Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 191c

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Archimedes (Teil 30)


Da der Vorhang den Raum nur höchstens einen Schritt tief abgedeckt hatte, erstreckte sich dieses Bild unmittelbar vor der Wand. Hinter ihr und zu ihren Seiten aber standen Figuren in Lebensgröße. Götterbilder mit starr-steifem Bewegungsrhythmus, bunt und farbig, mit rotbrauner Haut, Hundeköpfen und funkelnden Diademen. Und eine blassgelbe, nackte, schlanke Göttin, aus deren Stirnreif die Uräusschlange hervorragte.
„Das Totengericht“, sagte Aletheia leise zu Archimedes, der überhaupt nicht mehr versuchte, sich das Geschehene zu deuten. Ja, es begann in ihm ein leiser Zweifel aufzusteigen, ob er nicht, ohne es zu wissen, bereits die Gefilde der Lebendigen verlassen habe und plötzlich im Jenseits stehe. Wer von den Sterblichen kennt die Übergänge vom Leben zum Tode? Wer wusste, ob ihn nicht irgendwo bewußtheitslöschend die Vernichtung getroffen hatte, bis er hier wieder erwacht war? Wusste er wirklich über jeden Schritt, jeden Herzschlag so genau Bescheid, seit sie aus der Barke gestiegen und den Boden von Canopus betreten hatten? Oder waren sie draußen im See ertrunken? Oder waren es nur diese Nebel, die seine Sinne verwirrten?
Unvermittelt trat der Priester zur Waage vor, die sich von gewöhnlichen Waagen sehr wesentlich unterschied. Der Waagebalken, der armdick war, steckte in einer Hülse, und auf einer Seite war er sehr kurz. Dort aber hing an Ketten bis nahe zum Boden eine mächtige Schale, die gut drei Ellen Durchmesser hatte. Der andere Teil des Balkens aber war vielfach länger, und nur eine kleine Schale baumelte hier an Goldschnüren.
Der Priester legte über die abwärtsragende Zunge der Waage einen Bügel und stellte ihn dadurch samt dem Waagebalken fest. Im selben Augenblick begannen sich die Figuren zu bewegen und ergriffen an verschiedenen Stellen die Ketten und den Balken. Die nackte Göttin aber stieg hinter der Waage auf einen Schemel und rückte den Waagebalkcn mit großer Anstrengung durch die Hülse, wobei die Muskeln an ihrem gelbgefärbten Körper wie Stränge hervortraten und ihre Brust sich schweratmend hob und senkte.
Es war kein Plan in diesem Verrrücken des Balkens. Er glitt in der Hülse hin und her und blieb schließlich an einer Stelle stehen, die man nicht so leicht wiederfinden konnte, da der Balken vollkommen gleichmäßig glatt war. Man konnte nur bemerken, dass der Teil, an dem die größere Schale hing, noch immer um ein Vielfaches kürzer blieb als der andere Teil.
Die Göttin stieg langsam vom Schemel und stellte sich wieder starr in ihre ursprüngliche Pose. Der hundsköpfige Gott aber wählte aus einer mächtigen Truhe eine Reihe hieroglyphenbedeckter, glitzernder Bronzefiguren aus, die selbst die Form von kleinen Göttern hatten.
„Ich werde jetzt das sonderbare Orakel befragen“, lächelte Aletheia und ging leichten Schrittes zur größeren Waagschale. Sie fasste die Kette mit der Hand und stieg auf die Schale, die ein wenig zu schwingen anhub, sich jedoch bald in die Ruhelage einstellte, als der Priester eine andere der Ketten ergriff.
Was nun weiter folgte, bannte Archimedes hauptsächlich deshalb, weil es einen edlen sakralen Rhythmus hatte. Das nackte Mädchen ging mit abgezirkelten Schritten hinter die Gewichtsschale und blieb dort unbeweglich stehen. Der Hundsköpfige aber legte sofort eine der Gewichtsfiguren auf die kleinere Waagschale, worauf der Priester den Bügel an der Zunge löste. Die Gewichtsfigur war anscheinend zu schwer, da sie zu sinken begann. Gleichzeitig aber verstärkten sich wieder die Weihrauchdämpfe, die sich bereits förmlich um das ganze Bild ringelten und Aletheia manchmal überdeckten. Und aus den Wänden heraus ertönte hohes klimperndes Harfenspiel in getragenen, mystischen Tonfolgen.
Der Versuch, die Waage ins Gleichgewicht zu stellen, wiederholte sich noch einige Male. Endlich hatte der Hundsköpfige das richtige Figürchen gefunden, das allen Bedingungen entsprach. Er trat an die Waagezunge und zeigte pantomimisch dadurch, dass er an sie die Hand legte, die Vollendung der Zeremonie. Kurz darauf aber schlug der Priester schon wieder den Bügel über die Zunge, Aletheia stieg von der Schale herunter und nahm aus den Händen des knienden nackten Mädchens den Bronzegott, das Gewicht, in Empfang, der über und über mit eingeritzten Hieroglyphen bedeckt war. Sofort aber stieg das Mädchen wieder auf den Schemel, um den Waagebalken neuerlich in seiner Hülse zu verschieben. Aletheia kam lächelnd auf Archimedes zu. Sie fasste ihn am Arm und sagte tonlos leise:
„Du sollst auch auf die Waage des Gerichtes steigen, mein Freund.“
Archimedes fuhr wie aus einem Traum empor. Er verstand überhaupt nichts mehr. Sah aber aus manchem, was sich da begab, Dinge, die auf ganz anderen Ebenen des Geschehens und des inneren Wesens lagen, als auf den Gebieten der Religion und Wahrsagerei.
„Du wirst alles später ausführlich erfahren. Tu mir jetzt den kleinen Gefallen!“ raunte Aletheia bittend.
Archimedes aber schob sofort die Wirrsale zurück, die in seinem Geist aufzudrängen begannen, und gehorchte, ohne zu Wissen, dass er es tat. Sein niemals blickloses Auge hatte noch beim letzten Herzschlag vor dem Besteigen der Schale bemerkt, dass der kleinere Teil des Waagebalkens diesmal noch viel kürzer war als früher.
Es wiederholte sich alles genau in der gleichen Reihenfolge, wie er es schon bei der Prüfung Aletheias gesehen hatte. Als ihm jedoch das nackte Mädchen kniend seinen Bronzegott überreichte, durchzuckte es ihn wie ein rätselhafte Schlag von vorgeeilter Erkenntnis: die Figur war unzweifelhaft kleiner als die, aus der sich das Gewicht Aletheias ergeben hatte.