Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 155c

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Geschichte der Mathematik (Teil 55)


Sechzehntes Kapitel
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BERNHARD RIEMANN
Mathematik als Geisterreich
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Einer der ältesten und großartigsten Träume der Menschheit führt in ein Land, in dem all das in unvorstellbarer Vollkommenheit existiert, von dem wir auf Erden gleichsam nur Bruchstücke oder einen entfernten Abglanz wahrnehmen dürfen. Kein Geringerer als Platon hat diesem „Urmythos der Sehnsucht“ in der Ideenlehre seinen erhabensten und tiefsten Ausdruck geschaffen. Wir haben diese Ideenlehre seinerzeit als einen Gipfelpunkt eleatischer Weisheit gekennzeichnet und angedeutet, daß in der Idee das Sein, das ewige Wesen verkörpert ist, dem irgendeine dem Werden unterworfene Wirklichkeit sich zwar in einer Stufenfolge nähern, es aber niemals erreichen kann. Aus diesem Gesichtswinkel gesehen, erhält die Ideenlehre wieder etwas DynamischPrometheisches. Denn alle Sehnsucht, aller Erkenntnistrieb drängt zur Idee, ob er sie nun als verlorenes, einst besessenes Paradies oder als fernes, unerreichbares Ziel betrachtet.
Dem neunzehnten Jahrhundert war es nun vorbehalten, ein Reich zu erobern, das irgendwie an das Ideenreich Platons gemahnt, zum mindesten jener Vorstellung von der Unvollkommenheit des Diesseitigen und der Vollendung im Jenseits nahekommt. Wir haben dieses Geisterreich der Mathematik bereits angedeutet. Wir wollen aber jetzt über diese Andeutungen hinausgehen und sein Bild in einer gewissen Breite entrollen. Dabei wird es uns auch möglich sein, einige Blicke hinter die magischen Kulissen zu werfen, zwischen denen sich all das abspielt, was wir Mathematik nennen. Und wir wollen auf dieser unserer Fahrt ins Geisterreich vergessen, daß es möglich ist, ganz kühl, ganz logisch und ganz nüchtern all das zu betrachten, was uns auf unserer Forschungsfahrt als Wunder erscheinen muß. Um jedoch dieses Erlebnisses teilhaftig zu werden, müssen wir neuerlich ziemlich weit ausholen.
Über das Wesen und über die Macht des Algorithmus und der Notation, der Symbolik und des speziellen Kalküls brauchen wir nichts mehr zu sagen, da wir diese mathematischen Requisiten bei ihrem Werden durch die Jahrtausende verfolgt und geprüft haben. Gleichwohl müssen wir eine spezifische Seite dieses Algorithmus naher ins Auge fassen und die Grundlagen des Rechnens und die Eigenschaften der Zahlentypen ein wenig erörtern.
Es zeigten sich namlich gelegentlich sämtlicher Versuche, die Algorithmen zu verallgemeinern, sonderbare und eigentlich recht disharmonische Erscheinungen. Wollte man etwa die Rechnungsoperationen im Bereiche der natürlichen Zahlen durchführen, dann erlebte man sofort Enttäuschungen, die dazu zwangen, diesen Bereich zu überschreiten und zu verlassen. Man mußte, wie man endlich einbekannte, dem ursprünglichen Zahltypus der natürlichen Zahlen stets neue Zahltypen „adjungieren“ oder, zu deutsch, angliedern. Zu solcher Notwendigkeit zwang bereits die kleinste Verallgemeinerung insbesondere der lytischen Operationen. Wenn wir   von   subtrahieren und   und   beides natürliche Zahlen sind, dann genügt die Bedingung  , um den Bereich der natürlichen Zahlen zu sprengen. Wir müssen das Resultat entweder als „falsch“ betrachten, wie man es bis zu Descartes hielt. Oder aber wir müssen uns dazu entschließen, einen umfassenderen Typus der „ganzen Zahlen“ einzuführen, der sowohl die positiven (natürlichen) ganzen Zahlen als auch die negativen ganzen Zahlen in sich begreift. In einer anderen Art sprengt die Division das System der natürlichen Zahlen. Hier nämlich erzeugt die Forderung, eine kleinere natürliche Zahl durch eine größere zu teilen, den Begriff oder den Typus der echten Brüche, die außerdem sowohl positiv als negativ sein können, wenn man zur Division nicht allein die natürlichen, sondern die ganzen Zahlen verwendet. Dadurch aber haben wir unseren Zahlenbereich bereits zum Bereich aller rationalen Zahlen erweitert, da innerhalb dieses Zahltypus eine Vergleichbarkeit der einzelnen Zahlen untereinander stets in einem greifbaren Verhältnis möglich ist. Kurz, die Teilung kann im rationalen Bereich in irgendeiner Form prinzipiell zu Ende geführt werden. Doch schon die nachsthöhere lytische Operation, die Ausziehung der Wurzel, stellt ein neues Problem und liefert einen neuen Zahltypus, der wiederum weit über unsre eben mühsam abgegrenzten rationalen Gefilde hinausführt. Mit der Mehrzahl sämtlicher Wurzeln betreten wir das Gebiet der irrationalen Zahlen, deren erschöpfende Darstellung in statischer Art unmöglich ist. Um irrationale Zahlen zu fassen, müssen wir zum „dynamischen Ausdruck“ greifen und wir können ill irgendeiner Reihe bestenfalls ein Bildungsgesetz aufspüren, das uns erlaubt, die Annäherung an den „wirklichen Wert“ einer solchen Irrationalzahl so weit vorzutreiben, als wir es wollen. Oder den Fehler unter eine beliebige Grenze zu drücken, wie man auch sagt. In der Praxis, die sich ja stets der Approximationsmathematik bedient, wird uns dieser Wesensunterschied oft gar nicht fühlbar. Und wir brechen ruhig Rechnungen mit rationalen oder irrationalen Dezimalbruchentwicklungen irgendwo ab, ohne uns über die prinzipielle Ungleichartigkeit dieses Abbrechens aufzuregen. Theoretisch aber müssen wir feststellen, daß das Einbeziehen irrationaler Zahlen in die Operationen eine der mächtigsten Erweiterungen des Zahlenbereiches ist. Denn es kann bewiesen werden, daß zwischen je zwei unendlich benachbarten Rationalzahlen eine unendliche Menge von Irrationalzahlen liegen muß. Und zwar im Sinne der Mengenlehre eine nicht mehr abzählbare Menge, deren transfinite Kardinalzahl ihrer Index-Ordnung nach bis heute nicht erforscht ist. Mit dieser neuerlichen Erweiterung des Zahlbegriffes, mit der „Adjunktion“ der Irrationalzahlen, haben wir aber den Begriff der Zahlen zum Bereich der reellen Zahlen ausgedehnt, in dem jetzt alle natürlichen, alle positiven und negativen ganzen, alle positiven und negativen gebrochenen und alle positiven und negativen Irrationalzahlen enthalten sind.