Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 180c

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Archimedes (Teil 19)


Unvermittelt bog er nach Süden ab und sie standen am Fuße der riesigen Stadtmauer, auf deren Höhe eine Holzrampe hinaufführte, der man es ansah, dass sie im Notfall sofort entfernt werden konnte.
Archimedes wusste nicht mehr, was man mit ihm vorhatte. Was waren das für seltsame Umwege und Winkel? Wollte man ihn gar in eine Falle locken? Auf der Mauer oder außerhalb der Mauer konnte „die Wirklichkeit“ doch nicht Wohnen?
Geduldig schleppten ihn die Sklaven die Rampe hinauf, ohne ihren Lauf wesentlich zu verlangsamen. Auf der Höhe der Mauer stellten sie die Sänfte nieder, und der Begleiter, der bisher vorangelaufen war, trat zu Archimedes:
„Die Herrin lässt dich bitten“, sagte er nach tiefer Verbeugung, „du mögest hier ein wenig aussteigen und dir ihren Wohnsitz von oben betrachten.“
Archimedes hatte die Worte kaum verstanden, jedoch kam er unwillkürlich der Aufforderung nach. Als er aber an den südlichen Rand der Stadtmauer getreten war, stockte ihm fast der Atem. Links von ihm lag der mächtige „Sumpfhafen“, der alle Schiffe barg, die vom Nil aus Ägypten, Arabien oder Indien herüberkamen. Oder von noch weiter her. Der Hafen aber war durch eine Mole abgeschlossen, nach deren Einmündung in die Stadtmauer diese senkrecht in den See Marcotis abfiel, so dass die Wellen des Sees ihren Fuß netzten. Unmittelbar nun unter ihrem Standpunkt lagerte sich vor die Stadtmauer, in den See hinein, eine kleine Halbinsel, auf der inmitten herrlicher üppigster Gärten ein Palast stand, dessen Vorderseite ihnen zugekehrt war. Sein Baustil war ein Gemenge ägyptischer, hellenischer und fremdartiger Architektur, und Goldmosaiken und Malereien flirrten an seiner pylonenartig gestalteten Fassade in der tiefstehenden Sonne. Vor dieser Fassade, unmittelbar unter ihnen, aber dehnte sich ein buntgepflasterter Vorhof.
„Der Tempel der Wirklichkeit, soll ich dir sagen, o Herr, wenn du zum erstenmal hinabsiehst, hat mir die große Herrin befohlen“, murmelte der Sklave. „Jetzt aber darf ich dich bitten, wieder die Sänfte zu besteigen. Wir sind sofort am Ziele.“
Tempel der Wirklichkeit? klang es in Archimedes nach, als schon die Sklaven, diesmal auf einer flachen Treppe, die ebenfalls an der Stadtmauer klebte, hinunterstiegen. Tempel der Wirklichkeit? Es gab kaum Unwirklicheres als das Bild, das er von oben gesehen hatte. Der Weite, schilfdurchsetzte See, die zahllosen Sumpfvögel, die Schiffe im Hafen und nicht zuletzt die Halbinsel. War alles ein Kult und die „Wirklichkeit“ eine Priesterin dieses Heiligtums? Rätsel über Rätsel.
Es wurde aber noch unwabrscheinlicher, als sich vor ihnen die Torflügel des Palastes öffneten und die Sänfte durch eine Einfahrt in eine verschwenderisch prächtige Säulenvor«  halle gelangte.
Die Sklaven baten Archimedes auszusteigen und verneigten sich wiederum tief. Plötzlich standen zwei in Goldstoff gekleidete Knaben vor ihm. Auch die Knaben verneigten sich und ersuchten Archimedes, ihnen zu folgen.
Es ging durch die Säulenvorhalle, einige Treppen hinan, hierauf durch zwei verhältnismäßig niedrige Säle ägyptischen Stiles in einen dritten Saal, dessen Wände teils in ägyptischer, teils in hellenischer Art bemalt waren, wie auch Standbilder und Möbel das Antlitz beider Völker trugen.
Von einem Lager aus Edelholz aber erhob sich lächelnd das Mädchen Wirklichkeit und kam ungeziert und natürlich auf Archimedes zu.
„Es freut mich, dass du mir vertrautest“, sagte sie sicher und freundlich. „Du wirst einsehen lernen, dass die Wirklichkeit all das ist, was nun einmal auf der Erde Dasein hat. Die Wirklichkeit schaut man, und man braucht nicht zu fragen, ob sie vorhanden ist. Man kann sie sogar durch Fragen zerstören.“ Plötzlich änderte sich ihre Stimme. „Es ist heute ein prächtiger Abend. Du brauchst die Stille, und auch ich brauche sie. Wir werden am Ufer unser kleines Mahl einnehmen.“ Sie winkte die Knaben fort und fasste Archimedes an der Hand wie ein kleines Kind.
Archimedes war so benommen, dass er sich kaum Rechenschaft gab, wie sie beide durch Gänge, über Höfe und durch Säulenhallen in einen Zaubergarten hinauskamen. Es war ein lichter Hain unmittelbar am Ufer des Mareotissees, dessen Schilf den Garten begrenzte. Flamingos standen im Schilf, Hunderte und Hunderte anderer Vögel huschten und flatterten umher. Ganz nahe am Ufer aber war ein mosaikbelegter Platz mit hohen Kandelabern herum, in dessen Mitte ein Tisch und zwei Klinen standen. Auf dem Tisch aber waren, mit feinsten Schleiern bedeckt, allerlei Speisen und Getränke vorbereitet.
Jetzt erst blickte Archimedes ,die Wirklichkeit‘ an. Sie war heute weltenweit anders

gekleidet als gestern. Irisierende Seide, durchsichtiger Byssos, ein schwerer goldener Juwelengürtel, Juwelenringe um die bloßen Arme und eine Haartracht, die durch einen Goldreifen zusammengehalten war. Nur der Duft fremdartiger Blumen war derselbe. Auch hatte sie heute eine dunklere Gesichtsfarbe und grellrote Lippen. Die Nägel ihrer sprechenden, beweglichen Hände aber waren matt vergoldet.

Als sie sich gesetzt hatten, zog sie die Schleier vom Tisch und knüllte sie achtlos zusammen, bevor sie sie auf den Boden gleiten ließ.
„Weißt du Neues vom pergamenischen Schreibstoff?“ fragte sie unvermittelt und brach einen Granatapfel auf.
„Woher weißt du davon?“ fragte Archimedes erschrocken zurück.
„Es ist das Geringste, was ich weiß. Aber ich sehe, dass dich Eratosthenes schon eingeweiht hat. Er war unhöflich und hat mich heute ohne Nachricht gelassen.“
„Dazu also?“ stieß Archimedes geärgert hervor, da ihn plötzlich Enttäuschung überkroch.