit“ ge-
sehen. Parallele Gerade sind eine Forderung, eine Fiktion,
aber keine optisch wahrnehmbare Tatsache. Gewiß, sie
können real existieren, können durch Abstandsmessung
geprüft und bestätigt werden, etwa, wie es möglich ist,
ein Eisenbahngeleise bis in unendliche Fernen zu legen,
wenn man unendliche Raume und Zeiten zur Verfügung
hätte. Aber sie liegen außerhalb jeder Wahrnehmungs-
grenze.
Apollonios von Pergä, der „große Geometer“, der
Virtuose unter den althellenischen Meistern der Mathe-
matik, mit dem das eigentliche Heldenzeitalter antiker
Mathematik seinen Abschluß findet, hat also, jenseits
dieser Virtuosität, mehr als nur ein grundlegendes Pro-
blem der Mathematik zur Diskussion gestellt. Und wenn
er auch in gewissem Sinn innerhalb der griechischen
Geometrie einen Schlußstein setzte, so wurde, wie die
Zukunft der Entwicklung zeigte, dieser vermeintliche
Schlußstein recht eigentlich wieder der Grundstein für
späteren Höherbau.
95
Fünftes Kapitel
DIOPHANTOS
Mathematik und Schrift
Wenn unsere Untersuchung auch durchaus nicht eine
lückenlose Kontinuität der Entwicklung geben will,
sondern gerade das Gegenteil einer solchen Darstellung
anstrebt, indem sie nur die Epochen der Mathematik
aufzeigt, so bleibt darüber hinaus gleichwohl die all-
gemein kulturhistorische Tatsache zu erörtern, warum
manchmal erst nach einem leeren Zwischenraum von
Jahrhunderten der weitere Aufstieg einer Wissenschaft
stattfindet oder stattfinden kann.
Dabei ist es für die Zeitgenossen selbst oft unmöglich,
diese Leere zu empfinden oder wahrzunehmen. Denn
das durch die großen Entdecker zur Diskussion gestellte
Problemmaterial wird aufgearbeitet, erweitert, Verall-
gemeinert und gesichtet. Und es kann sehr Wohl ge-
schehen, daß noch bestehende Lücken ausgefüllt werden
und Entdeckungen zu dieser Ausfüllung erforderlich sind,
die rein qualitativ hinter den epochemachenden Ent-
deckungen der klassischen Zeit nicht zurückstehen,
sondern nur relativ zu der wissenschaftlichen Gesamtlage
nicht epochal wirken. Hierbei handelt es sich eben um
das Problem des Epigonentums überhaupt. Epigone zu
sein ist nicht bloß eine mindere Fähigkeit, sondern in
vielen Fällen bloß das Unglück, später das Licht der
Welt erblickt zu haben. Die Tatsache, daß innerhalb
eines Kulturkreises, der, durch tausend Komponenten
bedingt, nicht über sich selbst hinaus kann, nichts mehr
zu leisten ist, dürfte sich in vielen Fällen nicht als
Schuld und Unfähigkeit, sondern als Schicksal des
einzelnen herausstellen lassen.
Doch über derart verwickelte und undurchsichtige
Fragen, die außerdem noch eine geschichtsmorphologische
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Untersuchung voraussetzen, ob es wirklich so etwas
gibt Wie Jugend, Vollreife und Vergreisung einer Kultur,
kann man kaum Allgemeingültiges aussagen, wenn man
die Tatsachen der Geschichte nicht vergewaltigen Will.
Wozu noch die Weitere Frage gehört, ob diese Ent-
wicklungsstufen an bestimmte Völker oder an Kultur-
kreise gebunden sind. Was aber sind Kulturkreise ohne
die Basis konkreter Völker? Es ist, nicht bloß von
Oswald Spengler, über derartige Problemgruppen viel
diskutiert worden. Wir können uns in so umfangreiche
Untersuchungen nicht verlieren, ohne unsre Hauptauf-
gabe zu gefährden. Wir können aber anderseits wieder
gerade an der historischen Stelle, an der wir eben nach
Apollonios angelangt sind, über das auffallende Phänomen
plötzlicher mathematischer Dekadenz nicht schweigend
hinweggehen. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß
eine eigentliche Epoche der Mathematik erst wieder bei
Diophantos behauptet werden kann.
Wenn man scharf formulieren will, muß man fest-
stellen, daß die Mathematik vom zweiten vorchristlichen
bis ins dritte nachchristliche Jahrhundert hinein mit
einer einzigen Ausnahme nichts andres als die Verwaltung
des klassischen Erbes betreute. Und zwar waren es aus-
schließlich Griechen, die sich dieser Aufgabe unterzogen.
Die römische Mathematik kam dagegen überhaupt nicht
in Betracht. Das klassische Rom war ein Volk militanter
Juristen, das in einer gewissen Geringschätzung der
Gelehrsamkeit Sachverständige für nichtjuristische Ge-
biete sich auf Grund seiner Machtfülle aus aller Welt
herbeiholte, wenn es solche für Zwecke der Technik und
der Architektur oder für das Kriegswesen brauchte. Die
große Zeit der römischen Weltherrschaft vom Ende der
Punischen Kriege bis zum Ende der eigentlichen Cäsaren-
periode gehört daher zu den mathematisch sterilsten
Zeiten des bisher überblickbaren Geschichtsverlaufes.
Wir erwähnten eine einzige Ausnahme. Sie betrifft die
Entwicklung der Trigonometrie und wir werden darüber
noch zu sprechen haben.
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Wir besteigen also wieder einmal unsern Zauber-
teppich und knüpfen an Apollonios und an seine Durch-
forschung der Kegelschnittskurven an. Es war klar, daß
die schon von Archimedes eingeleitete besonders aus-
gedehnte Beschäftigung mit den Kurven, die sich bei
Apollonios fortsetzte, einen Ansporn zur weiteren Durch-
forschung des irgendwie gesetzmäßig Gekrümmten
bildete. So entdeckte im zweiten vorchristlichen Jahr-
hundert der Geometriker Nikomedes die Konchoide oder
Muschelkurve, deren mechanische Darstellung durch eine
Art von Konchoidenzirkel von Nikomedes gleichfalls an-
gegeben wurde. Da es sich dabei, analytisch gesprochen,
um eine höhere Kurve, also um eine den zweiten Grad
übersteigende Kurve handelte, deren Gleichung wir
heute als (x2 + g/2) (cv - a)2 = b2 m2 schreiben, konnte sie
zur Lösung der Winkeltrisektion und des delischen Pro-
blems herangezogen werden. Dasselbe leistete die
Cissoide oder Efeulinie des Diokles, deren Gleichung
(a:2 + y2)-x --a y2 - O lautet. Auch die Cissoide ist
mechanisch durch ein Cissoidenzirkelgerät darstellbar.
Wenn wir noch erwähnen, daß sich um diese Zeit auch
der Geometriker Perseos mit den sogenannten spirischen,
also den durch einen Kreiswulst gelegten Linien be-
schäftigte, dann haben wir die Fortschritte auf dem Ge-
biet der Kurvenlehre angedeutet, die über Archimedes
und Apollonios hinaus erzielt wurden.
Als weitere bedeutende Gestalt der nachklassischen
Mathematik wäre Heron von Alexandrien zu erwähnen.
Heron war vorwiegend Praktiker, war Physiker und
Feldmesser und hat die Maßgeometrie mächtig gefördert.
Von ihm stammt die berühmte Flächenformel des Drei-
ecks, berechnet aus den drei Seitenlängen.
Die schon erwähnte Trigonometrie, die sich unter dem
Einfluß bekanntgewordener babylonisch-chaldäischer
Vorleistungen in Verbindung mit der Kugelgeometrie,
der „Sphärik“, entwickelte, hat in Hipparch, einem
Nachfolger des Aristarchos von Samos, ihren ersten
großen Vertreter. Er entdeckt unter anderem die stereo-
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graphische Projektion, indem er die Himmelskugel von
einem Pol aus auf ihre Äquatorebene abbildet, wobei
sämtliche Winkel und Kreise erhalten bleiben.
Die Sphärik wird weiter durch Menelaos von Alexan-
drien im ersten nachchristlichen Jahrhundert entwickelt,
bis sie durch Klaudius Ptolemäus um 140 nach Christi
Geburt ihren größten Vertreter findet. Es erscheint viel-
leicht als eine gewisse Ungerechtigkeit, wenn wir die un-
geheure Vollendung, die die Kugelgeometrie und die
Trigonometrie bei Ptolemäus erreichen, nicht als geson-
derte Epoche der Mathematik ansetzen. Das Hauptwerk
dieses großen Mathematikers und Astronomen, dessen
Weltbild weitere anderthalb Jahrtausende beeinflußte,
die „Megale syntaxis“ (große Zusammenstellung) oder
auf arabisch „das Almagest“, stand in derart hohem An-
sehen, daß die Auslieferung eines Exemplars dieses
Werkes gelegentlich eines Friedensschlusses zwischen dem
Kalifat und Byzanz einen Hauptpunkt des Friedens-
Vertrages bildete. Wir selbst gebrauchen auch heute noch
taglich Ausdrücke, die erstmalig von Ptolemäus geprägt
wurden. Er nennt nämlich gelegentlich seiner Kreis- und
Winkelteilung die Unterteile „partes minutae primae“
und „partes minutae secundae“*). Daraus ist höchst in-
konsequenterweise unsre Unterteilung in Minuten und
Sekunden entstanden, die richtig höchstens „Primen“
und „Sekunden“ lauten sollte.
Wenn wir uns also trotz allem nicht entschließen
koxmten, die Trigonometrie als gesonderte Epoche anzu-
setzen, so ist unser Grund dafür der, daß die Trigono-
metrie ein abgegrenztes Teilgebiet der Maßgeometrie ist
und daß sie daher im strengsten Sinne größtenteils nicht
zur reinen, sondern zur angewandten Mathematik gehört.
Ihre überragende praktische Bedeutung ist unbestreitbar
und unbestritten, ebenso wie die Tatsache, daß ihre Vor-
aussetzungen, soweit sie die goniometrischen Funktionen
betreffen, gleich dem Pythagorassatz zu den ersten Fun-
*) Also etwa „verminderte Teile erster und zweiter Art“
oder „Verklemerung erster und zweiter Art“
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damenten der höheren Mathematik gehören. Sie wurde
aber im Gegensatz zu den meisten andren Disziplinen
der Mathematik nicht zu diesen, sondern zu rein prak-
tischen Zwecken geschaffen und hat deshalb das mathe-
matische Denken an und für sich nicht epochemachend
beeinflußt. Sie ist vielmehr Weiter ihren praktischen
Weg oder den Weg als Hilfswissenschaft der Astronomie
gegangen und schließlich verhältnismäßig bald zu einer
nicht mehr zu überbietenden endgültigen Vollkommen-
heit ausgebildet worden.
Es war nicht verwunderlich, daß die zunehmend prak-
tische Orientierung der nachklassischen Mathematik des
Altertums das wirkliche Rechnen stets mehr und mehr
in den Vordergrund schob. Die Diffamierung des Rech-
nens wurde langsam und unmerklich aufgehoben und
schon Heron ergeht sich in einer derartigen Fülle von
Berechnungen, daß sein Buch später zu Rechenbüchern
und Aufgabensammlungen umgestaltet wurde. Noch
deutlicher tritt die Notwendigkeit tatsächlicher Berech-
nung bei Ptolemäus zutage. Eine brauchbare Trigono-
metrie ohne umfassendste zahlenmäßige Behandlung ist
undenkbar, und Ptolemäus hat deshalb auch ein großes
grundlegendes Tafelwerk, seine „Sehnentafel“ von 1/2°
zu 1/2° bis 90° geschaffen, das den Zweck der heutigen
logarithmisch-trigonometrischen Tafelwerke zu erfüllen
hatte. Er kannte auch als Näherungswert für die Kreis-
. 8 30 17 _
zahl rc die Darstellung 3 -|- -60 36-00 ¬ 3120 __.
= 3141666. . ., die vom richtigen Wert 31415926. . _,
Wie ersichtlich, erst in der vierten Dezimalstelle abweicht
und für nicht allzu anspruchsvolle praktische Zwecke
auf jeden Fall genügt.
Diese einmal wieder aufgenommene Beschäftigung mit
Arithmetik setzten die sogenannten „Neu-Pythagoreer“
fort, die im zweiten nachchristlichen Jahrhundert in
Nikomachos von Gerasa den später sogenannten „Ele-
mentarschreiber der Mathematik“ hervorbrachten. Der-
selben Schule gehörte auch Theon von Smyrna (zweites
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