Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 279c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


33. Die rätselhaften Anagramme und der unzeitgemäße Tintenklecks editar

Nach dem Traum von Erfüllung der ersten Tage in Hannover, nach jenem Weihnachtsfest des Jahres 1676, an dem die ganze Welt nach Kuchen und Braten duftete, nach jenen selig leichten Stunden, die für Leibniz noch einmal das glitzernde Glücksgefühl erster Kindheit heraufgebracht hatten, war er schnell in sein vorgezeichnetes Schicksal zurückgerissen worden. In den Alltag seines Genius, wenn man so sagen dürfte und wenn das Wort „Alltag“ eben in diesem Zusammenhang nicht geraden Weges Beklemmung für den erzeugte, der diese folgenden Monate so nennen hört.
Pläne hatten sich auf Pläne getürmt, neue Menschen, verwirrend und vielfältig, ein ganzes Land, in dessen Hirn er gleichsam wirkte, stürmten auf ihn ein. Und es hatte sich ein Geflecht aus Freundschaft, Feindschaft, Zustimmung, Widerstand, aus Machtfülle und Zeitnot zusammengeknotet, dessen Verhedderungen ihm täglich aus den Händen glitten, auch wenn er vom frühen Morgen bis in die tiefste Nacht ohne Rast am Webstuhl stand.
Mitten hinein in dieses tolle jagen, Suchen und Beginnen langten Wirkungen und Ausläufer seiner Vergangenheit. Kaum hatte er die endgültige und unwiderrufliche Nachricht voll begriffen, daß der große Spinoza im Keimen dieses besonders lauen und duftenden Frühlings die schmalen, glühenden Augen für immer geschlossen hatte, als sich schon aus weiterer Ferne plötzlich die Stimme eines ebenso großen, ebenso unzugänglichen und ebenso geheimnisvollen Zeitgenossen meldete.
Mit zitternden Händen hatte Leibniz das umfangreiche Schreiben geöffnet, das ihm durch Oldenburg eben vor einer Stunde auf diplomatischem Wege zugekommen war: Den langersehnten Brief Sir Isaac Newtons!
Leibniz saß am frühen Nachmittag dieses leuchtend klaren Maitages an seinem Schreibtisch im Gasthof und blickte, Halt und Festigung suchend, durch das offene Fenster über die spitzen Giebel und ragenden Türme Hannovers. Warum ist der Brief heute gekommen? Warum nicht gestern, nicht vorgestern, nicht damals, als ich ihn in London erwartete?
Warum das alles? Hätte er mich damals in größerer Sammlung erreicht? Ich weiß es nicht. Weiß nur, daß eben heute der Apostolische Vikar und Bischof von Titiopolis, Herr Nicolaus Steno aus Jütland, in wenigen Stunden zum Besuch bei mir erscheinen wird. Besuch? Kann man das einen Besuch nennen? Kommt er nicht vielmehr, um sich mir zu einem furchtbaren geistigen Kampf zu stellen, zu dem ich ihn herausgefordert habe? Er war einst Protestant, dieser Vikar Seiner Heiligkeit des Papstes. Und war ein ganz großer Arzt, Anatom und Geologe. Wenn nicht der größte der Gegenwart. Und heute? Heute trägt er die Mitra und bekämpft die Wissenschaft. Nicht eine beliebige Wissenschaft. Die Wissenschaft als solche. Nein, er ist kein Finsterling, dieser Steno. Ist eine leuchtende, großartige Erscheinung. Einer, der die Gnade sichtbar in den Augen und auf der Stirne hat. Ich verstehe, oder besser, ich ahne seine Gründe. Auch er stemmt sich gegen die Freigeisterei wie ich. Warum aber so ausschließlich, so starr, so ohne jede Schonung? Das soll sich heute herausstellen. Er weicht mir nicht aus. Und unser Kampf ist keine Privatsache. Johann Friedrich will morgen den Ausgang unsres Kampfes wissen, will daraufhin Entschlüsse fassen, die die Universitäten und die Wissenschaften betreffen. Und da ist noch ein Brief gekommen. Noch eine Mahnung der Vergangenheit. Der Arzt Schuller hat ihn geschrieben. Der Freund und „Türsteher“ des toten Spinoza. Er bietet mir das Originalmanuskript der „Ethik“ für hundertfünfzig Gulden zum Kaufe an, zu einem „der Bedeutung des Werkes entsprechenden hohen Preise.“ Wenn ich solches könnte, wenn es mich nicht an die Stücke Molières und Racines erinnerte, die ich in Paris gesehen habe, würde ich schrill, verzweifelt und zerbrochen auflachen. Es ist auch keine andere Antwort wert, dieses gutgemeinte Angebot. Was denkt der treue Freigeist Schuller? Was will er mit den hundertfünfzig Gulden? Sicher nichts für sich selbst. Vielleicht will er bloß ein Legat Spinozas erfüllen, vielleicht eine winzige Schuld des Toten tilgen. Aber was denkt er über diese Gulden hinaus? Glaubt er mich als strenggläubigen Spinozisten? Als den strenggläubigsten? Erwägt er nicht einmal die Möglichkeit, daß ich das unersetzbare Original dem Feuer überantworten könnte? Aus persönlicher oder prinzipieller Gegnerschaft? Gut, es mögen noch Abschriften vorhanden sein. Wer aber wird später die ungefälschte Genauigkeit der Abschriften bezeugen, wenn das Original verloren ging oder, unzugänglich verschlossen, sich in meiner oder des Herzogs Hand befindet? Könnten wir hier in Hannover nicht das Original korrigieren, ändern, verstümmeln? An all das denkt der brave Schuller nicht. Oder sollte Spinoza selbst gewünscht haben-, daß das Original in meine Hände gelange? Wollte er sein magisches Auge auch nach dem Tode auf mich heften? Ich weiß es nicht. Weiß nur, daß ich Schuller nicht antworten werde. Nicht antworten kann und nicht antworten darf. Nicht allein deshalb, weil mich der „angemessene Preis“ so sehr erregt, daß ich dem biederen Arzt unweigerlich mit sehr wenig höflichen Worten erwidern müßte. Ich aber darf aus noch viel verborgeneren Gründen nicht antworten. Aus Gründen, die sich weder „nach Art der Geometrie“, noch anders beweisen lassen. Ich darf nämlich nie und nimmer zum Hüter eines Werkes werden, das ich vielleicht einmal vernichtend bekämpfen muß. Dem ich zumindest fremd und abseitig gegenüberstehe. Solche Behandlung dürfen diese mit Herzblut geschriebenen Blätter nicht erleiden. Ob ich sie billige oder hasse. Sie sollen in einem Schrein liegen, von einer Hand durchblättert werden, einem Menschen zugehörig, der sie als Liebstes, Heiligstes schätzt. Nicht Mitleid ist das, toter, stolzer, starrer Spinoza. Nicht Mitleid, das du ablehnst. Es ist Reinlichkeit höherer Ordnung, ist Achtung vor dem Geist als solchem, vor dem Geist, der, irrend oder findend, stets das herrlichste Kunstwerk Gottes bleibt.
Die Zeit rückt vor. Ich könnte den Brief Newtons in die Lade sperren und zu gelegenerer Zeit vornehmen. Dem aber steht ein äußeres Hindernis entgegen. Endlich, endlich scheint Newton sein hartnäckiges Schweigen zu brechen. Das heißt, er hat es schon vor Monaten gebrochen. Der Brief ist vom 24. Oktober 1676, also von einem Tage datiert, der fast sieben Monate zurückliegt. Was soll sich Newton denken? Weiß er durch Oldenburg, daß ich damals schon längst in Holland war? Wahrscheinlich weiß er es. Aber es ist auch möglich, daß er es nicht einmal ahnt. Und heute ist eine der seltenen Gelegenheiten, einen Brief, eine Antwort an Newton, sicher und schnell nach England zu befördern. Einer unsrer jungen Diplomaten geht in wenigen Stunden nach England ab. Es muß alles erledigt sein, bevor Steno hier eintritt. Drei, vier Stunden Zeit? Es muß sein. Diese Stunden müssen genügen. Sonst reißt dieser Briefwechsel, der mir der wichtigste ist von allen, für ewige Zeiten ab. Newton soll ein Sonderling sein. Ein eigenartiger, beinahe skurriler Genius. Vielleicht ist ohnehin schon alles verdorben, wenn ich noch länger zuwarte. Was also schreibt Newton? Und Leibniz begann, wieder mit zitternden Händen, den langen Brief zu entfalten, die großen mit Formeln und Schriftzügen überdeckten Blätter zurechtzulegen und zu ordnen. Die Zeit bekam in seinem Innern einen anderen Koeffizienten, ein andres Maß, als sie es für gewöhnlich hat. Furchtbarste Anspannung erzeugte rasenden, springenden, überkollernden Zeitablauf. Und gleichwohl gelang es Leibnizens Willen und seinem Verstand, obgleich der Körper fast zerbrach und flatterndes Pochen des Herzens und der Schläfenadern sich störend vordrängte, die Worte und Symbole Newtons in unwahrscheinliche Schnelligkeit zu durchjagen, soweit sie überhaupt erfaßbar waren.
Plötzlich stieß der vorstürmende Geist Leibnizens beinahe schmerzhaft gegen ein kaltes, hartes Hindernis. Was bedeutete das? Was hieß diese Zeile, dieses grinsend-hämische Rätsel nach all den lichten und berauschenden Ausführungen über das Problem des binomischen Lehrsatzes und über das Zauber-Parallelogramm, durch das mit Hilfe der Drehung eines Lineals verwickelte Gleichungen lösbar wurden? Was hieß das plötzlich? Dieser schreiende Mißton, zusammengesetzt aus bösem Verdacht, Abweisung und Spott? Und dies gerade an der Stelle, wo es um alles ging. Um die Frage der Entdeckung der Differentialrechnung. Wußte Newton um Geheimnisse, ähnlich denen seines, Leibnizens, Algorithmus? Es war möglich, war wahrscheinlich. Wenngleich Newton sicherlich auf anderen Wegen ins Allerinnerste des großen Zaubers gelangt war. Er weiß etwas. Denn er sagt dunkle und doch bedeutungsvolle Worte. Er redete von einer Tangenten-Methode. Behauptet, sie stoße sich nicht an Irrationalitäten. Ebenso wenig störe ihn das Vorkommen des Irrationalen bei Aufgaben über Maxima und Minima. Ebensowenig aber schließlich störe ihn das Irrationale bei Aufgaben - von denen er nicht rede. Die Grundlage des Verfahrens jedoch verberge sich in folgenden Buchstaben:


6a, 2c, d, a, e, 13e, 2f, 7i, 3l, 9n, 4o, 4q, 2r, 4s, 8t, 12v, x.


Das ist ein Anagramm! Man kennt die Bedeutung solchen Vorgehens nur zu gut. Habe ich das verdient? Habe ich wirklich verdient, daß mir der große Newton den Schlüssel seiner Entdeckung als unlösbares Rätsel höhnend in die Hände legt? Und sich dadurch vor aller Welt die Priorität sichert? Oldenburg hat den Brief gesehen. Ich könnte das Anagramm auch nicht ableugnen, wenn ich es selbst wollte. Oder will mich der Sonderling Newton bloß reizen? Oder ist es gar nur ein gutmütiger Scherz, dem bald die Aufklärung folgen wird? Ein Scherz des reiferen mit dem jüngeren Adepten? Newton weiß, daß es Leibniz, der die Kombinatorik beherrscht, bekannt sein muß, daß die Auflösung des Anagramms nur durch ein Wunder möglich wäre. Solche Chiffre enträtselt kein Sterblicher. Es ist eine der grausamsten Chiffreschriften, weil sie fast unendlich vieldeutig ist.
Aber ich will es übersehen, will vergessen. Die Zeit rückt vor. Und der Brief umfaßt noch einige Blätter. Vielleicht steht am Ende die Lösung und das Ganze war nur ein Spiel, ein Spannungsreiz.
Wieder herrliche, wenn auch zurückhaltend dunkle Erörterungen. Warum in so wesentlichen Dingen wie in der Lehre vom Integral plötzlich diese ausführliche Darlegung? Ah! Newton rast förmlich vorwärts. Spielt und tanzt in den Abgründen, über die Abgründe. Ich habe es stets geahnt. Er ist der Größte unter allen Zeitgenossen, die sich im Reich der Zahlen und Formen tummeln.
Was sind das für kühne Verwandlungen? Was für Grundlagen muß er besitzen? Ich, vielleicht ich allein, kann das ermessen. Und noch einmal? Warum ist er hier, im Gebiet des Integrals, so offen, fast möchte ich sagen, schwatzhaft? Weiß er alles? Weiß er das Letzte, das Tiefste, weiß er, daß ich von der „anonymen“ Wissenschaft gerade das Differentialkalkül für meine eigenste Entdeckung halte? Und daß ich das summatorische, das Integralkalkül für weit eher Vorgelöst ansehe? Vorgelöst durch Cavalieri, Barrow, Sluse und andere?
Halt! Hier nähert er sich schon wieder meinen Bereichen. Er sagt, er sei auch im Besitz der Lösung des umgekehrten Tangentenproblems. Jetzt, nur jetzt, kann die volle Aufklärung, die vertrauende Annäherung, der harmonische Akkord folgen, der uns beide zu eng verbundenen Mitstreitern um die letzten ungelösten Rätsel der dunkelsten mathematischen Tiefen machen wird.
Um Gottes willen! Was ist das? Was bedeutet das plötzliche Abreißen der Gedanken? Oh, er ist grausam, unerbittlich, satanisch, dieser Sir Isaac Newton. Hier steht wieder grinsend ein Anagramm. Noch ärger, noch verwickelter als das erste. Und diese, eben diese Buchstaben enthielten, schreibt er, richtig zusammengefügt, die Erklärung der zwei Methoden, derer er, Newton, sich zur Lösung der „umgekehrten Tangentenaufgabe“ bediente.
Der Brief geht zu Ende. Sir Isaac Newton hat mir die giftigen Dornen seiner Anagramme ins Fleisch gestochen. Damit die Wunden meiner Erkenntnissehnsucht fortschwären sollten, bis er mir gnädig einmal das Gegengift reichen würde. Er will sich an den Wehschreien des Philoktet ergötzen. Oder er achtet dieser Schreie nicht. Denn das große Geheimnis des Newtonschen Algorithmus ist in England zurückgeblieben, wenn auch die losen Buchstaben hier vor meinen Augen tanzen.
Ich aber will ihn trotzdem zum Sprechen bringen, den herrlichen, mit so viel Aberwitz umpanzerten Geist. Und zwar werde ich ihn auf deutsche Art zum Sprechen bringen: durch Offenheit und Freimut. Ich muß wissen, was die Anagramme bedeuten. Ich bin kein Dieb fremden Geistes und kein Spion. Und Newton ist es auch nicht. Ich fürchte mich nicht, mein letztes Geheimnis unverhüllt in die Hand des Nebenbuhlers zu legen. Wird er das anerkennen und sich seiner boshaft kindischen Anagramme schämen? Er ist ein Sonderling. Vielleicht gehe ich fehl mit meiner Taktik und er schämt sich nicht, verkriecht sich noch mehr in sein Geheimnis und hat dazu noch meines als erwünschte Konterbande gekapert. Also Offenheit allein führt nicht sicher zum Ziel. Daher werde ich in einer Nebensache seine eigene Taktik übernehmen. Ich werde ihn locken und reizen. Nicht aber durch Anagramme und Dunkelheiten, sondern einfach durch Weglassen der einen Hälfte des ganzen Gebäudes. Newton sieht sofort den Widersinn, daß ich die neuere, wichtigere Hälfte des Geheimnisses kenne, daß mir aber die zweite, bekanntere Hälfte unbekannt sei. Ich werde dort weglassen, wo er schwatzhaft war und werde dort enthüllen, wo er sich versteckte. Und werde zudem noch die Vermutung aussprechen, Newtons Tangentenmethode dürfte von meiner nicht wesentlich abweichen, eben von dieser Methode, die ich ihm mitteilte: nämlich von der Differential-Rechnung. Und ich werde nichts vom summatorischen Kalkül, von der Integralrechnung sprechen. Das wird ihn reizen, furchtbar reizen und herausfordern. Und er wird seine Anagramme preisgeben, und wir beide werden vereint zu Höhen vordringen, wo sich unsre „Differenzen“, wie der prachtvolle Grote gesagt hat, zu Summen, ja zu Produkten verwandeln. Und ich werde ihm die Treffsicherheit und die beschwingte Leichtigkeit meiner Tangentenmethode an Beispielen demonstrieren, vor denen der genialste Mathematiker der alten Schule erblassend und zu Tode verwirrt zusammenschauern würde. Ich werde ihm die Differenzierung an Irrationalitäten höherer Ordnung zeigen, werde die geradezu monströse Kurvengleichung
 
vor seinen Augen in mathematischem Tänzerschritt behandeln und die quadrierende Kurve dieser Kurve errechnen. Und werde ihn durch den neuen, noch ungehörten Ausdruck „Differentialgleichung“ und „Ableitung“ locken, Ausdrücke, die in der Welt einmal guten Klang bekommen sollen. Denn beiden dieser Ausdrücke entsprechen ganze Welten des Zaubers und des Geheimnisses.
Jetzt aber keine Pläne mehr und keine diplomatischen Erwägungen. Ich habe noch eine knappe Stunde Zeit bis zum Besuch des heiligen Kampfgegners Steno aus Jütland. In dieser Stunde muß mein Brief geschrieben, geprüft und abgeschrieben sein. Denn ohne Abschrift kann ich eben diesen Brief nicht in das Herz des heute noch mißtrauisch-feindlichen Hauptquartiers abgehen lassen. Und ich muß noch einen kurzen, höflichen Mantelbrief an Oldenburg verfassen, der die Weiterleitung besorgen wird. Es ist gut, wenn auch Oldenburg meinen Brief an Newton liest. Ein weiterer Zeuge für den fast unmöglichen Fall, daß Newton meine Darlegungen sich aneignet und für die eigenen ausgibt. Er hat es nicht nötig. Denn er hat mir ja selbst Lösungen hingeworfen, die bisher nur durch meine Methoden erreichbar sind. Oder durch andere Methoden, die, ebenso unbekannt wie die meinigen, dasselbe leisten, also ähnlich sein müssen.Und sich daher nur in der Schreibweise unterscheiden können. Ob diese Schreibweise in unsrem Fall aber nicht gerade das Wesentlichste ist, soll dahingestellt bleiben. Das eben muß ich herausbekommen. Denn ein Algorithmus, der nur in Newtons Hand Resultate liefert, ist kein Algorithmus. Er ist wieder nur ein weiterer Aufhellungspunkt des großen, längstvorhandenen „anonymen Problems“ der Mathematik, ist nichts weiter als eine höchstpersönliche Fähigkeit, also ohne Nutzen für die Menschheit und für den Höherbau der Wissenschaft. Denn nicht die Ergebnisse sind das Wichtigste, das Wichtigste sind die breiten, geraden, gebahnten Straßen der Methode, auf denen alle Gutwilligen, auch die Minderbegabten, zu den Gipfeln steigen können, um von dort die kosmische Harmonie zu erblicken…
Die Stunde, diese entscheidende, weltwichtige Stunde raste in unausdenkbarer Erfülltheit vorwärts, als Leibniz schrieb. Er hatte es vorausgedacht: Es waren Tänzerschritte, in denen sich sein Geist bewegte, während er bindend und lösend, in markigem Latein, Sir Isaac Newton seine reifen Methoden auseinandersetzte. Er erwähnte nebenhin fremde Namen, um zu zeigen, daß seine Resultate mit vorgeleisteten Geistesblitzen Einzelner in Übereinstimmung ständen. Nannte den großen Sluse. Bewies aber sogleich, daß über solche Teilergebnisse hinaus seine eigene Methode unbegrenzt oder fast unbegrenzt, bis knapp an die Regionen scheinbaren Wahnsinns, erweiterungsfähig sei, und daß es für den, der sie einmal sich angeeignet habe, sogar nicht einmal ein großes Kunststück wäre, sich ihrer treffsicher und unfehlbar zu bedienen. Und er vergaß nichts hinzuzufügen und vergaß nichts auszulassen, was er sich im ersten Rausch der Konzeption dieses Briefes vorgenommen hatte. Und er hatte neben all seiner Tätigkeit in dunkleren Schichten seines Geistes noch die Möglichkeit, den Ablauf der Zeit mitzuverfolgen, so daß er beinahe auf die Minute die letzten Sätze der Abschriften hinwarf, als es an die Tür seines Zimmers pochte.
War das Steno oder war es der junge Diplomat, der nach London abging? Beide waren für sechs Uhr abends angemeldet. Es war gleich, wer von beiden es war. Es war nur spielerisches Interesse, daß Leibniz innerlich eine solche Frage überhaupt aufwarf. Es sollte der Edelmann sein, mußte der Edelmann sein. Es war ordentlicher, harmonischer, wenn es der Edelmann war.
Er hatte die Briefe noch nicht geschlossen, nicht gesiegelt. Die Originale waren auf schöneres Papier, waren reiner und sorgfältiger geschrieben als die Abschriften.
Leibniz lächelte. Der junge Edelmann war eingetreten und meldete sich mit einigen Höflichkeitsphrasen. Kaum aber hatte Leibniz, der ihm einige Schritte entgegengegangen war, den Gruß erwidert, als schon Steno in der Tür stand und sein markiges, zerwettertes Friesenantlitz sichtbar wurde, aus dem die blauen großen Augen in seltsamem Glanze leuchteten. In einem Glanze, den Leibniz schon bei Leeuwenhoek wahrgenommen hatte; der aber hier, bei Steno, noch durch das prächtig düstere Habit des Bischofs untermalt wurde, das seinen „character indelebilis“, sein unaustilgbares Stigma bis in diese Augen eines ehemaligen Naturerforschers und Naturdurchschauers übertragen zu haben schien.
Leibniz war durch die Formlosigkeit des Bischofs ein wenig überrascht. Durchaus nicht unsympathisch. Im Gegenteil. Hier kam eben, so hieß dieser Eintritt symbolisch, nicht der Bischof Steno zum Rat Leibniz, sondern ein Mann zum andern. Und Leibniz gewann dadurch auch die Kraft, alle mathematischen Nebel, alle Räusche und Betäubungen, die der Mohnsaft des Formenreiches über ihn gebreitet hatte, schnell zu durchstoßen. Denn jetzt ging es nicht um dieses Rausch- und Ekstasenland Mathematik, jetzt ging es nicht einmal um das Verantwortungsland Philosophie, jetzt in den nächsten Stunden, ging es um das Reich Gottes selbst. Noch mehr: Es galt, für ein ganzes Volk, für Gegenwart und Zukunft zu entscheiden, was des Kaisers, was des Geistes und was Gottes sei.
Und zu allem erinnerte sich Leibniz, während er den Bischof ehrfürchtig begrüßte, und während der junge Edelmann, der in wenigen Minuten seine Reise nach England antreten sollte, ungeduldig, aber gebändigt dastand, daß die Briefe an Newton noch nicht adressiert und gesiegelt sind.
Mit einigen leichten Entschuldigungsworten, scherzend, Latein, Deutsch und Französisch durcheinandersprechend, unterzog sich Leibniz dieser letzten Arbeit, die ihn vom Gespräch mit Steno trennte. Diese Vielheit der Tätigkeiten und Worte war aber selbst für Leibniz zu viel, um so mehr, als seine Gedanken schon wieder zu den Themen vorrasten, die bald Körper und Gestalt gewinnen sollten. Die Feder blieb einen Augenblick hängen, und ein mächtiger, wohlgerundeter Tintenklecks fiel auf den Brief an Oldenburg und bedeckte wie abgezirkelt ein Wort der ersten Zeile.
Es war das Wort „hodie“, „heute“. Enthalten im nichtssagenden Formelsatz: „Ich erhielt heute Ihren lange erwarteten Brief und als Einschluß einen sehr schönen Brief Newtons.“
Was sollte man tun? War es beleidigender, Oldenburg die Abschrift auf dem schlechten Papier, die er in der Eile der letzten Minuten geradezu hingeschleudert hatte, zu übersenden, oder aber diesen beklecksten, äußerlich gleichwohl schöneren Brief? Bedeutete zudem das Wort „heute“, das man übrigens nach Absaugen des Kleckses noch recht gut durchsah, irgend etwas Wesentliches? Etwas so Wesentliches, daß dadurch eine Änderung entstand, wenn das Wort selbst unleserlich würde? Gut, Newton wußte dann nicht, daß er, Leibniz, den Brief sofort beantwortet hatte. Aber würde Newton davon erfahren, wenn das Wort leserlich dastand? Es war ja ein Wort im Brief an den Vermittler, an Oldenburg, und nicht ein Wort im Brief an Newton selbst. Man hatte noch später Zeit, alles richtigzustellen, wenn Newton die Verzögerung der Antwort einmal beanstandete. Der große, dauernde, weltwichtige Briefwechsel mußte ja folgen, würde folgen…
Der Edelmann wird immer ungeduldiger. Er blickt aus seinen Knabenaugen bittend und verstört. Es ist seine erste große Reise. Diplomatische Mission. Vielleicht wird er einmal Gesandter, Resident. Vielleicht erwarten ihn schöne Frauen in London. Und er wird ein Vielgeliebter wie Grote.
Und Steno, der Bischof, dessen Antlitz jetzt aussieht wie eine Skulptur in einem gotischen Dom, wird es, obwohl er gar keine Eile zeigt und sogar ein wenig lächelt, nicht verstehen, warum es für den Alleswisser Leibniz ein Problem bedeutet, einen Brief zu siegeln.
Es ist ein geradezu läppisches Betragen, diese Entschlußlosigkeit. Wird von Sekunde zu Sekunde läppischer. Und es werden noch mehr, noch gefährlichere Kleckse entstehen, wenn ich mich nicht bald entscheide. Aber es kichern da wieder irgendwo sonderbare Kobolde. Ich fühle sie durch das Zimmer rascheln. Es muß etwas auf sich haben mit diesem dummen Klecks.
Noch schöner: Der Mathematiker Leibniz, der eben ein verhülltes Bündnisangebot an den Nebenbuhler Newton absendet, ein Angebot, das nicht weniger bezweckt als die Gründung einer unbeschränkten, unbesiegbaren Zweimännerherrschaft über das mathematische Universum; einer Herrschaft, die diesem Duumvirat nicht nur die Gegenwart, sondern alle Zukunft unterjochen soll: dieser Leibniz, der sich innerlich schon fast zur Gottähnlichkeit aufbläht, hört in Gegenwart eines wahrscheinlich freigeistisch angekränkelten jungen Edelmanns und in Gegenwart eines Bischofs, dem gegenüber er die Autonomie der echten, exakten Wissenschaft verteidigen will, auf das Kichern von Dämonen wegen eines Tintenkleckses.
Für solches Dilemma gibt es nur eine Lösung. Sie ist schon vollzogen. Der Brief ist versiegelt. Die „Weltgeschichte“ wird sich mit diesem Klecks abfinden müssen!
Und Leibniz entließ mit sehr liebenswürdigen Worten den jungen Edelmann, wünschte ihm glücklichste Reise, Erfolg und Aufstieg, lachte aber mitten in diesen Worten ganz kurz und so sonderbar und wesensfremd auf, daß der schweigende Bischof ihn mit einem fragenden, beinahe zweifelnden Blick anblitzte.
All das aber war für sämtliche Beteiligten, wie das plötzliche Einbrechen einer unbegreiflich fremden Traum- und Koboldswelt, schon in der nächsten Sekunde als wesenloser Spuk zerstoben und zerflattert. In der Sekunde, die durch das Zuschnappen des Türschlosses hinter dem entschreitenden jungen Edelmann diese Koboldswelt von den neuen unausbleiblichen Ereignissen trennte. So daß Leibniz nicht wußte, daß er durch seine Entscheidung, die den Tintenklecks betraf, endgültig und unausweichlich die letzten zwanzig Jahre seines Lebens verbittert, mehr noch, daß er seinen ganzen Ruhm, alle Früchte seines Geistes, seinen Ruf, die Einschätzung seines Charakters fast für alle Ewigkeit damit verspielt und vernichtet hatte.


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