Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 265c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


19. Märchen im Tanzhaus

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Als Leibniz, in die Karosse zurückgelehnt, durch die nachtdunklen Straßen fuhr, war es ihm selbst nicht mehr ganz klar, warum er sich auf ein Abenteuer so unbestimmbaren Ausganges eingelassen hatte. Vorhaltungen hätte er dem jungen Boineburg ebensogut, vielleicht besser morgen machen können. Dagegen war es sehr wahrscheinlich, daß er bei einer „Überraschung auf frischer Tat“ in die schiefste Lage geriet. Oder Boineburg so arg bloßstellte, daß der längst drohende Bruch unter Eklat sofort erfolgte. Was wollte er also? Irgendeinen häßlichen persönlichen Rachedurst für Unbotmäßigkeiten des Schülers befriedigen? Oder dem Jüngling Freuden stören, nach denen er sich selbst vielleicht sehnte und die er nur aus Starrsinn mied? Würde er wieder nur den Vätern imponieren und den Söhnen verhaßt sein?
Leibniz konnte sich keine Antwort geben. Denn ein merkwürdig fiebriges Gefühl verwirrte ihn. Er wußte nur, daß er trotz aller Einwendungen der Vernunft nicht umkehren würde. Er mußte Boineburg heute noch suchen und stellen. Alles übrige würde sich ergeben. Er wunderte sich zwar ein wenig über diese bei ihm sehr seltene Aktivität ohne logische Begründung. Er gehorchte ihr jedoch, da er einfach mußte.
So stieg er nach längerer Fahrt, in einer dunklen Seitengasse aus, ließ sich den Weg, den er noch zu gehen hatte, genau beschreiben, Wartete kurze Zeit, bis das Rattern des Wagens sich entfernt hatte, und stand bald vor einem größeren Gebäude, dessen hohe Fenster in hellem Licht strahlten.
Niemand war erstaunt, als er eintrat. Im Gegenteil. Einige Diener bemühten sich sogleich um ihn, nahmen ihm den Mantel ab und man fragte, ob er tanzen oder bloß zusehen Wolle. Es sei im Saale kaum ein Platz zu finden. Auf dem Balkon Würde sich leichter und angenehmer eine Möglichkeit ergeben. Da Leibniz als sicher annahm, daß Boineburg sich beim Tanz aufhielt, kam ihm der Rat des Dieners sehr gelegen. Er Werde also gern zum Balkon hinaufgehen, antwortete er, ohne sich eine rechte Vorstellung von dieser merkwürdigen Vergnügungsstätte zu machen, von der er bisher nur gedämpftes Stimmengewirr und Musik Wahrnahm, die durch die mächtigen, geschlossenen Glastüren herausdrangen. Sehen konnte man nichts, da diese Türen durch gelbe Seidenvorhänge abgedeckt Waren.
Der Diener geleitete ihn über die Treppe hinauf. Und er stand bald auf dem „Balkon“, einer breiten, im Halbdunkel liegenden Estrade, an deren Steinbrüstung Tische und Sofas standen. Kurze Zwischenwände zwischen den einzelnen Tischen bildeten eine Art von Logen.
Auch hier saßen viele Leute. Meistens flüsternde und lachende Paare, die sich um nichts als um ihre Neckereien und um den Wein zu kümmern schienen, der vor ihnen auf den Tischchen stand.
Als Leibniz in eine der Logen getreten War und über die Brüstung hinabsah, bot sich ihm ein ebenso buntes als anziehendes Bild. Der Saal lag in mildem Licht, das von zahllosen Leuchtern ausging, die unten auf den Tischen standen. Um diese Tische saßen Edelleute, deren farbenfreudige Trachten im Kerzenschimmer mit den Seidenkleidern der Damen Wetteiferten. In der Mitte des Saales aber klirrten auf spiegelnder Fläche Sporen und Degenscheiden bei den Verbeugungen einer eigentümlich schwermütig schluchzenden Sarabande.
Eben Wollte Leibniz sich auf die Polsterbank niederlassen und dem Diener Aufträge geben, als er zu seinem Erstaunen merkte, daß er in der Loge nicht allein war. Ihm gegenüber saß eine Dame, von der er vorerst nur die gleißend blonden Haare, ein sehr schönes Profil und eine jenseits der Mode liegende Kleidung sah, die durch einen um den Hals fächerförmig stehenden Spitzenkragen charakterisiert war.
Der Diener machte Miene, der Dame auf die Schulter zu tippen. Leibniz hinderte ihn jedoch daran mit einer Geste und fragte, ob er ein Mahl und schweren Wein bekommen könne, was der Diener unter Verbeugung bejahte.
Durch dieses Gespräch wurde die Dame aufmerksam und blickte auf Leibniz.
„O, Verzeihung!“ sagte sie müde. „Ich gehe schon. Ich wußte nicht. . .“
„Warum sollen Sie gehen?“ fragte Leibniz. „Der Störenfried war doch ich. Aber man wies mich hieher.“
„Es ist in guter Ordnung“, sagte die Dame. „Sie sind der Gast und ich gehöre sozusagen zum Hause. Darum räume ich den Platz.“
„Sie sollen aber hier bleiben!“ Leibniz sah sie voll an und schüttelte den Kopf. „Sie würden mir nur jede Lust nehmen, hier weiter zu sitzen, wenn ich das Gefühl hätte, jemand vertrieben zu haben. Und ich hätte außerdem noch das Gefühl, abstoßend zu wirken. Natürlich gilt meine Bitte nur für den Fall, daß Sie verzeihen, wenn ich mich ruhig verhalte. Auch ich bin sehr, sehr müde.“
„Ach so! Dann bleibe ich gerne. Der Diener wird Ihr Mahl und den Wein sogleich bringen. Ich bin sehr dankbar, daß ich noch ein wenig ausruhen darf.“ Und sie wandte sich ab und verfolgte die Vorgänge unten im Saal mit lässiger Neugier.
Leibniz hatte das Antlitz der Dame nur ganz kurz gesehen. Sie war auffallend schön, hatte große blaue, sehr ausdrucksvolle Augen, schien aber, trotz der Glätte und madonnenhaften Regelmäßigkeit der Züge, irgendwie gezeichnet: von einem Wissen um abstoßende und höllische Dinge. Oder war das wieder Phantasie und sie war bloß müde? Nonnen gab es hier ja gewiß nicht, dazu war die ganze Einrichtung dieser neuartigen Stätte der Geselligkeit zu offenkundig.
Leibniz schob also alle weiteren Betrachtungen zurück. Der Pakt mit der Dame war geschlossen. Man würde sich gegenseitig nicht beachten. Und er mußte jetzt an den eigentlichen Zweck seines Kommens denken. Er zog also sein Lorgnon und suchte Boineburg. Er erblickte ihn auch nach einiger Zeit unten im Saale in einer größeren Gesellschaft von Edelleuten und Mädchen. Und bemerkte, daß der Jüngling verstimmt aussah und sich im Gegensatz zu den anderen, die beim Tische saßen, nicht am Tanze beteiligte. Das heißt, er blieb sitzen, während bei den anderen ein häufiges Gehen und Kommen zu bemerken war.
Wie stets litt Leibniz an großem Hunger und verzehrte in jagender Hast sein Mahl und trank sehr schnell den Malvasier, den man ihm gebracht hatte.
Als er eben die letzten Bissen hinunterschlang, sah er plötzlich, daß die Dame lächelte.
„Ich bin erst vor zwei Stunden aus England eingetroffen“, entschuldigte er sich, ohne es recht zu wissen.
„Sie sind ein Gedankenleser. Bitte, verzeihen Sie mir meine Unart!“ erwiderte sie mit dunkler Stimme. „Ich werde unsre Vereinbarung auch nicht mehr durch ein albernes Lächeln brechen.“
Da schoß in Leibniz ein verworrener Wunsch empor. Warum sollten nur all die anderen, die hier waren, sich bei den Frauen Lust, Vergessen und Ruhe holen? Warum nicht auch er? Doch er wollte es wieder ganz anders als alle anderen. Es war ihm recht, es war Voraussetzung für seinen Wunsch, daß diese Frau jung und schön war. Daß sie duftete und daß die Seide ihres Kleides und die Spitzen schimmerten. Daß die Haut ihres Halses glatt und kühl war und die Form ihrer nackten Arme und ihre Brust, die man aus dem Ausschnitt der Seide durch die halbe Verhüllung erahnte, ein wunderbares Ebenmaß zeigten. Und trotzdem lag der Wunsch auf einer fast mystischen Ebene. Er wollte eine höhere, tiefere Ruhe von dieser Frau, als die Stillung von Begierden und Leidenschaften. Er wollte von ihr ein Märchen.
Er stand leise und langsam auf und sagte wie zu sich selbst:
„Ich habe Hunger. Furchtbaren Hunger. Sie haben über diesen Hunger gelächelt. Er ist aber stets bei mir. Und wird immer rasender, immer schmerzhafter. Darum bin ich so müde, obwohl ich voll Kraft und Leben bin. Natürlich ist der Hunger, den Sie sahen, nur ein winziger letzter Ausdruck des Körpers für das Geistige. Aber auch ich will nichts mehr sprechen.“
Sie sah beinahe erschreckt auf und blickte ihm voll in die Augen. Was wollte dieser sonderbare, unheimliche Gast? Sicher nicht das, was die anderen hartnäckig und oft läppisch von ihr forderten, wobei sich stolze Kavaliere erniedrigten oder zu Tieren wurden - und wovor sie eben für eine Stunde heraufgeflohen war. Sie, die gesuchte, berühmte Schönheit dieses neuartigen Hauses. Die „Aspasia“ von Paris, wie preziöse Edelleute sie nannten. Die „Cythere“, wie die weniger preziösen sie riefen, wenn sie schon die Hände griffbereit streckten.
Und sie fühlte plötzlich eine sonderbare Verpflichtung. Sie mußte erraten, was der Fremde wollte. Der Hungernde mußte gelabt werden. Er hatte sie um Hilfe angerufen. Und ihr tiefes Wissen um den Mann trank aus seinen Augen die Antwort, obwohl ein solcher Ruf zum erstenmal an sie gerichtet worden war. Und sie fand ebenso sicher die Form. Denn sie fühlte genau, daß ein einziger unzarter Ton seinen Hunger zu Ekel verwandeln würde.
So sagte sie schlicht:
„Setzen Sie sich neben mich. Ich will Ihre Müdigkeit bewachen. Ich werde dabei selbst meinen Hunger nach Ruhe stillen.“
Leibniz antwortete nicht. Sie hätten auch beide nicht angeben können, wann er sich neben sie gesetzt hatte. Er saß neben ihr. Es war so bestimmt. Und er lehnte seinen Kopf und seine Wange an ihre glatte Schulter und sie strich manchmal mit einer sonderbar kühlen, weichen Hand über sein Antlitz.
Dann sprachen sie leise. Aber nur sehr abgelegene und beziehungslose Dinge, die jeder mitten im Satz abbrach, wenn es ihm paßte. Und auf die keiner der beiden eine Antwort erwartete. Und sie gehörten in dieser Stunde, zwischen Musik, Gläserklirren, Gewisper, Gekicher, zwischen Liebesseufzern und dunklen Leidenschaften der anderen, einander mehr an, durchdrangen den Sinn der Vereinigung, der Erlösung aller Sehnsucht mehr als sonst es Menschen gegeben ist. Weil sie nichts wollten als das allerletzte Ziel der Sehnsucht, das Ruhe heißt.
Jeder Zeitablauf war für beide erloschen und versiegt. Deshalb war es ein Erwachen nach Unendlichkeiten, als beide zugleich eine wild störende Kraft in unmittelbarer Nähe fühlten. Und beide blickten, halb verständnislos, in das bleiche, verzerrte Antlitz des jungen Boineburg, der vor ihnen stand und verzweifelt mit einem vielleicht wahnsinnigen Entschluß rang.
Blitzartig wurden für Leibniz Bruchstücke von Gesprächen verständlich, die in der eben vergangenen mystischen Stunde sein Ohr nur oberflächlich erreicht hatten. Kein Zweifel: Boineburg war jener unreife und maßlose Jüngling, vor dem die Dame heraufgeflohen war, da sie es entwürdigend fand, stets nur einem Knaben zu Dienste zu stehen. Wenn er auch schön, vornehm und klug war. Seit vielen Wochen schon hatte er sie umworben, gequält und ausgeschöpft, wie es eben nur die junge Gier eines Knaben vermag.
Und Leibniz wußte weiter, was das verzerrte Antlitz Philipp Wilhelms bedeutete. Alles hätte geschehen dürfen, nur das nicht, was geschehen war: Der Lehrer hatte ihn nicht nur ertappt, sondern schien auch zu allem Überfluß ein glücklicher Nebenbuhler zu sein.
Der junge Boineburg starrte noch immer auf die beiden. Leibniz mußte für die nächsten Augenblicke Unberechenbares befürchten. Er befürchtete es aber nicht für sich, sondern für den Jüngling. Fürchtete für den Vater des Jünglings und für die Dame, die jetzt, auch nicht klar über die Zusammenhänge, Miene machte, zwischen die „Rivalen“ zu treten.
„Ich bin erst vor wenigen Stunden aus England zurückgekommen, Philipp Wilhelm““, sagte Leibniz, als ob keinerlei Spannung bestände. „Wollen Sie einen Augenblick bei mir Platz nehmen? Ich hätte Ihnen einige Nachrichten zu bestellen...“
Unter dieser merkwürdigen Ruhe hatte sich Boineburg ein wenig gefaßt. Röte flammte über sein Gesicht und er war plötzlich den Tränen nahe.
„Sind diese Nachrichten so wichtig, daß Sie mir deshalb nachspionieren müssen, Herr Doktor Leibniz?“
„Ich erinnere mich nicht, Ihr Recht, hier zu sein, bestritten zu haben. Vorläufig. Ich nehme deshalb dasselbe Recht für mich in Anspruch. Ich hoffe aber, daß wir darin übereinstimmen, durch eine unbedingte Pflicht gebührender Rücksicht gegen die Dame gebunden zu sein. Wenn Sie wollen, gehe ich sogleich nach Hause, Philipp Wilhelm. Und vergesse Ihr Betragen.“ Leibniz machte Miene, an Philipp Wilhelm vorbeizugehen.
Die Dame war an die Brüstung getreten und blickte in den Saal hinunter. Sie hatte sich sogleich abgewendet, als sie hörte, daß die beiden einander kannten.


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