Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 267c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


21. Nächtliche Fahrt

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Leibniz antwortete nichts. Denn plötzlich hatte ihn ein so furchtbarer Schreck durchzuckt, daß alles Blut aus seinen Wangen gewichen war. Sein Blick war nämlich unvermittelt dem suchenden Blick des Schönbornschen Dieners begegnet, der nahe der Eingangstüre stand und im Saale umherspähte.
„Gott schütze uns beide vor Unheil!“ sagte Leibniz, ohne daß er es wußte, in gepreßtem Ton.
„Was wollen Sie?“ fragte Boineburg. „Ich verstehe Sie nicht. Er folgte dem Blick Leibnizens. Dann lachte er auf: „.Ah, noch ein zweiter Spion, den man auf mich gehetzt hat.“
„Nein, das ist kein Spion.“ Leibniz bemühte sich mit aller Kraft seine Erstarrung abzuschütteln. „Das ist etwas andres, etwas Schreckliches, das ich schon längst erwarte.“
„Wollen Sie alles Unheil herbeihexen? Es ist unerträglich! Ganz und gar unerträglich!“ Philipp Wilhelm sprang auf und gab dem Diener ein Zeichen. „Der Diener wird Sie jetzt zu Bett bringen. Ich habe genug für heute. Verklagen Sie mich beim Vater. Ich habe genug!“
Leibniz wehrte nur mit einer Geste ab, da der Diener schon eilig, zwischen den Tischen durch, auf sie zukam.
„Nun?“ fragte ihn Boineburg scharf.
„Ich verstehe es nicht, Euer Gnaden“, erwiderte der Diener atemlos.
„Was verstehen Sie nicht?“
„Die Bedeutung des Ganzen.“
„Jetzt reden Sie einmal geordnet! Wer hat Ihnen übrigens gestattet, mir hieher nachzulaufen?“
„Es ist plötzlich eine Cavalcade vorgefahren, Euer Gnaden. Bei uns. Als die Herren hörten, daß Euer Gnaden hier seien, setzten sie mich auf den Kutschbock.“
„Wer? Was? Wie?“ Boineburg stampfte mit dem Fuß.
„Ich glaube, die Herren sind vom Herrn Außenminister, Marquis von Pomponne, abgeschickt.“
„Und wo sind sie jetzt?“
„Sie warten draußen. Sie sehen sehr düster drein und sprechen kein Wort.“
„Was kann da geschehen sein?“ Philipp Wilhelm blickte betreten zu Leibniz. „]etzt, mitten in der Nacht? Will man uns verhaften oder ausweisen?“
Leibniz dachte angestrengt nach.
„Vielleicht wegen unsrer Mission nach England? Es ist alles möglich. König Ludwig betrachtet unsre Bemühungen allenfalls als Unfreundlichkeit. Wir müssen wohl sofort hinaus zu den Herren.“
„Man hat mich ausdrücklich beauftragt, Herrn Doktor Leibniz auch zu verständigen“, sagte der Diener.
„Nun, dann ist meine Vermutung nicht ohne jede Grundlage. Lassen Sie für jeden Fall mich allein reden, Philipp Wilhelm, da Sie über unsre Verhandlungen in England nicht unterrichtet sind. Und nun schnell!“
Leibniz ging voran. Boineburg folgte ihm wie ein Nacht-Wandler.
Als die beiden mit dem Diener auf die Straße hinaustraten, bot sich ihnen ein eigentümlicher Anblick. Beleuchtet von mehreren Fackeln, die abgesessene Vorreiter und Gefolgsleute hielten, wartete eine prächtige Staatskarosse auf der jenseitigen Straßenhälfte. Der Wagenschlag war geöffnet und vor ihm standen zwei Edelleute hohen Ranges in maskenstarrer Pose. Beide den dreispitzigen Hut in der Hand. Ebenso starr und auch entblößten Hauptes wartete links von den beiden ein bestaubter Kurier neben seinem Pferd, dessen Halfter er gefaßt hatte. Einige Lakaien aber forderten die Neugierigen, die sich anzusammeln begannen, im Namen des Königs sehr energisch auf, jede Störung zu vermeiden und womöglich rasch weiterzugehen. Ausnahmen wurden nicht gemacht. Die Ermahnung wurde sogar einigen Edelleuten in besonders kategorischer Weise zuteil, die eben das Tanzhaus singend verließen und über die Karosse ihre Scherze machen wollten.
Als Leibniz den Aufzug erfaßt hatte, durchzuckte ihn ein neues Erschrecken.
„Bewahren Sie Haltung, Philipp Wilhelm, was auch immer kommt! Beweisen Sie sich hier in der Fremde als Boineburg und als Deutscher. Ich werde Sie nicht im Stich lassen.“ Er raunte es Philipp Wilhelm zu, als sie die wenigen Schritte über die Gasse gingen.
Der Ältere der beiden Edelleute trat ein wenig vor, verbeugte sich tief vor Boineburg, dann vor Leibniz und sagte:
„Besondere Ereignisse erfordern besondere Maßnahmen. Wir bitten in aller Ehrfurcht, in unsrer Karosse Platz zu nehmen. Und werden uns erlauben, die Herren in Ihr Haus zurückzubringen, damit wir den uns vom Minister befohlenen Besuch rechtzeitig abstatten können.“ Er wies mit einer Handbewegung gegen den Fond des Wagens.
Leibniz ließ instinktiv Boineburg den Vortritt, da der Edelmann ihn auch zuerst begrüßt hatte. Wie im Traum stiegen die beiden in den Wagen.
Die Edelleute warteten einen Augenblick draußen und erteilten kurze Befehle. Dann stiegen auch sie ein und nahmen auf dem Rücksitz Platz.
Wenige Herzschläge später klapperten schon die Hufe der Pferde, die den Wagen zogen, und der Rosse der Gefolgsleute und des Kuriers auf dem Pflaster. Und grelle rote Zungen des Fackelscheins durchflammten gespenstisch das Innere der Karosse.
Was geschah hier? Sowohl Leibnizens als Boineburgs Gedanken hatten fast jeden Zusammenhang verloren. Alle Möglichkeiten, alle Gefahren der Welt bedrohten sie. Der furchtbare Schatten des Wunders der Geheimhaltung, des großen Miracle du Secret, dessen Symbol, die goldenen Lilien auf blauem Grund, überall um sie her aufblitzten, hatte sich auf sie gesenkt. Und gleichwohl ahnten beide schon, daß wahrscheinlich Schrecklicheres nach ihnen langte als persönliche Gefahr.
„Ich bin mir bewußt, die strenge Form gröblich zu verletzen“, sagte unvermittelt der ältere Edelmann. „Ich stelle aber die innere Ehre über die Form. Und darum teile ich Ihnen mit, Herr Graf von Boineburg, daß der höchste und allmächtigste Gott vorgestern beschlossen hat, den großen Minister Boineburg an die Stufen seines Thrones zu rufen. Unser Kurier brachte vor wenigen Stunden die entsetzliche Kunde. Wir aber sind beauftragt, das tiefe Beileid Seiner Majestät dem Sohn dieses großen Mannes und seinem getreuen Sachwalter Leibniz auszusprechen. Und wir hoffen, uns noch einmal in Ihrem Haus vor Ihnen verneigen zu dürfen.“
Keiner der Insassen der Karosse bemerkte, daß nach diesen fast ins Leere gesprochenen Worten lange Zeit verstrichen war. Endlich hatte sich bei Philipp Wilhelm und bei Leibniz das Endgültige der gräßlichen Botschaft zur klaren Erkenntnis durchgearbeitet.
„Wie ist mein Vater gestorben?“ flüsterte der Jüngling mit zerbrochener Stimme.
„Soviel wir wissen, hat ihn ein Schlagfluß schmerzlos hingerafft“, antwortete leise der Edelmann. „Wir verhehlen aber nicht, und das ist unser großes Leid, daß der Krieg viel Schuld an seinem Tod hatte. Eine übermächtige Erregung hat den herrlichen Mann gefällt. Er starb an der Nachricht, daß brandenburgische Truppen seine Güter verwüstet haben.“
„Mein Gott im Himmel!“ Dieser Ausruf Leibnizens enthielt trotz seiner Schlichtheit alles, was Leibniz in der Zeit eines Augenblicks erkannte.
Boineburg, der Märtyrer des Deutschtums, der große Vorkämpfer und Hort der Nation, hatte es in seiner letzten Stunde erleben müssen, daß ein Teil dieser Nation, ein herrlicher, ruhmreicher Teil des geliebten Ganzen, durch die Verkettung rätselhafter Schicksale, gerade in sein gehütetes Besitztum eingebrochen war, wie in das Gut des verhaßtesten Feindes. O, es handelte sich da nicht um Felder, um Schlösser und Wälder! Es handelte sich um ein grausiges Symbol, um einen Fluch, der auf den Deutschen lastete seit den Zeiten der alten Römer. Stets wieder Deutsche gegen Deutsche. Furchtbare Unversöhnlichkeit eines solchen „schmerzlosen“ Todes nach solch einem dem Deutschtum gewidmeten Leben.
Leibniz beherrschte sich sofort. Der junge Boineburg schien nur den klaren, naturgemäßen Schmerz des Kindes zu fühlen. Er hütete sich, dem armen Kinde die Tragik des Geschehens bewußt zu machen. Darum langte er still nach der Hand des Jünglings und drückte sie. Philipp Wilhelm aber kämpfte sich tapfer zu einer Haltung durch, die seiner neuen Würde als Sohn und Nachfolger eines großen Vaters entsprach, der nun schon, in ruhmvoller Art, der Geschichte seines Jahrhunderts angehörte.
Im kleinen Palais empfing er dann sehr bleich, aber mit unleugbarer Größe im ganzen Wesen, den Staatsbesuch. Und ging, nach kurzem Abschied von Leibniz, starr schweigend in seine Zimmer.


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