Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 166c

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Archimedes (Teil 5)


Die Göttin von der Spitze des Paneions hatte recht behalten. Der Erzgrübler durchschritt den wüsten Traum an der Hand der Wirklichkeit. Denn ihr Gesicht blieb glatt in all dem Toben, blieb kühl, unbewegt und herrschend. Sie schien nicht zu bemerken, was um sie vorging. Der rettende Delphin, der Arion im Tosen der Wellen zu sich nahm, um mit ihm den Blicken der Räuber zu entgleiten, die ihn ins Meer gestoßen hatten. Dem Lande, der Stille, der Geborgenheit zu.
War er aber ein Arion, dass die Götter ihm Delphine zur Rettung sandten?
Er war, darüber half nichts hinweg, kein Jüngling mehr, der durch äußere Ereignisse derart aus der Fassung gebracht werden durfte. Er war mehr als dreißig Jahre alt und hatte schon Dinge erdacht, von denen ganz Hellas sprach. Gleichwohl waren es Dinge, die nicht so sehr die Liebe der Götter erregten wie der Gesang Arions. Denn er schritt Wege, die manchen Göttern verhasst sein konnten und verhasst sein mussten. Das wusste er. Er konnte es aber nicht ändern. Denn wieder andere Göttter riefen ihn zu diesen Dingen.
Das Mädchen Wirklichkeit war stehengeblieben und er fühlte einen sanften Druck ihrer Finger auf seinem Arm. Eben entfernte sich der blasphemische Masken- und Satyrzug, so dass sich das Geschrei nach Westen zog, wo jetzt letzte grelle Röte lag. „Sieh dort hin!“ sagte sie nahe an seinem Ohre, wobei wieder ihr Körper sich unwillkürlich zu seinem drängte. „Dort, wo die Menschen sich zu einem Knäuel knoten. Es ist der serapische Tempel.“ Er folgte ihrem weisenden Arm mit den Augen. Mächtige Pylonen, auf deren grauem Quadergrund das Weiß, Gelb, Rot und Blau riesiger Hieroglyphen leuchtete, standen vor dem purpurnen und braunen Himmel. Sie ließ ihm keine Zeit, sich in den Anblick des Bildes zu vertiefen, sondern schritt bereits weiter, auf das Menschenknäuel zu. Man drängte sich dort um eine Art von steinernem Podium, das von Sphinxen flankiert war. Die Menschen hatten Krüge, Vasen, Flaschenkürbisse in der Hand und schwenkten sie in sichtlicher Freude und Begeisterung.
„Es wird dort oben heiliges Wasser des noch heiligeren Nilstroms, das zudem mehrfach geweiht ist, feilgehalten“, sagte sie mit einem deutlichen Ton von Spott in der Stimme. Sofort aber blickte sie ihn voll an und tiefer Ernst strahlte aus ihren Augen. „Ich zeige dir dies nicht des Urgrunds wegen. Der ist sicherlich schön und ehrwürdig, auch wenn er uns Hellenen fremd ist oder fremd sein sollte. Aber der äußere Vorgang des Verkaufes gab mir manches zu denken. Und auch dich wird er nachdenklich machen.“
Damit zog sie ihn mitten unter die Menschen, die in beängstigendem Gedränge alles vorwärts pressten, was sich unter sie mengte. Archimedes war verwundert, dass diese Masse anscheinend alle Gesichter und Trachten vereinigte, die er bisher schon gesehen hatte. Vom Bettler bis zum Stutzer, von zerlumpten Dirnen bis zu geputzten Frauen, von Soldaten bis zu Würdenträgern war hier alles zusammengeballt, was Alexandria beherbergte. Alle Haar- und Augenfarben, alle Gerüche vom Fischmarkt bis zum edelsten Salböl.
Er hätte die lange Zeit, in der sie um Haaresbreiten vorgeschoben wurden, nicht ertragen, wenn die unmittelbare Nähe der „Wirklichkeit“ ihn nicht zur Zeitlosigkeit gebannt hätte. Nicht etwa, dass er zu ihr etwas allgemeinmenschlich Körperliches fühlte. Es war mehr und weniger. Und ward stets wieder durch rasende Gedankenläufe und tiefe Abgründe von Ernüchterungsgefühlen unterbrochen, die ihm die Sinnlosigkeit, ja Schwächlichkeit des Erlebnisses grell und heischend nahelegten. In solchen Augenblicken wäre er fortgelaufen, wenn er es gekonnt hätte. Dann aber war sie wieder wie eine Mutter und Göttin um ihn. Wie das Wesen, das etwas wusste und ausdrückte, das er noch nicht verstand, von dem jedoch mehr als das Leben abhing. Und deren Hand ihn sofort beruhigte, wenn er sie fühlte.
Endlich entwirrte sich das Knäuel knapp vor dem Podium zu einem Menschenfaden. Eine enge, beiderseits durch Steingeländer flankierte Treppe zwang dazu. Und dann ging es schneller. Sie standen oben, wo auf einem Quaderblock ein länglicher Kasten ruhte, an dessen einer Stirnseite wie bei einem Brunnen ein nach unten gebogenes Rohr herausragte. In der Oberfläche des Kastens aber befand sich ein Schlitz, und jeder der Menschen, die vorbeischritten, langte nach diesem Schlitz, worauf ein metallisches Klappern ertönte und das Brunnenrohr für kurze Zeit Wasser spie. Dieses Wasser aber fingen einige mit Krügen und Vasen auf, andere fassten es in hohle Hände und gossen es über Gesicht und Kopf oder besprengten damit ihre Füße. Alle aber eilten hochbefriedigt auf der gegenüberliegenden Treppe wieder ins Gewühl des Volkes hinunter.
Archimedes hatte keine Zeit mehr, sich das Rätselhafte zu deuten, denn sie standen schon vor dem Wunder. Das Mädchen Wirklichkeit aber hielt eine Kupfermünze in der Hand, ließ sie in den Schlitz fallen und ging ernst und ruhig zum Wasserspeier. Mit anmutiger Bewegung fing sie die Handvoll Wasser auf und sprengte sie über das bestaubte Reisegewand des Archimedes. Dann reichte sie ihm eine zweite Kupfermünze und deutete auf die Oberfläche des Kastens.
Er schüttelte den Kopf. Nicht aber, weil er widersprechen wollte, sondern weil er noch nicht voll begriff. Er warf das Geldstück auch sogleich in den Schlitz. Dann aber horchte er und verfolgte jedes Geräusch mit gespanntester Aufmerksamkeit. Fast hätte er versäumt, das Wasser aufzufangen, das gehorsam nach einigen Herzschlägen wie die Notwendigkeit selbst dem Rohr entströmte. Er hielt es in hohlen Händen und starrte es an. Dann trank er es, da eine wilde Erregung seine Kehle dörrte.
Als die beiden über die Stufen hinunterstiegen, sagte sie vor sich hin:
„Der göttliche Platon hat recht gehabt, wenn er gegen die Techniten Wetterte, die alle Mathematik aus dem herrlichen, eben eroberten Reich des Unkörperlichen wieder ins Reich des Körperhaften zurückführen. Du bist erstaunt, dass dir die Wirklichkeit solche Worte sagt. Sie sagt sie aber nur dort, wo sich die Techniten in heilige Dinge mengen. Dort, nur dort beginnt der Fluch der Wirklichkeit. Heiliges Wasser, Geld und Maschinen, besser Geld, das durch Maschinen heilige Kräfte liefert, verderben selbst der Wirklichkeit ihre Freude an sich selbst. Das wollte ich dir zum Bewusstsein bringen.“ Und sie lachte kurz auf. Dann schritt sie in der leerer werdenden Straße schnell voran und wandte sich halb um. „Wir nähern uns dem Tempel der entfesselten Unwirklichkeit. Deinem Museion, mein Freund.“